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Theorie der Temporalität (216–321)

1 Vgl. Theunissen 1991. Der vorliegende Beitrag ist völlig neu konzipiert. Die ältere Dar-stellung konnte, aufs Ganze gesehen, nicht befriedigen, weil sie Sartre durch Annäherung an ein von ihm abweichendes Zeitverständnis teilweise zu verfremden droht. Sie kann aber zur Ergänzung des vorliegenden, auf das vierte Kapitel eingeschränkten Beitrags herangezogen werden, weil sie auch die „exterritoriale Zeittheorie“ des Kapitels über den Ursprung der Negation und die Ausführungen über Weltzeit im Transzendenzkapitel berücksichtigt. Hin-gewiesen sei zudem auf die Literaturangaben, von denen ich mich hier entlaste, mit Rücksicht auf den vorgeschriebenen Umfang des Beitrags und die Arbeitsteilung unter den Beiträgern dieses Bandes.

2 Die folgende Inhaltsangabe verweist in Klammern auf die jeweils abschnittweise gezählten Absätze des Kapitels. Die Zählung, die aber auch für die (ungekürzten) deutschen Ausgaben gültig ist, folgt der Originalausgabe.

1 Phänomenologie der drei Zeitdimensionen

A Die Vergangenheit

Zur Debatte steht das Sein des Vergangenen (1), genauer gesagt, die Frage, wie dieses für uns existieren könne (2). Sie bliebe ungeklärt, wollte man die Vergangenheit von der Gegenwart abscheiden (3) und die Gegenwart selber auf Anwesenheit bei der Welt (présence au monde) verkürzen (4).

Verstanden als die je meinige (5), zu der sie die Präzisierung der Frage in (2) spezifiziert, ist Vergangenheit sogar nichts als ein rückwärtsgewandtes Transzendieren (une transcendance en arrière) der über Anwesenheit hinaus-gehenden Gegenwart. Ihr Vorverständnis als eine je meinige schränkt sie aber im Grunde nicht ein. Unmittelbar gegeben ist überhaupt nur die je meinige, nicht die Vergangenheit (6). Und als je meinige ist sie verknüpft mit einer ihrerseits je meinigen Gegenwart, an die sie sogar als die eines Toten gebunden bleibt (7).

Nach alledem kommt Vergangenheit nur durch das ‚Für-sich‘ in die Welt. Sie haben bedeutet: Sie sein, und sie sein meint: Sie zu sein haben (8).

Ich bin meine Vergangenheit in dem Sinne, dass ich in meinem gegenwär-tigen Sein der Grund meiner Vergangenheit zu sein habe (9), was auch das Wort war ausdrückt (10). Ich kann sie nur sein ohne die Möglichkeit, sie nicht zu sein (11). Allerdings liegt in ‚zu sein haben‘, dass ich sie zugleich nicht bin (12). Zu sein habe ich sie in der Weise des Nichtseins (13), das heisst: Nicht des An-sich-seins. Ja, im Modus des An-sich-seins bin ich sie nie gewesen (14).

Näher betrachtet, ist die Vergangenheit die Form, in der allein ich das An-sich, das ich durchaus auch bin, sein kann, nämlich als überschrittenes.

Sie zwingt mich, das, was ich bin, nur hinterher (par derrière) zu sein (15).

Als Faktizität oder grundlose Kontingenz ist sie das zum An-sich gewordene Für-sich (16), das aber vom An-sich vollständig durchdrungen wurde (17).

Das Absinken in sie ist nur durch eine Analyse der Beziehung von Für-sich und Gegenwart zu erklären (18).

B Die Gegenwart

Von der Gegenwart gilt nicht nur, dass sie erst durch das Für-sich in die Welt kommt. Sie ist Für-sich (1). Wie sie es ist, zeigt die Anwesenheit bei der Welt, als welche sie zunächst erscheint (2). Das Für-sich ist anwesend beim An-sich-sein (3), das es als Totalität konstituiert (4). Den inneren

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Bezug zu ihm, der seine Gegenwart ausmacht (5), kennzeichnet aber, dass es bei ihm als es nicht seiend anwesend ist (6). Gegenwart enthüllt sich demnach als Verneinung des An-sich-seins oder Flucht vor ihm (7). Und zwar flieht das Für-sich hin zur Zukunft (8).

