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1 INTERKULTURELLE KOMPETENZ: THEORIEN, KONZEPTE,

1.5 E INFLUSSFAKTOREN INTERKULTURELLER K OMPETENZ

1.5.1 Persönlich-kulturelle Ebene

1.5.1.4 Verhaltensdispositionen

Weitere wichtige Faktoren interkultureller Kompetenz werden im wissenschaftlichen Diskurs auf der handlungs- und verhaltensbezogenen Ebene hervorgehoben (vgl. Chen/Starosta 1996:

367; Stüdlein 1997: 164; Samovar/Porter 1988: 20): Auf dieser Ebene nämlich kommt interkulturelle Kompetenz zum Ausdruck. Die Handlungs- und Verhaltensweisen sind von Verhaltensdispositionen abhängig. Unter Verhaltensdispositionen wird die Veranlagung einer Person verstanden, auf einen bestimmten Reiz hin eine bestimmte Reaktion bzw. ein bestimmtes Verhalten zu zeigen. In der Psychologie werden Verhaltensdispositionen als etwas Abstraktes, das in der Regel dem Interaktionspartner verborgen bleibt, betrachtet. Sie weisen eine mittelfristige zeitliche Stabilität auf und bleiben bestehen, auch wenn kein Reiz mehr auftritt, während das Verhalten selbst nur eine kurzfristig beobachtbare Reaktion auf den Reiz darstellt (vgl. Patrzek 2008).

Ähnlich wie das emotionale Profil einer Person setzen sich auch die Verhaltensdispositionen eines Individuums aus persönlichen und kulturellen Aspekten zusammen. Die persönlichen Aspekte sind zum Teil universale, dem Menschenwesen typische, zum Teil individuell angeborene motorische, prosodische, artikulatorische Dispositionen und bilden einen Rahmen für die Konstruktion der kulturellen Verhaltensdispositionen. Jeder Mensch „erwirbt individuell in den ersten Lebensjahren eine Reihe von Reaktionsmustern, die seine Individualität ausmachen und mit denen er auf Angst, Lust, Nähe, Distanz, Bekanntes und Unbekanntes reagiert. Sie zählen zu den Wesenszügen seines Charakters (Patrzek 2008: 234).

Die kulturellen Verhaltensdispositionen stellen spezifische kulturbedingte verbale, nonverbale und paraverbale Reaktionsweisen bzw. Verhaltensmuster auf innere und äußere Reize dar (vgl.

Samovar/Porter 1988: 20).

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Verbale Verhaltensdispositionen

Zu den verbalen Verhaltensdispositionen gehören Formen, Muster, Skripte, Regeln und Normen der mündlichen Informationsvermittlung bzw. des Ausdrucks von Gedanken, Wünschen und Emotionen mittels der gesprochenen Sprachen. Die verbalen Verhaltensdispositionen sind zu einem großen Teil sprach- und kulturspezifisch; sie zeichnen sich aber auch durch Individualität aus, da sie von dem kognitiven und emotionalen Profil jedes Individuums abhängig sind. Im Prozess der Enkulturation, gleichzeitig mit dem Spracherwerb, lernen die Individuen, welche Gedanken, Meinungen, Wünsche und physischen und körperlichen Bedürfnisse in welcher Form und in welchen Situationen in der jeweiligen kulturellen Gruppe mündlich ausgedrückt werden können bzw. dürfen und welche eher verschwiegen werden sollten (vgl. McDaniel/Samovar/Porter 2011: 15). So werden beispielsweise Kritik, Abneigung oder Ablehnung in unterschiedlichen kulturellen Gruppen unter Befolgung spezifischer kultureller Kommunikationsnormen direkt oder indirekt nur durch den Gebrauch bestimmter sprachlicher Skripte oder versteckt bzw. geschwächt in Verbindung mit Lob oder Anerkennungsformen ausgedrückt. Ähnliches gilt für den mündlichen Ausdruck der Emotionen. Die Verbalisierung welcher affektiven Erscheinungen als angemessen gilt und welche Ausdrucksformen dabei wünschenswert sind, ist meistens kulturell bestimmt.

In der Regel sind die verbalen Verhaltensformen mit der Sprache der jeweiligen Kultur verschmolzen und werden nicht bewusst als etwas davon Getrenntes wahrgenommen. Oft werden sie auf andere erworbene Sprachen übertragen, was in interkulturellen Situationen zu Irritationen führen kann.

