• Keine Ergebnisse gefunden

Die im S¨udjemen herrschende Ungerechtigkeit, unterschiedliche Rechtsauf-fassungen und die Kluft, die zwischen geltendem (und angewandtem) Recht und Gerechtigkeit klafft, werden in den summ¯ar at

¯-t

¯al¯at

¯a immer wieder thematisiert. Dabei geht es nicht nur um die Rechtsbeugung, f¨ur die die drei Helden missbraucht werden sollen, sondern auch um die Ungleichheit, die zwischen den reichen M¨achtigen und der armen Bev¨olkerung herrscht – in einem Land, das sich Demokratische Volksrepublik nennt und von einer so-zialistischen Partei regiert wird. W¨ahrend ihres Gespr¨achs auf dem Weg zur Polizeistation kritisieren die drei Freunde diesen Missstand.

– Die Machthaber bei uns bewohnen luxuri¨ose Villen, fahren die modernsten Wagen, essen, trinken und bekleiden sich mit den besten einheimischen und den importierten Produkten, die dem gemeinen Volk verboten sind. Sie sprechen im Garten ihres An-wesens in schnurlose Telefone, wie es die Mafiabosse machen, die wir in Kinofilmen sehen.

– R¨atst du ihnen etwa, in H¨utten zu wohnen, zu Fuß zu gehen und den G¨urtel enger zu schnallen?

– Und was machen wir, wenn sie gegen unsere Vorrechte han-deln?

– Du Esel! Ich gebe keinen Rat. Ich frage mich nur, wie sie den Leuten das verbieten, was sie sich selbst erlauben. (S. 16 f.)

Statt Gleichheit aller Jemeniten und Volkseigentum klafft die Schere zwi-schen Arm und Reich weit auseinander. Die M¨achtigen rauben den Reich-tum des Volkes. Deswegen werden sie auch mit den klischeehaft dargestellten Mafiabossen aus Kinofilmen verglichen. Wie diese halten sie den gestohlenen Reichtum nicht versteckt, sondern demonstrieren ihn f¨ur alle sichtbar mit Statussymbolen wie teuren Autos, H¨ausern und Kleidung. Doch selbst die drei Nachtplauderer sind zu sehr eingesch¨uchtert, um laut Gerechtigkeit zu

fordern, und wagen dies nur im Gespr¨ach untereinander.

Sehr schmerzlich erleben die drei Helden auch die Freilassung ,Umar ,Abd as-Sal¯ams, nachdem er des Mordes an Badr al-H¯aˇsim¯ı f¨ur schuldig befunden wurde. Gerade weil al-H¯aˇsim¯ı ein moralisch so hochstehender Mensch war, erscheint die Freilassung seines M¨orders als besonders ungerecht. Deshalb k¨ampft Mahd¯ı auch verzweifelt darum, dass die Tat doch noch ges¨uhnt wird (s.7.1). Die drei Nachtplauderer sind sich dessen bewusst, dass es zwar Ge-setze gibt, aber keine Rechtssicherheit. Immer wieder wird das Recht von den M¨achtigen so ausgelegt und verdreht, wie es ihnen n¨utzt.

– Das Gesetz und die Verfassung... werden sie nicht verletzt, im-mer wieder und bis heute? [...]

– Hat die Vergewaltigung der Freiheit und der Rechte der B¨urger tats¨achlich aufgeh¨ort?

–Das ist ein Nationalsport.

– Sogar ein nationales, demokratisches Erbe. (S. 17)

Was heute zutrifft, kann morgen unter den ge¨anderten Umst¨anden nichtig sein. Selbst die Gesetze werden auf Dinge und F¨alle nur bis zu einer bestimmten Grenze angewandt. Aber jenseits dieser Grenze kann alles passieren.(S. 35)

Es besteht kein Anlass, auf Recht und Gesetz zu vertrauen. Dies zeigt sich auch bei der Verhaftung der drei Protagonisten. Sie werden mitten in der Nacht abgef¨uhrt, ohne zu erfahren, weshalb (vgl. S. 8, 24). Bei ihrer An-kunft in der Polizeistation wird kein Vermerk ins Register eingetragen (vgl.

