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Erinnern und Vergessen

Im Dokument Die Gerechtigkeit muss ihren Lauf nehmen (Seite 187-190)

Einen wichtigen Platz nimmt bei den n¨achtlichen Treffen auf der Mauer das Erinnern ein. Die drei Freunde wollen – im Gegensatz zu vielen ihrer Zeit-genossen – die Gr¨auel und Ungerechtigkeit, die sie erlebt haben, nicht ver-dr¨angen und vergessen.

Die drei Nachtplauderer hatten einen schwierigen Weg f¨ur ihr Le-ben gew¨ahlt, auf dem sie das Vergessen mieden. Jedes Mal, wenn sie sich trafen, erinnerten sie sich. Immer erinnerten sie sich.

Sie erinnerten sich an die Vergn¨ugungen, die ihnen entgangen waren, und sie tr¨osteten sich mit Freuden, die ihnen zwischen den Fingern zerrannen.(S. 13)

Nur wer sich erinnert und ¨uber das Vergangene nachdenkt, kann daraus Leh-ren ziehen und erfolgreich an einer Verbesserung der herrschenden Zust¨ande

arbeiten. Dies entspricht der Lebenseinstellung der drei Helden, die sich je-den Tag aufs Neue f¨ur Ver¨anderungen in ihrem Land einsetzen. Sie bemerken, dass die Schrecken, die die Vergangenheit pr¨agten, mehr und mehr in Ver-gessenheit geraten.

Selbst diese Erinnerung (an die Januar-Ereignisse 1986; B. V.) nahm ihren Weg aufgrund der Aufeinanderfolge der Jahre in die Keller und Gew¨olbe des Vergessens.(S. 23)

Statt Erinnerung und Verarbeitung des Erlebten zieht die Masse der Bev¨ olke-rung Verdr¨angung und Vergessen vor, weil sie sich nicht mit der schlimmen Vergangenheit, deren Folgen bis in die Gegenwart reichen, auseinandersetzen will. Besonders bitter erlebt Mahd¯ı dieses Ph¨anomen nach der Ermordung seines Freundes Badr. Der M¨order wird zuerst zum Tode verurteilt, dann wird seine Strafe in lebensl¨angliche Haft gemildert, und nicht allzulange Zeit sp¨ater wird er freigelassen, ohne dass es zu einem Aufschrei der Emp¨orung kommt. Der Fall wird zu den Akten gelegt und vergessen (vgl. S. 11). Aber Mahd¯ı kann das nicht hinnehmen und begehrt zuerst bei seinem Bruder, dem Anwalt, gegen das Unrecht auf. Als er dort keinen Erfolg hat, klagt er das ganze jemenitische Volk an und gibt ihm die Schuld daran, dass der Mord an Badr al-H¯aˇsim¯ı unges¨uhnt blieb. Er warnt vor dem Verlust der inneren Sicher-heit im Lande, wenn das Volk einen derartigen Rechtsbruch stillschweigend hinnimmt (vgl. S. 11 f.). Immer wieder pocht er darauf, dass dem Ermordeten postum zu seinem Recht verholfen und sein M¨order bestraft werden m¨usse.

Im Verh¨or ist er zun¨achst begeistert, als er erf¨ahrt, dass ,Umar ,Abd as-Sal¯am des Mordes angeklagt ist, weil er glaubt, nun werde Badr endlich Gerechtigkeit zuteil. Umso gr¨oßer ist sein Entsetzen, als er erf¨ahrt, dass es sich um einen neuen Mordfall handelt (vgl. S. 55 f). In seiner Zeugenaussage vor Gericht erinnert Mahd¯ı ebenfalls laut daran, dass,Umar ,Abd as-Sal¯am die gerechte Strafe f¨ur seine Tat noch nicht erhalten habe (vgl. S. 91). Mahd¯ı kann nicht eher ruhen, als bis seinem ermordeten Freund Gerechtigkeit wi-derf¨ahrt. Er kann und will nicht vergessen, was geschehen ist.

Aber nicht nur die schrecklichen Erinnerungen sind verblasst, sondern auch die sch¨onen an den Reichtum des kulturellen Lebens, der in Aden einst herrschte. Der Kulturclub ist verlassen, die Zeit der Festivals und Konzerte lange vorbei, und auch an die Bl¨ute des jemenitischen Volksliedes im Lah.ˇg¯ı-Stil erinnert sich kaum noch jemand. Aber die drei Nachtplauderer haben nicht vergessen, welch hohes Niveau und welche Bedeutung f¨ur die Menschen die jemenitische Kultur einst besaß (vgl. S. 3, 48).