Die verbalen Verhaltensdispositionen spielen in einer interkulturellen Situation eine sehr wichtige Rolle, da auf ihrer Grundlage die Botschaften kodiert werden (vgl. Ting-Toomey 1999: 16). Von der Auswahl der verbalen Formen hängt in großem Maße die Reaktion des Interaktionspartners ab. Zu beachten ist hierbei die Irreversibilität der bereits kodierten verbalen Botschaft (vgl. Ting-Toomey 1999: 16). Aus diesem Grund ist es wichtig, sich mit der Verbindung zwischen Sprache und Kultur auseinanderzusetzen (mehr dazu im Kapitel 2.3), die verbalen Muster und Normen der eigenen kulturellen Gruppe und ihre soziokulturellen Hintergründe zu analysieren, ihre Allgemeingültigkeit in Frage zu stellen und Strategien zu ihrer Aushandlung in interkulturellen Interaktionen zu entwickeln. Eine wichtige Variable stellt hierbei die metakommunikative Fähigkeit dar, die in der Thematisierung unverstandener oder konfliktgeladener Aspekte der Interaktion besteht (vgl. Watzlawick 2011:

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Nonverbale Verhaltensdispositionen

Die nonverbalen Verhaltensdispositionen werden hier als Voranlagen definiert, auf bestimmte innere und äußere Reize durch Körperhaltung, Mimik und Gestik zu reagieren (vgl.

Watzlawick 2011: 58). Die nonverbalen Verhaltensformen entstehen aus einem komplexen Zusammenspiel mehrerer Regionen des menschlichen Gehirns (Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Handeln, Sprechen), wobei emotionale Zentren dominieren und viele Reaktionsweisen auf „alten“, fest programmierten Abläufen basieren. Diese Abläufe sind dem Bewusstsein nicht zugänglich31 und lassen sich nur schwer verändern (vgl. Patrzek 2008: 234). Sie sind mit dem verbalen Verhalten eng verbunden, können aber auch getrennt Botschaften senden.

Einige der nonverbalen Formen sind menschlicher Natur, so beispielsweise die Erweiterung der Pupillen als Ausdruck von Angst, bestimmte mimische Bewegungen als Ausdruck von Schmerz oder das Erröten als Ausdruck von Scham. Sie können nur sehr schwer kontrolliert und gesteuert werden (Patrzek 2008: 234). Die anderen Formen nonverbalen Verhaltens wie Gesten, Gesichtsausdrücke, Augenkontakt, Haltung und Bewegung, Kleidung, Nutzung des Raums etc. sowie ihre Einsatzweise in bestimmten sozialen Kontexten eignen Individuen sich zusammen mit anderen kulturellen Praktiken an (vgl. McDaniel/Samovar/Porter 2011: 15-16).

Zu bemerken ist allerdings, dass solche Aneignung nicht lebenslang konstant, sondern – abhängig von der Dynamik des kulturellen Netzwerks einer Person und von ihren individuellen Dispositionen – Änderungen unterworfen ist.

Nonverbale Gesichts- und Körperausdrücke bilden ein kulturelles Codesystem zur Konstruktion und Äußerung von Bedeutung (vgl. McDaniel/Samovar/Porter 2011: 15–16).

So wird beispielsweise der Augenkontakt in verschiedenen kulturellen Gruppen unterschiedlich gedeutet. Während direkter Augenkontakt in einigen Kulturen mit Höflichkeit und Aufmerksamkeit assoziiert wird, wird dies in anderen als unhöflich und bedrohlich interpretiert (vgl. McDaniel/Samovar/Porter 2011: 15–16).

Auch die nonverbalen Begrüßungsrituale zeigen von Kultur zu Kultur beachtliche Variationen32. Im Zuge der Globalisierung sind die Begrüßungspraktiken dem kulturellen Wandel stärker unterzogen als beispielsweise Gesichtsausdrücke oder Augenkontakt. Letztere

31Die moderne Hirnforschung deckte in den zurückliegenden Jahren interessante Phänomene auf, beispielsweise:

Körpersprachliche Reaktionen werden von entwicklungsgeschichtlich sehr alten, emotionalen Zentren im Gehirn ausgelöst. Diese Reaktionen erfolgen zum Teil, bevor höhere logische Denkregionen wie die Großhirnrinde einbezogen werden. Impulse der Körpersprache werden einige Millisekunden vor der verbalen Sprache ausgelöst, d.h. ein Gedanke materialisiert sich noch vor der sprachlichen Formulierung etwa durch eine Geste. Dies ist ein Kennzeichen authentischer Körpersprache. Antrainierte Gesten können diese Verzögerung nicht wettmachen (Patrzek 2008: 234).

