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Anwar – der Sensible

Im Dokument Die Gerechtigkeit muss ihren Lauf nehmen (Seite 161-166)

Auch Anwar, der Musiker, l¨asst sich in seinem Verhalten von seinen Gef¨uhlen leiten. Im Gegensatz zu Mahd¯ı sind es allerdings nicht Wut und Zorn, die ihn bestimmen, sondern bis zur Sentimentalit¨at reichende Empfindsamkeit und Melancholie. Seinem Temperament entsprechend ist Anwar meistens in sein Schicksal ergeben und begehrt selten dagegen auf. Seine Frau Naz.ra ist sein unausweichliches Schicksal (qadar anwar al-mah. t¯um ; S. 49), das er ohne zu z¨ogern annimmt und f¨ur das er Gott dankt. Der Blick in Naz.ras Augen l¨ost bei ihm gegens¨atzliche Gef¨uhle aus, denen er sich ¨uberl¨asst:

Ich schwamm in ihren einander widersprechenden Welten, die mit Glanz angef¨ullt sind, und hatte mich der F¨uhrung ins Unbe-kannte ergeben, das mich erwartete, v¨ollig einverstanden mit dem Schicksal, das es f¨ur mich verbarg.(S. 50)

Doch Anwars Schicksalsergebenheit ist keine Ausnahmeerscheinung, sondern f¨ur ihn typisch jemenitisch. Als er w¨ahrend des Verh¨ors aus dem Fenster blickt, sieht er eine Sesampresse, in der ein Kamel mit verbundenen Augen im Kreis l¨auft. Dieser Anblick verk¨orpert f¨ur ihn die unverf¨alschte Adener Perspektive (k¯ana ’l.manz.aru ,adan¯ıyan h

˘¯alis.an ) und istcraterisch bis ins Mark (kritar¯ıyan h. att¯a al-nuh

˘¯a, (S. 56 f.). Statt gegen sein unw¨urdiges Schicksal aufzubegehren, geht das jemenitische Volk blind im immer selben Kreis, den Befehlen der M¨achtigen gehorchend, ohne die M¨oglichkeit zum Ausbrechen aus seiner Lage zu erkennen. Denn so wie das Kamel st¨arker ist als der Mann, der es f¨uhrt, ist das Volk st¨arker als jene, die es regieren. Es fehlt ihm nur das Bewusstsein seiner Macht. Diese Erkenntnis fruchtet bei

Anwar allerdings erst verz¨ogert, denn er ist der erste der drei Nachtplau-derer, der ˇGibr¯ans Druck nachgibt und sich zur Falschaussage vor Gericht bereiterkl¨art (vgl. S. 66).

Wenn Anwar ¨uber sich selbst spricht, tut er dies meist sehr bescheiden und er-niedrigt sich oft. Er bezeichnet sich selbst alsschwach, unterw¨urfig, klein und bemitleidenswert (d. a,¯ıf d

¯al¯ıl wa-misk¯ın ; S. 43), armer Tropf und Feigling (misk¯ın wa-ˇgub¯an ; S. 93). Diese negative Sicht seiner selbst korrespondiert mit seiner Einstellung zum Leben: Das scheint ihm fade und leer, ohne Sinn und Ziel (vgl. S. 42, 48), und auch seine Musik ist von Traurigkeit gepr¨agt (vgl. S. 47). Aus dieser depressiven Grundhaltung reißen ihn zwei Begegnun-gen heraus: die mit der Musik Wolfgang Amadeus Mozarts und die mit seiner sp¨ateren Frau Naz.ra.

Nicht nur seine Arbeit, sondern sein ganzes Leben ist von Musik durchdrun-gen und gepr¨agt. Schon als Kind begeistert sich Anwar f¨ur die Musik und will sie zu seinem Beruf machen.