S. 21). Dies versetzt die drei Helden in große Angst, denn auf diese Weise w¨are es ein Leichtes, die in Diktaturen h¨aufige Praxis des Verschwinden-lassens anzuwenden, ohne dass es einen Beweis f¨ur die Verhaftung der drei Nachtplauderer g¨abe. Die schlimmen Erfahrungen der Vergangenheit legen derartige Vermutungen nahe.

,Awlaq¯ı weist auch an anderer Stelle darauf hin, dass es mit der Einhaltung der Gesetze nicht zum Besten bestellt ist. Als Mahd¯ı voller Wut die T¨ur zur Anwaltskanzlei seines Bruders zuschl¨agt, f¨allt ein kleines Schild herunter, auf dem steht Wenn die Gesetze verstummen, beginnt die Tyrannei (S. 11).

Schon eine kleine Ersch¨utterung gen¨ugt, um das Rechtsbewusstsein in der jungen Republik zum Einsturz zu bringen.

Bemerkenswert ist auch das offizielle Rechtsverst¨andnis. Gerechtigkeit wird mit dem in den Gesetzen festgeschriebenen Recht gleichgesetzt. Das jen-seits der Gesetze bestehende individuelle und gesellschaftlich gepr¨agte Be-wusstsein f¨ur Gerechtigkeit wird ignoriert. Zudem sind die Gesetze der Ma-nipulation durch einflussreiche Personen wie ˇGibr¯an ausgesetzt. Recht wird

nicht gesprochen oder ausge¨ubt, sondern die Gerechtigkeit nimmt ihren Lauf(S. 11, 62, 95). Diese Formulierung zieht sich wie ein Leitmotiv durch den Roman und wird von verschiedenen Figuren ausgesprochen. Anwalt Zayn benutzt sie, um damit die Freilassung ,Abd as-Sal¯ams nach der Ermordung al-H¯aˇsim¯ıs zu erkl¨aren. Die Gerechtigkeit habe ihren Lauf genommen, soweit es vom Gesetz abh¨ange, versucht er seinen Bruder Mahd¯ı abzuwimmeln. Die-ser will jedoch einen derart willk¨urlichen Umgang mit bestehendem Recht nicht hinnehmen. Mahd¯ı bringt dieser Satz erst richtig in Rage und er wie-derholt ihn laut schreiend immer wieder (vgl. S. 11).

Geradezu groteskt wirkt der Satz aus dem Munde ˇGibr¯ans, als er den drei Nachtplauderern erkl¨art, warum , Abd as-Sal¯am nicht einfach freigelassen werden k¨onne:

Die Gerechtigkeit muss ihren Lauf nehmen. Seine Freilassung muss den Gesetzen entsprechen.(S. 62)

Gibr¯ˇ an betont zwar, dass ,Abd as-Sal¯am nicht ohne weiteres entlassen wer-den k¨onne, sondern nur entsprechend geltendem Recht. Doch es ist klar, dass dies f¨ur ihn lediglich heißt, den Sachverhalt und die Umst¨ande des Falles so lange zu verdrehen, bis sich daraus das von ihm gew¨unschte Ergebnis ablei-ten l¨asst. Auch f¨ur ihn bedeutet ein Rechtsfall nicht, dass der Schuldige den Gesetzen entsprechend verurteilt wird, sondern lediglich l¨astige Umst¨ande, die ihn zu einigen Umwegen zwingen, um seine politischen Ziele zu erreichen.

Die Gerechtigkeit muss ihren Lauf nehmen¨ubersetzt er mitDer Prozess muss den juristischen Formalia entsprechen. Die Gerechtigkeit wird dabei v¨ollig ¨ubergangen.