C Die Zukunft

Zukunft (avenir) kann sich am Horizont der Welt nur abzeichnen, weil es ein Seiendes gibt, das für sich selbst Zu-kommen (à-venir) ist, nämlich ein Zu-sich-kommen (un venir-à-soi). Insofern trifft auf sie dasselbe zu wie auf die Vergangenheit, dass sie nur durch das Für-sich in die Welt kommt (1).

Sie löst sich aber nicht, wie die Gegenwart, in dieses auf. Denn zu sich kommt das Für-sich von einer Zukunft her, die ihm in seiner Beziehung von sich zu sich das Sich (Soi) vorgibt. Sie ist ein es selbst determinierendes Sein (3).

So wie Gegenwart ist auch Zukunft zunächst Anwesenheit beim Sein, als der Sinn dessen, bei dem das Für-sich gegenwärtig anwesend ist (4). Darin geht sie aber nicht auf. Als eine, die das Sich auftauchen lässt, erwarte ich sie als meine eigene Möglichkeit. Da sie mit dem Sich gewissermassen die Subsistenz des Für-sich verspricht, ist sie ein nie sich verwirklichender Entwurf auf das An-sich-sein hin (5). Insofern macht sie auch den Sinn des Für-sich aus, der aber selbst weder an sich noch für sich ist, also ohne alles Sein (6). Am wenigsten fällt sie in die Ordnung der universellen Tempora-lität, so dass die Unendlichkeit von Möglichkeiten, die sie umschliesst, sich nicht ihr gemäss hierarchisieren lässt (7).

2 Ontologie der Temporalität

A Die statische Temporalität

Der Versuch, Zeitlichkeit als ganzheitliche Struktur ausgehend von den drei Ekstasen zu erfassen (1), setzt in A an bei der feststehenden Vorher-nachher-Ordnung, um in B die Dynamik der im Rahmen dieser Ordnung verlaufenden Bewegung in den Griff zu bekommen (2).

In der statischen Zeitordnung sind Vorher und Nachher Formen einer Trennung (3), in die als einheitsstiftendes Element nur der Augenblick (l’instant) eingeht, der seinerseits von den ihm vorhergehenden und nach-folgenden Augenblicken getrennt ist. Es ist die Zeit selbst, die trennt, und

zwar mich von mir selbst (4). Sofern wir aber mit ,vorher‘ und ,nachher‘

ebensowohl eine Verbindung ausdrücken, muss sie eine Trennung beson-derer Art bewirken, eine Teilung, die auch wieder vereinigt (5). Dazu bedarf es im zeitlich Getrennten einer Unvollständigkeit (incomplétude), durch die das Frühere auf das Spätere, das Spätere auf das Frühere ver-weist (6), und folglich in jedem einer Ekstase, eines Sein ausserhalb seiner selbst (7). Die dadurch bedingte Einheit der Zeit ist aber keine rein ver-fliessende Kontinuität (8). Denn Zeit bleibt bei alledem Trennung. Beides – Einheit und Trennung – zeigt an, dass jene Ekstase letztlich die des Für-sich ist, das allein im Ausser-Für-sich-sein existieren kann (9). So wie über-haupt die Organisation einer Mannigfaltigkeit einen ordnenden Akt vor-aussetzt (10), so ist Zeitlichkeit, als eine Einheit, die sich selbst vervielfäl-tigt, nur dadurch möglich, dass ein Für-sich existierend sich verzeitlicht (se temporalise en existant) (11).

Nach der Vergewisserung der Tatsache, dass es Zeitlichkeit nur als eine vom Für-sich konstituierte gibt, ist jetzt zu erweisen, dass auch umgekehrt das Für-sich nur in zeitlicher Form existieren kann (12). Dies ergibt sich aus der Dreifaltigkeit seiner Grundstruktur, die ihm vorschreibt, erstens nicht zu sein, was es ist, zweitens zu sein, was es nicht ist, drittens das Nichtsein dessen, was es ist, und das Sein dessen, was es nicht ist, in der Einheit einer ständigen Rückverweisung (dans l’unité d’un perpétuel renvoi) zu vollziehen. Die Struktur hält nämlich die drei Zeitdimensionen zu-sammen (13). In der ersten Dimension hat das Für-sich sein Sein hinter sich zu sein, als ein unaufhörlich Überholtes. Vergangenheit als derart überschrittene ist ihm so wesentlich, dass es nicht anders als je schon mit ihr in die Welt kommen kann (14). In der zweiten Dimension lebt es genauso wesentlich zukünftig, als ein zu ihm selbst gehörender Mangel (15). In der dritten Dimension schliesslich realisiert es die Einheit einer ständigen Rückverweisung durch die für Gegenwart kennzeichnende Flucht (16). Da Gegenwart als Flucht mit in die Leere des Nichtseins (le creux de non-être) versinkt (17), muss man in der Zeitlichkeit, die bereits früher (11) für eine Binnenstruktur des Für-sich ausgegeben wurde, die eines Seins sehen, das in allen seinen Zeitdimensionen seine eigene Nichtung ist (18).

