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Die Grundlage f¨ur die Durchsetzung der Gerechtigkeit ist die Wahrheit, die jedoch genauso wie jene durch die Angst der Menschen behindert und von

den M¨achtigen unterdr¨uckt wird. So, wie sich die drei Nachtplauderer f¨ur die Gerechtigkeit einsetzen, k¨ampfen sie auch f¨ur die Wahrheit. In den Ge-spr¨achen der drei miteinander herrscht Ehrlichkeit. Ohne Scheu erz¨ahlen sie einander offen, was sie bewegt, und diskutieren ihre Probleme. Eines davon ist die Zensur, die Ah.mad und Mahd¯ı einen Maulkorb verpasst und sie daran hindert, ihre wahre Meinung zu sagen (vgl. S. 14 f.). Die beiden M¨anner haben sich ihr Urteil ¨uber den Staat und die Gesellschaft gebildet, m¨ussen dies aber f¨ur sich behalten, da es sehr negativ ist. Ihre Versuche, ihre Meinung ¨ offent-lich zu ¨außern, wurden mit Verhaftung und juristischer Verfolgung schnell unterbunden (vgl. S. 52). Seitdem beschr¨anken sich die drei Freunde darauf, ihre Ansichten nur noch untereinander auszutauschen. Dabei w¨ahlen sie eine Form des Gespr¨achs, die v¨ollig freie Assoziationen zul¨asst und f¨ur Außen-stehende nur schwer zu verstehen ist (vgl. S. 16-21). Die Einschr¨ankung der Meinungsfreiheit, die im Alltag herrscht, ist dann aufgehoben, und alles ist m¨oglich. Die Freiheit der Gespr¨achsteilnehmer geht so weit, dass nicht ein-mal mehr ein Zusammenhang zwischen den einzelnen ¨Außerungen erkennbar sein muss. Dadurch erweckt das Gespr¨ach zun¨achst den Eindruck, es handle sich um wirres Gerede, das keinen Sinn ergibt. Doch gerade darin liegt seine St¨arke. Unter der Tarnkappe der Verr¨ucktheit und Sinnlosigkeit d¨urfen die drei Freunde die Wahrheit sagen, die ihnen sonst verboten ist. Wie der Narr, den niemand ernst nimmt, d¨urfen auch sie in ihren Gespr¨achen zu dritt alles sagen und offen kritisieren, auch wenn sie nicht alleine sind (wie zum Bei-spiel auf der Ladefl¨ache des Polizeiwagens). Allerdings stellen sich die drei Freunde nur w¨ahrend dieser Gespr¨ache verr¨uckt und sind somit nicht st¨ andi-ge Außenseiter der Gesellschaft, wie es der klassische Narr w¨are.

Manchmal wird die Last des Schweigenm¨ussens f¨ur die drei Nachtplauderer aber zu viel, und sie versuchen, die Zensur zu durchbrechen. Ah.mad verfasst seinengroßen journalistischen Hilferuf(vgl. S. 26 f.), ohne jedoch damit zu rechnen, dass er ver¨offentlicht wird. Darin wagt er es, all die f¨ur die M¨ achti-gen unanachti-genehmen Wahrheiten zu saachti-gen, ¨uber die er sonst nur mit seinen Freunden spricht. Von den Zust¨anden in seinem Land entt¨auscht und vom Alkohol ermutigt, wagt es Ah.mad, sich seine Wut von der Seele zu schreiben – unter der Voraussetzung, dass der Artikel sowieso der Zensur zum Opfer fallen wird. Als sein Kommentar jedoch bereits am n¨achsten Tag ungek¨urzt in der Zeitung erscheint, f¨urchtet Ah.mad seine Bestrafung.

Die Angst vor den Folgen ist es auch, die die Entscheidung so schwer macht, ob Ah.mad vor Gericht die Wahrheit sagen soll. Doch auch in dieser schwieri-gen Situation handelt der Journalist gem¨aß seiner ¨Uberzeugung und nimmt f¨ur die Wahrheit die Rache ˇGibr¯ans in Kauf.

Wie viel Bedeutung ,Awlaq¯ı der Entscheidung seines Helden f¨ur die Wahr-heit beimisst, zeigt sich in der Ausf¨uhrlichkeit, mit der die Zeugenbefragung