Die Musik zog ihn an sich mit unsichtbaren F¨aden, denen er nicht widerstehen konnte. Oft sagte er zu sich selbst:Die Musik ist die Welt, von der ich so oft getr¨aumt habe, und ich w¨unschte, zu ihr zu geh¨oren. (S. 45)

Gegen den Willen seines Vaters studiert er heimlich Musik, um seinen Traum verwirklichen zu k¨onnen. Dabei gilt seine Begeisterung zuerst der arabischen Musik, vor allem dem jemenitischen Volkslied im Stile der qumand¯an¯ıy¯at 2 bevor er die europ¨aische klassische Musik f¨ur sich entdeckt. Diese erschließt sich ihm jedoch nur teilweise. Bezeichnenderweise erschreckt ihn die Gr¨oße und Klanggewalt Ludwig van Beethovens, angesichts derer er sich schwach, unterw¨urfig, klein und bemitleidenswert (S. 43) f¨uhlt. Doch Mozart ver¨andert Anwars Leben v¨ollig und gibt ihm einen neuen Sinn.

Als ich sehr sp¨at das Niveau erreichte, die wahrhafte F¨ahigkeit zum Genuss seiner Musik zu erlangen, [...] erkannte ich, wie leer mein Leben war, wie sehr die Fadheit rings um mich herrsch-te, wie ich mich im Schmutz des L¨arms und im Kreischen der

2Lieder im Stil der Gegend um Lah.ˇg, die von Ah.mad Fad.l bin,Al¯ı (1858-1943) gepr¨agt wurden, der den Spitznamen der Kommandant (al-qumand¯an ) trug. Unter seinem Einfluss emanzipierte sich der Lah.ˇg¯ı-Stil vom S.an,¯an¯ı-Stil, an dem er sich vorher orientiert hatte, und wird heute als gelungene Mischung aus dem S.an,¯an¯ı-, dem Y¯afi,¯ı- und dem H. ad.ram¯ı-Stil sowie popul¨aren Lah.ˇg¯ı-Liedern bezeichnet (vgl. Braune 1996).

Saiten und Stimmb¨ander w¨alzte. [...] Mozart entfachte um mich einen Wald aus Lampen, der das Dunkel meiner Welt vertrieb, mich mit W¨arme umgab, alle Zellen meines K¨orpers mit Wohl-gef¨uhl durchtr¨ankte und meine Seele mit Licht, Ruhe und Liebe erf¨ullte.(S. 42)

Ab diesem Zeitpunkt r¨aumt Anwar Mozart eine zentrale Stellung in seinem Leben ein, deren Ausmaße so weit gehen, dass Mozart die Rolle von Anwars Gewissen einnimmt. F¨ur seine Taten rechtfertigt sich der Musiker nicht vor Gott, sondern vor Mozart (S. 63, 68, 109), was bisweilen grotesk anmutet.

Mit seiner Musik dr¨uckt Anwar nicht direkt politische Kritik aus, wie es sei-ne Freunde mit ihrer Kunst tun. Doch er sieht, dass die Jemeniten durch die herrschenden Zust¨ande ihrer Freude beraubt und voller Bitterkeit sind, und dass es f¨ur ihn als Musiker kaum m¨oglich ist, die Gef¨uhle dieser Men-schen noch mit seiner Musik anzusprechen. Dies f¨uhrt ihn zu Selbstzweifeln, denn auch er hat die Lebensfreude verloren und fragt sich, ob seinen Liedern deshalb die F¨ahigkeit fehlt, Freude und Begeisterung auszul¨osen (vgl. S. 15).

Beim Komponieren merkt er, wie sich das Lied gegen ihn zu str¨auben scheint und dass es ihm nicht gelingt, das auszudr¨ucken, was er m¨ochte (S. 48). Seine Schwierigkeiten, sich selbst in seiner Kunst zu verwirklichen, f¨uhren ihn in ei-ne pers¨onliche Krise, und er beginnt, ¨uber sich und sein Leben nachzudenken.