B Dynamik der Temporalität

Ging mit dem Nachweis einer notwendigen Zeitlichkeit des Für-sich der Versuch einer Existentialisierung der Vorher-nachher-Ordnung einher – das Wort ,vorher‘ meint nach Sartre nichts als das An-sich, welches das

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Für-sich früher war (A 14) –, so soll nun Dauer auf die Dynamik des vom Für-sich angestrengten Prozesses zurückgeführt werden, zunächst durch Klärung der Frage, wieso das Für-sich zur Vergangenheit wird, sodann auf dem Wege der Erörterung des Problems, warum ein neues Für-sich als Gegenwart jener Vergangenheit auftaucht (1).

Die Orientierung am Zur-Vergangenheit-werden des Für-sich erlaubt es, anstatt von einer vermeintlich selbst unzeitlichen Dauer, die sich nur durch die Zeit hindurch erstreckt (2), von einer Seinseinheit auszugehen, in der das Dauernde das ist, was sich wandelt (3). Denn das gegenwärtige Für-sich ist sein früherer Zustand (4). Gleichwohl führt es uns einen reinen und absoluten Wandel vor. Es muss völlig in die Vergangenheit versinken und sich ex nihilo auf eine Zukunft hin erzeugen (5), wobei das Versinken in die Vergangenheit und die aktuelle Selbsterzeugung nur zwei Seiten eines und desselben Sachverhalts sind (6). Die Zukunft bleibt von dem Wandel nicht unberührt: Die unmittelbar bevorstehende wird zur (unverwirklicht blei-benden) Zukunft der Vergangenheit, in welche die Gegenwart übergeht (7), und die entferntere, die damit ihren Bezug zu dieser Gegenwart ver-liert, gerät zur indifferenten Möglichkeit, also zu einer bloss gegebenen (8), was so lange ausgeschlossen schien, als die Gegenwart über das Sein hinaus war (9). Das ganze Geschehen stellt sich ontologisch als Wiederergreifung (ressaisissement) des Für-sich durch das Sein dar. Zum An-sich werdend, fällt das Für-sich mitten in die Welt, in der es fortan nur noch wie ein Ding vorkommt (10). Der endgültige Sieg des An-sich ist der Tod, der das Für-sich einer Vergangenheit anheimgibt, die nicht mehr seine eigene ist (11).

Das (jetzt mit dem Projekt einer Demonstration ihrer eigenen Notwen-digkeit kontaminierte) Vorhaben, die Dynamik der Temporalität als Er-möglichungsgrund jeglicher Dauer aufzuzeigen (12), nimmt der ihr ge-widmete Abschnitt am Ende in der Form auf, dass er eine Art negativen Beweises zu führen versucht. Das Argument lautet zunächst, dass eine auf ihre (statische) Ordnung reduzierte Temporalität zu einer an sich seienden würde (13). Dabei wird das zu Beweisende, dass sie eigentlich keine an sich seiende sei, sondern die Zeitlichkeit des Für-sich, offenbar vorausgesetzt.

Sodann nimmt das Argument die Gestalt des Gedankens an, dass das Für-sich, dessen Dauer es den Dingen anzugleichen scheint, gerade dann, wenn es nicht dauerte, dem An-sich-sein überantwortet würde (15). Der Gedanke, der ausserdem selbst unbegründet bleibt, verfehlt aber das Be-weisziel, weil die Gleichsetzung jeglicher Dauer mit der Dauer des Für-sich wiederum eine petitio principii ist. So endet der Abschnitt mit dem Hinweis auf einen Sachverhalt, der sogar bezweifeln lässt, ob es tunlich ist, in Bezug auf das Für-sich von Dauer zu sprechen: Das Für-sich, mit einem

fremden Begriff vorausgreifend als reine Spontaneität charakterisiert (14), gelangt als eine das An-sich-sein verweigernde Flucht in seinem Verzeit-lichungsprozess lediglich zu einer sich selber fliehenden Ganzheit (15):

Seine Zeitlichkeit, die Zeit des Bewusstseins, ist ein Nichts, das jede mög-liche Ganzheit von innen zersetzt (16).