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Vergleich mit den Ergebnissen an Regelschulen

2 Rahmendaten der Hörgeschädigtenpädagogik

6.4 Quantitative Ergebnisse

6.4.3 Vergleich mit den Ergebnissen an Regelschulen

Für den Vergleich mit den RegelschülerInnen wird auf die Zuordnung der Aufgaben zu den Fähigkeitsniveaus zurückgegriffen, wie sie unter 6.1 in Abb. 38 dargestellt ist. Es wird überprüft, ob die hörgeschädigten SchülerInnen die Aufgaben des jeweiligen Fähigkeitsniveaus mit „hinreichender Sicherheit“ lösen, definiert als Lösungswahrscheinlichkeit von 62% (Projekt VERA 2005e, 1). Wenn die untere Stufe als erfolgreich gelöst gilt, wird dies für die nächsthöhere Stufe ermittelt. Eine Zuordnung zum Fähigkeitsniveau III beinhaltet folglich die hinreichend sichere Beherrschung der Fähigkeitsniveaus I und II.

Die Verteilung der ViertklässlerInnen an Hörgeschädigtenschulen einerseits und jene der hörgeschädigten SchülerInnen an der EAE-Schule andererseits wird getrennt berechnet. Elf ViertklässlerInnen der EAE-Schule tauchen in beiden Stichproben auf.

Verglichen werden die hörgeschädigten mit den hörenden SchülerInnen der gesamten VERA-Stichprobe (Helmke et al. 2006, 29). Es gibt durchaus Bedenken, hörgeschädigte und insbesondere bilinguale SchülerInnen hörenden RegelschülerInnen gegenüberzustellen (Poppendieker 2006, 498). Gelegentlich wird in diesem Zusammenhang vorgeschlagen, sie mit anderen mehrsprachigen SchülerInnen in Beziehung zu setzen (Schüßler 1997, 119). Aus diesem Grund bilden hörende Kinder ohne Deutsch als dominante Sprache die zweite Vergleichsgruppe. Da ihre Ergebnisse nicht für das gesamte VERA-Gebiet vorliegen, werden nachfolgend die Angaben aus dem bevölkerungsreichsten deutschen Bundesland, Nordrhein-Westfalen, herangezogen (Helmke et al. 2006, 37). In Abb. 47 ist die Verteilung der vier

Gruppen dargelegt, d.h. der gesamten VERA-Stichprobe („VERA“), der ViertklässlerInnen mit Deutsch als nicht dominanter Sprache in NRW („D.n.d.“), der hörgeschädigten ViertklässlerInnen (Hg 4) und der Viert- bis NeuntklässlerInnen der Ernst-Adolf-Eschke-Schule („EAE“).

0 I II III

VERA 6% 26% 40% 28%

Deutsch n.d. 14% 45% 32% 9%

Hg 4 58% 26% 12% 4%

EAE 65% 29% 6% 0%

Abb. 47: Verteilung auf die Fähigkeitsniveaus in der VERA-Deutscharbeit

VERA=hörende Regelschüler in VERA; Deutsch n.d.= Deutsch als nicht dominante Sprache;

Hg 4=hörgeschädigte ViertklässlerInnen; EAE=SchülerInnen der EAE-Schule

Die hörenden RegelschülerInnen zeigen nahezu eine Normalverteilung, die unter Berücksichtigung des Fähigkeitsniveaus 0 sogar leicht rechtsschief ausfällt: Eine Minderheit von 6% verbleibt auf diesem Fähigkeitsniveau. 26% erreichen das essentielle Fähigkeitsniveau I, bei dem die „[e]lementare[n] Fähigkeiten“ des Lesens, insbesondere die