32 Die bekanntesten Begrüßungspraktiken sind – um nur einige Beispiele zu nennen – Händeschütteln, Umarmung, ein- oder mehrmaliges Küssen, leichtere oder tiefere Vorbeugungen (vgl. McDaniel/Samovar/Porter 2011: 15–16).

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sind tief verinnerlichte, sehr oft unbewusste und somit schwer veränderbare Verhaltensdispositionen. In interkulturellen Interaktionen werden sie nicht sofort als kulturelle Praktiken erkannt und dementsprechend nicht so schnell transferiert. Die Formen der Begrüßung hingegen sind mehr oberflächliche und zum Teil bewusste kulturelle Praktiken, die in interkulturellen Interaktionen als erste auffallen, da sie meistens die interkulturelle Kommunikation eröffnen. Sie werden als wichtig betrachtet, da davon ausgegangen wird, dass sie in einer interkulturellen Interaktion im engen Zusammenhang mit dem ersten Eindruck stehen, dem eine wichtige Rolle beigemessen wird.

Es ist wichtig, in interkulturellen Interaktionen ein dauerndes Bewusstsein über die Wirkung nonverbaler Verhaltensweisen auf die interkulturelle Interaktion aufrechtzuerhalten (vgl.

McDaniel/Samovar/Porter 2011: 15–16; Ting-Toomey 1999: 17).

Paraverbale Verhaltensdispositionen

Bei den paraverbalen Verhaltensdispositionen geht es um sprachformende, sprachbegleitende und sprachunterstützende Signale wie Betonung, Lautstärke, Klangfärbung, Tempowechsel, Rhythmus/Melodie, Punkten (das Heben und das Senken der Stimme) einschließlich Sprechpausen und Schweigen (Patrzek 2008: 241; Poyatos 1993: 2). Sie tragen zur Übertragung von Emotionen, zur Setzung von Akzenten sowie zur Kennzeichnung sprachlicher Nuancen im Gespräch bei. Auch die paraverbalen Formen bestehen aus einer Kombination aus individual- und kulturspezifischen Aspekten. Zu den individuellen paraverbalen Merkmalen zählen die anatomisch bedingte Stimmlage (tiefe oder hohe Stimme), Stimmfärbung und -stärke (laut oder leise), temperamentbedingtes Sprachtempo, spezifische Formen des Lachens und Stottern. Kulturspezifisch ist der Umgang mit bestimmten paraverbalen Formen und ihre Einsatzweise in bestimmten Situationen. Kultur- und sprachgebunden sind Betonung, Rhythmus, Melodie, Sprechtempo und Lautstärke. So besteht in manchen Kulturen die Neigung, eher laut und schnell zu sprechen, was in anderen Kulturen als störend empfunden wird (vgl. Poyatos 1993: 6). Die Pausenlänge im Kommunikationsprozess stellt einen anderen kulturell geprägten Aspekt paraverbaler Verhaltensweise dar (vgl. Poyatos 1993: 6). So können längere Pausen beim Sprechen kulturabhängig als selbstverständlicher Teil der Kommunikation, als unangenehmer, störender Faktor oder als Hinweis darauf betrachtet werden, dass die Gesprächspartner entweder nicht genau wissen, was sie zu sagen haben, oder dass sie ihre Rede beendet haben.

Für das Konzept interkultureller Kompetenz lassen sich hinsichtlich der Verhaltensdispositionen folgende Schlussfolgerungen ableiten: Die Verhaltensdispositionen

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einer Person bestehen aus universellen, biologisch bestimmten, individuellen und kulturellen Elementen. Sie stehen auf der Grundlage von Verhaltensweisen in Interaktionssituationen und kommen in unterschiedlichen Kombinationen von verbalen, nonverbalen und paraverbalen Formen zum Ausdruck. Die Verhaltensweisen sind situationsbedingt und stellen die Äußerungsmittel und -formen von kognitiven und affektiven Aspekten dar; sie sind somit sichtbare Variablen, die den Verlauf interkultureller Interaktionen maßgeblich bestimmen. Sie spielen eine wesentliche Rolle bei der Kodierung und Dekodierung von Botschaften und bei der Erschließung der Identitäts- und Beziehungsbedeutung (vgl. Kapitel 1.5).