Wichtig wird das st¨andige Sich-Erinnern der drei Helden w¨ahrend der Ge-richtsverhandlung. Von ihrer Aussage h¨angt das Urteil ab, das ¨uber,Umar , Abd as-Sal¯am gef¨allt wird. Deshalb fragt der Richter auch gezielt nach dem

Datum und der Uhrzeit, zu der der Mord ver¨ubt wurde. Doch genau das bringt Ah.mad in Gewissensn¨ote, denn er will auf jeden Fall richtig antwor-ten, zweifelt aber an seinem Erinnerungsverm¨ogen.

Er war verwirrt und stockte. Er hatte eine andere Frage erwar-tet, leichter als diese, danach, ob der Angeklagte zu jener Zeit bei ihnen war oder nicht. Dann h¨atte er mit ja oder nein ant-worten k¨onnen. Was diese Frage betraf... Wie konnte er auf der Richtigkeit seiner Antwort bestehen, nachdem all diese Monate vergangen waren? [...]

Ehrlich gesagt, ich erinnere mich nicht genau. Es ist viel Zeit seit jenem Tag vergangen. (S. 84)

Ausgerechnet einer der drei M¨anner, die sich st¨andig erinnern, kann die f¨ur den Prozess zentrale Frage nicht beantworten und wird im entscheiden-den Moment von seinem Ged¨achtnis verlassen. Aber es w¨are unglaubw¨urdig, wenn sich Ah.mad nach Monaten noch genau an jenen Abend erinnern k¨onn-te. Und diese Unglaubw¨urdigkeit will der Autor vermeiden. Seine Helden sollen als ganz normale Menschen mit ihren Schw¨achen geschildert werden, um Sympathietr¨ager sein zu k¨onnen.

Ah.mads offen bekannte Unsicherheit benutzt der Verteidiger sofort, um die Aussage als unbrauchbar zu disqualifizieren. Immer wieder versucht er, den Zeugen in Widerspr¨uche zu verwickeln, aber ohne Erfolg, denn Ah.mad ist zwar zuerst unsicher und ¨uberlegt lange, was er sagen soll, aber wenn er eine Aussage macht, ist er sich seiner Sache absolut sicher. Seinen beiden Freunden geht es ¨ahnlich. Weil die drei Helden sich noch gut an den Mord-fall al-H¯aˇsim¯ı erinnern, ¨uberlegen sie sich ihre Aussagen sehr genau, denn sie haben im Gegensatz zu vielen anderen noch nicht vergessen, dass ,Abd as-Sal¯am bereits als M¨order verurteilt und anschließend das Recht zu seinen Gunsten gebeugt wurde. Nun soll der M¨order al-H¯aˇsim¯ıs endlich seine ge-rechte Strafe erhalten.

Doch nicht immer wollen sich die drei Helden erinnern. Gerade ˇGibr¯ans Dro-hungen und die Angst, die sie seit dem Verh¨or auf der Polizeiwache immer wieder bef¨allt, wollen sie gerne vergessen.

Der Optimismus hatte sie mit seinem Zauberstab ber¨uhrt und sie glauben gemacht, dass ihnen die ganze Nacht geh¨ore, und dass Gibr¯ˇ an zusammen mit seiner speerartigen Hand und seinen Dro-hungen dabei sei, ein Teil der Vergangenheit, ihrer Geschehnisse und Gespr¨ache zu werden und Stoff l¨astiger Erinnerungen in den N¨achten des Plauderns. (S. 104)

Nicht immer ist es gut und f¨ur das richtige Handeln f¨orderlich, sich zu erin-nern. Gerade in diesem Fall bilden die Erinnerungen eine Last, die die drei Freunde dr¨uckt und l¨ahmt. Ihre Angst hindert sie daran, sachlich die rich-tigen Entscheidungen zu treffen und das zu tun, was sie f¨ur richtig halten.

Je klarer und drohender die Erinnerungen auf ihnen lasten, desto gr¨oßer ist ihre Angst und die Gefahr, dass sie sich einsch¨uchtern lassen und gegen ihre Uberzeugung handeln, wie sie es bereits mehrfach getan haben.¨

Im Dokument Die Gerechtigkeit muss ihren Lauf nehmen (Seite 187-190)