Das bedeutet f¨ur ihn, die Inspiration durch die Musik zu suchen. Ihm f¨allt auf, dass von der Zeit zwischen beiden Weltkriegen bis in die 1950er Jahre, als die Welt von Gewalt gepr¨agt war, die jemenitische Musik eine Bl¨ute erlebte, die vor allem von den Kompositionen desKommandantengepr¨agt war. Er kommt zu dem Schluss, dass der Grund f¨ur diese kreative Kraft nur im We-sen der Menschen jener Gegend liegen k¨onne, in deren Herzen mit Sicherheit das Paradies wohnt (S. 48). Deshalb beschließt er, dort nach einer Frau zu suchen, die diese Eigenschaft besitzt. Anwar wird f¨undig und heiratet, vol-ler romantischer Vorstellungen (vgl. S. 48 f.). Seine bisherige, melancholische Grundeinstellung f¨allt von ihm ab und er f¨uhlt sich sowohl als Mensch als auch als K¨unstler befreit.

In diesen außergew¨ohnlichen Momenten jenseits der Gesetze des Seins, der Regeln der Zeit und der Fesseln des Lebens, machte ich mich spontan frei von den Lasten und Sorgen, und zerriss je-des Band, das meine Lebendigkeit behinderte, mir meine Sponta-neit¨at nahm und als Hindernis zwischen mich und den Ursprung der reinen Inspiration und das Zentrum der reinen Weisheit trat.

Ich f¨uhlte, dass ich mich v¨ollig erneuert hatte, und dass ich auf

eine neue, erfrischte Welt herabblickte, die voller Erhabenheit, Sch¨onheit und Gr¨oße funkelte. Alles um mich her hatte sich er-neuert, als w¨are die ganze Welt vor Kurzem geboren worden...

oder wurde jetzt gerade geboren. (S. 50 f.)

Er glaubt, dass die musikalische Kreativit¨at, die den Menschen aus Lah.ˇg seiner Meinung nach innewohnt, nun auf ihn ¨ubergegangen sei, und dass er die F¨ahigkeit habe, mit seiner Musik das mitzuteilen, was ihm bisher nur unzureichend gelang.

Diese Idee erinnert stark an die Vorstellung von baraka (Segen), die im Sufismus den Ordensgr¨undern und Heiligen zugesprochen wird. Wer baraka besitzt, zeichnet sich durch besondere, oft ¨ubernat¨urliche F¨ahigkeiten aus, die den Mitmenschen Gutes oder Schlechtes bringen k¨onnen, je nachdem, wie sie sich dem baraka Besitzenden gegen¨uber verhalten. Verbreitet ist auch die Vorstellung, dass die baraka eines Verstorbenen an seine Nach-kommen vererbt wird und – vor allem bei Heiligen – auch vom Grab aus auf die Umgebung ausstrahlt. Beim Besuch von Heiligengr¨abern glauben die Menschen, durch Ber¨uhren des Gitters, das den Schrein umgibt, sowie durch den Verzehr dort verteilter Speisen und Getr¨anke etwas von der baraka des Heiligen auf sich ¨ubertragen zu k¨onnen.3 Verbreitet ist auch die Vorstellung, dass die baraka vom Heiligengrab aus auf die Menschen ¨ubertragen wird, die in seiner Umgebung leben4, und dass der Besuch eines Heiligengrabes die Gl¨aubigen erneuert.5

Beschließt ein Muslim, sich einem Sufiorden anzuschließen, sucht er einen Scheich, der ihn in den Lehren des Ordens unterweist und dem er sich v¨ollig unterwirft. Bei den religi¨osen ¨Ubungen, mit deren Hilfe die Sufis mysti-sche Erfahrungen zu erlangen suchen, spielt auch das H¨oren bestimmter, die Gef¨uhle ansprechender Musik (sam¯a,) eine Rolle.6 Der Novize besiegelt das Lehrer-Sch¨uler-Verh¨altnis mit dem von ihm gew¨ahlten Scheich, indem er ihm einen Eid leistet. Nach dieser Zeremonie f¨uhlen sich viele Sufis, als w¨aren sie neu geboren worden.7