„Gewinnung von Einzelinformation“ beherrscht werden (Projekt VERA 2005e, 2). Die Mehrheit von 40% der hörenden RegelschülerInnen lösen die Aufgaben des Fähigkeitsniveaus II mit hinreichender Sicherheit und demonstrieren damit „[e]rweiterte Fähigkeiten“, wie die „Verknüpfung mehrerer Informationen“, wozu auch gehört, dass „Texte (...) ansatzweise plausibel beurteilt werden“ und „[n]ahe liegende Schlüsse (...) gezogen werden“ können (Projekt VERA 2005e, 2). „Fortgeschrittene Fähigkeiten“ im Sinne des Fähigkeitsniveaus III zeigen solide 28% der RegelschülerInnen, die „[ü]ber den Text verteilte Informationen“ aufspüren können, auch wenn „diese (...) in der Aufgabenstellung weder wortgleich noch sinngemäß“ genannt werden; sie können ferner „[k]omplexere Schlussfolgerungen ziehen“, sogar wenn dazu „spezielleres Sach- und (...) Sprachwissen benötigt“ wird, sowie „Texte (...) angemessen beurteil[en]“, mit Bezug auf „inhaltliche (...) und (...) formale Aspekte“ (Projekt VERA 2005e, 2).

Die VERA-Deutscharbeit ist für hörende RegelschülerInnen angemessen, weil knapp 70%

von ihnen das Fähigkeitsniveau II und III, also Lesekompetenzen im Sinne eines Regelstandards, erreichen. Über 90% meistern wenigstens das Fähigkeitsniveau I und liegen damit über dem Mindeststandard. Nur eine Minderheit von 6% bleibt darunter und ist stark gefährdet, keinen funktionalen Zugang zur Schriftsprache zu finden. Dieser Anteil ist in

VERA geringer als in der IGLU-Studie (Bos et al. 2003, 117): Dort sind es etwa 10%, die die

„Kompetenzstufe II, ab der man im engeren Sinne von ‚Lesefähigkeit’ sprechen kann“, nicht erreichen. Die Anforderungen dieser Kompetenzstufe bestehen darin, „angegebene Sachverhalte aus Sätzen oder kleineren Textpassagen zu erschließen“ (Bos et al. 2003, 118) und entsprechen inhaltlich dem Fähigkeitsniveau I der VERA-Deutscharbeit. Damit erweist sich die VERA-Deutscharbeit auch im Vergleich zu den internationalen Lernstandserhebungen in ihren Anforderungen als moderat.

In der Gruppe der Kinder mit „Deutsch als nicht dominanter Sprache“ bleiben 14% unter dem Fähigkeitsniveau I und eine relative Mehrheit von 45% kommt nicht darüber hinaus. Eine Minderheit von 41% erfüllt die Anforderungen eines Regelstandards und ist Fähigkeitsniveau II und III zuzuordnen. Besonders die höchste Stufe einer voll ausgebildeten Lesekompetenz erreichen nur noch knapp 10% dieser SchülerInnen. Diese Gruppe zeigt eine deutlich linksschiefe Verteilung, in der mehr SchülerInnen dem Fähigkeitsniveau 0 und I zuzuordnen sind und damit besondere Förderungen ihrer (Schrift-)Sprach- und Lesekompetenzen benötigen.

Die Ergebnisse der hörgeschädigten ViertklässlerInnen verdeutlichen, dass ihre Probleme mit der Schriftsprache weit schwerer wiegen als diejenigen von hörenden Kindern mit einem Migrationshintergrund: Hier ist es eine Mehrheit von knapp 60%, die unter Fähigkeitsniveau I und somit unterhalb eines Mindeststandards bleibt. Grundlegende Fähigkeiten entsprechend Fähigkeitsniveau I erreichen 26%. Zu diesen 15 SchülerInnen zählen zwei bilinguale SchülerInnen, aber keine nicht-bilingualen an Taubheit grenzend schwerhörige oder gehörlose. Auf dem Fähigkeitsniveau II finden sich nur noch 12% der SchülerInnen, davon eine bilingual gehörlos, vier mittel- bis hochgradig schwerhörig und je einer leichtgradig schwerhörig und dysauditiv. Die 4%, die das höchste Fähigkeitsniveau III erreichen, bestehen aus einer mittelgradig schwerhörigen Schülerin und einem leichtgradig, d.h. einseitig schwerhörigen Schüler.