Zum dritten Mal verwendet,Awlaq¯ı die Formulierung w¨ahrend der Gerichts-verhandlung, als der Saal nach Anwars peinlichem Auftritt in Schweigen ver-sunken ist. Die Verhandlung stockt, doch sie muss weitergehen ... und die Gerechtigkeit musste ihren Lauf nehmen (S. 95). Auch hier wird der Begriff

Gerechtigkeitzynisch gebraucht, denn wieder greift niemand aktiv ein, um die Gerechtigkeit durchzusetzen, sondern die Dinge gehen ihren Gang, ohne dass abzusehen w¨are, wo sie hinf¨uhren. Diese Ausdrucksweise klammert jede Person aus, die regelnd eingreifen k¨onnte.

Wie die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen soll, erkl¨art ˇGibr¯an den drei Nacht-plauderern w¨ahrend des Verh¨ors. Dabei vertritt er eine sehr eigenwillige Rechtsauffassung.

Leute, versteht mich. Die Welt hat sich ver¨andert. Das, was ihr sagt, war vielleicht fr¨uher m¨oglich, heute nicht. Jetzt gibt es ein Gesetz und es gibt Gerechtigkeit, Maßnahmen und komplizierte Fragen. Es ist schwer.(S. 62)

Die Akte ist fertig und vollst¨andig beim Gericht. Seht ihr nicht, dass es zu sp¨at f¨ur irgendeine Anpassung oder Ver¨anderung ist?

(S. 63)

Glaubt ihr, dass es irgendwo auf der Welt v¨ollige Demokratie oder wahre Freiheit gibt? Das sind bloß Beschreibungen, Ausdr¨ucke, die auf Hirngespinste angewendet werden, die es nicht wirklich gibt. Die Wirklichkeit ist etwas anderes. Was heute von euch ver-langt wird, ist etwas ganz Normales, das st¨andig an vielen Orten geschieht. Wichtig ist, dass der Scharfsinn unser Wegweiser zum guten Verhalten ist, dass wir das erhoffte Ziel auf passende Art erreichen.(S. 64)

Es wird sehr schnell klar, dass es ˇGibr¯an nicht darauf ankommt, Gerechtig-keit zu erreichen oder zumindest die Gesetze zu befolgen, sondern lediglich darum, sein Ziel durchzusetzen. Er hat seine Moral so weit abgelegt, dass es ihm nicht einmal befremdlich erscheint, seine Verdrehung von Recht und Gesetz offen auszusprechen. Vielmehr erwartet er von den drei Nachtplau-derern, dass sie sich seiner diktatorischen Weltsicht anschließen, da sie ihm die vern¨unftige und einzig richtige zu sein scheint. Wahre Gerechtigkeit und Freiheit sind f¨ur ihn sogar nur Hirngespinste (S. 64). F¨ur ˇGibr¯an hei-ligt der Zweck die Mittel. Wenn das angestrebte Ziel – die Freilassung , Abd as-Sal¯ams – erreicht wird, ist fast alles erlaubt. Deshalb ist es f¨ur ihn auch logisch, dass die Unschuld des Angeklagten zwar von der Zeugenaussage abh¨angt, diese aber nicht der Wahrheit entsprechen muss, wenn sich damit das angestrebte Ergebnis herbeif¨uhren l¨asst. Die drei Helden wurden vom Angeklagten als Zeugen benannt, also sollen sie diese Funktion auch erf¨ullen, egal, ob ihre Aussage der Wahrheit entspricht oder nicht (vgl. S. 64). Die-se Einstellung wirkt besonders unmoralisch und realit¨atsverzerrend, da sie den hohen moralischen Maßst¨aben der drei Helden kontrastierend gegen¨uber gestellt wird. Sie versuchen mit allen ihnen zur Verf¨ugung stehenden Ar-gumenten zu verhindern, ˇGibr¯ans Forderung nachgeben zu m¨ussen und vor Gericht eine Falschaussage zu machen, um ihren eigenen Anspr¨uchen an sich selbst gerecht werden zu k¨onnen.

Im Dokument Die Gerechtigkeit muss ihren Lauf nehmen (Seite 190-193)