Anwar glaubt, durch seinen Besuch in Lah.ˇg und die Heirat Naz.ras strahle etwas von der baraka des Kommandanten auf ihn ab und gebe ihm neue Inspiration f¨ur seine Lieder. Mit dem Gef¨uhl, ein v¨ollig neuer Mensch zu sein, kehrt er nach Aden zur¨uck, und nimmt seinen Teil der in Lah.ˇg vor-handenen baraka in Form von Naz.ra mit nach Hause.

3vgl. Hoffman 1995, S. 105, Schimmel 1990, S. 199

4Hoffman 1995, S. 114

5ebd, S. 118

6vgl. Schimmel 1990, S. 191

7vgl. Hoffman 1995, S. 131

Anwars Emotionalit¨at und schwache Pers¨onlichkeit zeigen sich deutlich w¨ahrend der Gerichtsverhandlung. Durch das Verh¨or und die Angst vor der Zeugen-aussage bereits nervlich stark angegriffen, betritt er im Zustand gr¨oßter Erre-gung den Gerichtssaal. Dabei sieht er derart verwirrt aus, dass das Publikum in lautes Gel¨achter ausbricht:

Er kam verst¨ort, atemlos, mit blassem Gesicht und hervorquel-lenden Augen in den Saal. Er verschr¨ankte seine rechte und sei-ne linke Hand wie ein Idiot. In seisei-nem Zustand sah er aus wie ein naiver Bauer, der zum ersten Mal im Leben in die Bezirks-hauptstadt kommt. Der Saal war entschuldigt, als er seine W¨urde verlor und sein Eintreten mit Tohuwabohu sowie mit br¨ullendem und heimlichem Gel¨achter empfing. (S. 93)

Doch Anwar bel¨asst es nicht bei seinem optischen Eindruck, sondern beteu-ert laut seine Unschuld, indem er sich selbst herabsetzt und als naiv und unwissend darstellt. Erst als es dem Richter gelungen ist, die Ruhe im Saal wieder herzustellen, wird sich Anwar der Peinlichkeit seines Verhaltens be-wusst, und er sch¨amt sich so sehr, dass er sogar zu weinen beginnt (S. 94 f.).

Bis zu diesem Punkt hat der Autor Anwar als nicht sehr ernst zu nehmende Figur dargestellt. Mit seinem Mozart-Fimmel, der Erz¨ahlung seines Traums vom Mann im blauen Anzug, der im UFO auf die Erde kommt, und schließ-lich mit seinem Auftritt im Gerichtssaal erweckt Anwar eher den Eindruck eines liebenswerten Spinners, der den H¨arten der Realit¨at nicht gewachsen ist und sich deshalb in seine Phantasie fl¨uchtet. Mit seiner Aussage, die sach-lich und entschieden ist, l¨asst der Autor seinen Helden seine W¨urde aber wieder herstellen. Nun pr¨asentiert er Anwar als seri¨ose Person, die sich ihrer Sache sicher ist – bis zu dem Moment, als ihn der Verteidiger befragen will.

Wieder wird Anwar von seinen Gef¨uhlen ¨ubermannt und erleidet einen re-gelrechten Wutanfall, w¨ahrend dessen er schreit und tobt. Dieses Verhalten ist ganz außergew¨ohnlich f¨ur die Figur Anwars, da er sich sonst eher pas-siv und deprespas-siv zeigt. ,Awlaq¯ı will offenbar zeigen, dass der Verteidiger so unertr¨aglich ist, dass er sogar eine derart gutm¨utige und zur¨uckhaltende Pers¨onlichkeit wie Anwar zur Raserei treibt.

Im Dokument Die Gerechtigkeit muss ihren Lauf nehmen (Seite 161-166)