Da die hörgeschädigten ViertklässlerInnen zwei Gruppen umfassen, und zwar eine vollständige Stichprobe von ViertklässlerInnen in Hörgeschädigtenschulen Berlins und Brandenburgs (n=28) und eine durch die Schulen selektierte in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz (n=29), ist es sinnvoll, diese getrennt voneinander zu betrachten. In Berlin und Brandenburg erreichen 64% nicht das basale Fähigkeitsniveau und 32% können nur die Aufgaben des Fähigkeitsniveaus I hinreichend sicher lösen. Aus diesen beiden Bundesländern befindet sich nur eine Schülerin auf einer höheren Stufe, und zwar dem Fähigkeitsniveaus II;

sie ist gehörlos und besucht den Bilingualen Schulversuch.

Die Verteilung in den beiden anderen Bundesländern sieht etwas günstiger aus: Hier bleiben 52% unter dem Fähigkeitsniveau I, jeweils 21% erreichen das Fähigkeitsniveau I und II und 7% können sogar die Aufgaben des höchsten Fähigkeitsniveaus III hinreichend sicher lösen.

Wenn man also annimmt, dass diese Stichprobe wegen der Selektion nicht repräsentativ für ihre Bundesländer oder die Hörgeschädigtenpädagogik allgemein ist, liegen die Ergebnisse einer flächendeckenden Teilnahme von Hörgeschädigtenschulen vermutlich näher bei den Werten aus Berlin und Brandenburg.

Bestätigt wird diese Annahme von dem Resultat der zumeist hochgradig schwerhörigen und gehörlosen SchülerInnen in der EAE-Schule: Diese SchülerInnen, die vorwiegend einer höheren Klassenstufe angehören, bleiben zu 65% unter dem Fähigkeitsniveau I. 29% gelingt das hinreichend sichere Lösen der Aufgaben des Fähigkeitsniveaus I. Nur 6% bzw. zwei SchülerInnen sind auf dem Fähigkeitsniveau II anzusiedeln, wozu die bereits erwähnte Schülerin der bilingualen vierten Klasse und ein Schüler der Klasse 6.1 gehören. Das höchste Fähigkeitsniveau III erreicht niemand aus der Schule.

Diese Zahlen belegen, dass ein überwiegender Anteil von etwa 60% der hörgeschädigten SchülerInnen den vorgegebenen Standards nicht genügt. Die Quote ist zwar etwas geringer als bei Traxler (2000, 342), nach der sich im SAT 9 etwa 80% der hörgeschädigten SchülerInnen unterhalb des Mindeststandards („below basic“) befinden. Wenn man aber berücksichtigt, dass bei der Zweitevaluation der VERA-Deutscharbeit eine selektive Stichprobe vorliegt, ist eine ähnliche Quote wie in den USA im Falle einer verbindlichen Teilnahme nicht ausgeschlossen.

Neben Vergleichsarbeiten könnten für Hörgeschädigtenschulen deshalb flankierende Evaluationsinstrumente von Nutzen sein, die eine Differenzierung der Kompetenzen unterhalb des Mindeststandards erlauben. So macht es einen großen Unterschied innerhalb der Hörgeschädigtenklassen, ob die notwendige Lösungswahrscheinlichkeit von 62% der Aufgaben des Fähigkeitsniveaus I nur knapp verfehlt wird oder ob die SchülerInnen gar keine Antwort geben können. Diese Bandbreite wird von den offiziell vorgegebenen Vergleichsarbeiten nicht ausgelotet, da die Klientel der Regelschulen nur zu einer Minderheit in diesem Leistungsbereich verbleibt. Für die Hörgeschädigtenpädagogik stellt sie gleichwohl das Feld dar, auf dem sie leistungsbezogene Diagnostik betreiben muss.