vor Gericht sowohl als ¨außeres Geschehen als auch als innerer Kampf Ah.mads beschrieben wird. Die Befragung wird nicht vom Erz¨ahler zusammengefasst, sondern als Dialog gestaltet, der der Ann¨aherung des Richters an die entschei-dende Frage und den Ausfl¨uchten des Zeugen folgt (S. 84-86). Die Leserinnen und Leser k¨onnen bis zu diesem Punkt nicht sicher einsch¨atzen, ob Ah.mad die Wahrheit sagen wird, und die Spannung steigt st¨andig, bis zur entschei-denden Antwort. Doch auch danach beh¨alt der Autor die Ausf¨uhrlichkeit seiner Beschreibung bei, denn nun zweifelt der Verteidiger die Wahrheit der Zeugenaussage an. Mit Tricks und Fangfragen versucht er, Ah.mad in Wider-spr¨uche zu verwickeln, denn er arbeitet mit ˇGibr¯an zusammen. Die Wahrheit wird relativiert und angezweifelt, da die Parteien im Prozess unterschiedliche Ziele verfolgen. Ah.mad sieht es als seine moralische Pflicht an, die Wahrheit zu sagen und Badr al-H¯aˇsim¯ı zur Gerechtigkeit zu verhelfen. Der Verteidiger und ˇGibr¯an haben kein Interesse an den tats¨achlichen Ereignissen der Mord-nacht und an der Aufkl¨arung des Verbrechens, sondern wollen lediglich den Freispruch des Angeklagten. Daraus ergibt sich das z¨ahe Ringen zwischen Ah.mad und dem Verteidiger (vgl. S. 88-90).

Bei der Aussage Mahd¯ıs und Anwars steht weniger der Kampf der verschie-denen Parteien um die Wahrheit im Vordergrund als vielmehr die Angst der beiden vor der Rache ˇGibr¯ans. Nachdem Ah.mad die Wahrheit gesagt hat, erwarten die Leserinnen und Leser das auch von seinen Freunden. Da die Entscheidung quasi bereits gefallen ist, kann der Autor die Angst der beiden Zeugen ausf¨uhrlich beschreiben. Mahd¯ı sagt zuerst entschlossen und wahrheitsgem¨aß aus und wagt sogar, darauf hinzuweisen, dass er und seine Freunde Druck ausgesetzt waren. Doch als ˇGibr¯an an dieser Stelle pl¨otzlich aufspringt und ihn bedroht, verstummt Mahd¯ı und ist auch auf Nachfragen des Richters und des Staatsanwalts nicht bereit, die volle Wahrheit zu sagen.

Gibr¯ˇ ans Einsch¨uchterung zeigt ihre Wirkung.

Anwar ist v¨ollig verst¨ort und ver¨angstigt, als er den Gerichtssaal betritt, doch fasst sich bald und macht dann mutig und bestimmt seine Aussage. Auch er kann um der Wahrheit willen seine Angst ¨uberwinden.

Doch nicht immer erweisen sich die drei Freunde als so standhaft. Vor al-lem Ah.mad ist w¨ahrend des Verh¨ors auf der Polizeiwache bem¨uht, m¨oglichst schnell und ungeschoren aus dieser unangenehmen Situation zu entkommen und die Aussage vor Gericht auf jeden Fall zu vermeiden. Deshalb schl¨agt er – entgegen seinen ansonsten hohen moralischen Anspr¨uchen – vor, dass ˇGibr¯an den Angeklagten ohne Prozess einfach freilassen und die drei Nachtplauderer aus der Angelegenheit heraushalten solle:

Ich m¨ochte dich fragen: Warum all diese Umwege und Ausfl¨uchte?

Da gibt es einen Angeklagten, von dem dusagst, dass er

unschul-dig sei. Du bist ein Mensch, von dem es scheint, dass er einen gewichtigen und zentralen Posten hat und ein Wort, das geh¨ort wird. Warum, Genosse, warum lasst ihr ihn nicht frei, seid zufrie-den und lasst uns in Ruhe, wie es Genosse Anwar vorher gesagt hat? (S. 62)

Ah.mad schl¨agt ˇGibr¯an vor, unrecht zu handeln, um selbst m¨oglichst schnell aus seiner misslichen Lage zu kommen. Das ist ihm wichtiger als die Wahr-heitsfindung und die Bestrafung des M¨orders. Ah.mad k¨ampft nicht mehr dagegen, dass ˇGibr¯an die Bestrafung eines mehrfachen M¨orders verhindern will, sondern nur noch dagegen, dass er selbst in die Angelegenheit hinein-gezogen werden und die Verantwortung f¨ur die Rechtsbeugung ¨ubernehmen soll.

Aber warum ausgerechnet wir? Warum beauftragt ihr nicht je-mand anderen als uns mit dieser wichtigen Aufgabe? Erfindet daf¨ur andere Zeugen als uns. (ebd.)

Selbst die drei Nachtplauderer sind durch Einsch¨uchterung und Drohung schließlich so m¨urbe geworden, dass sie die Warheit ihrer eigenen Sicher-heit opfern. Die Erinnerungen, die sie heimsuchen, sind zu grausam, und die Angst, in die ˇGibr¯an und Seinesgleichen die Menschen versetzt haben, ist zu groß, um dauerhaften Widerstand zu erlauben.

Im Dokument Die Gerechtigkeit muss ihren Lauf nehmen (Seite 193-196)