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2 Rahmendaten der Hörgeschädigtenpädagogik

4.1 Stanford Achievement Test

In den USA existiert eine längere Tradition der Leistungsevaluation, die als Vorbild für hiesige Bildungsstudien und Vergleichsarbeiten dient. Zu den regelmäßig in US-amerikanischen Schulen durchgeführten Evaluationen gehört der „Stanford Achievement Test“ (SAT), der eine Reihe von sprachlichen und mathematischen Kompetenzbereichen erfasst. Er wird seit den 1970er Jahren in einer speziell für schwerhörige und gehörlose SchülerInnen genormten Version angewendet (Paul 1998, 67). Im Folgenden werden die Ergebnisse der achten Auflage (Holt 1993) sowie der neunten Auflage und deren Interpretationen (GRI 2002; Holt et al. 1997, Traxler 2000, Karchmer & Mitchell 2003, 31ff.) vorgestellt.

Die Ergebnisse zur Lesekompetenz („reading comprehension“) repräsentieren im SAT 8 eine Stichprobe von 6573 hörgeschädigten SchülerInnen und im SAT 9 von weiteren 4808, jeweils im Alter von 8 bis 18 Jahren (Holt 1993, 173; Traxler 2000, 339f.). Der SAT ist somit die größte Lesekompetenzuntersuchung mit hörgeschädigten SchülerInnen, innerhalb derer die Ergebnisse mit einer Normierungsstichprobe hörender SchülerInnen ins Verhältnis gesetzt werden können. Außer diesen Gründen ist er für die vorliegende Arbeit auch deshalb bedeutsam, weil die adaptierten Evaluationsverfahren große Ähnlichkeit mit dem SAT haben, der vergleichbare Texte als Grundlage nimmt: literarische Texte („Recreational“), Sachtexte („Textual“) und Texte mit alltäglichen Anforderungen („Functional“), die z.B. auch Tabellen einbeziehen (Harcourt Assessment, o.J.). Sein Schwerpunkt indes liegt auf Sätzen und kurzen Passagen (Hoffmeister 2000, 155f.) und damit nicht auf den vergleichsweise längeren Texten, die von IGLU und VERA verwendet werden.

Für die Einbettung der eigenen Daten in das Konzept der Bildungsstandards ist ferner von Interesse, dass im SAT 9 eine Zuordnung der SchülerInnen zu „Performance Standards“

vorgenommen wird (Traxler 2000, 341): Mit dem niedrigsten der vier Performance Standards („below basic“) ist auch eine Stufe unterhalb des Mindeststandards vertreten.

Holt (1993, 173) präsentiert die Daten der gehörlosen und schwerhörigen SchülerInnen von 1990 und vergleicht sie mit Werten der hörenden SchülerInnen. Die Ergebnisse werden

anhand des Medians dargestellt: Demnach erreichen die hörgeschädigten SchülerInnen mit 17 Jahren die höchste Lesekompetenz, mit einem Median, der demjenigen der neun- bis zehnjährigen hörenden SchülerInnen entspricht.

Der SAT teilt die SchülerInnen aufgrund des Hörverlusts in Hörstatusgruppen ein (Holt 1993, 174; Holt et al. 1997, 46ff.): Er unterscheidet „profound“ (mehr als 90dB Hörverlust),

„severe“ (71-90dB Hörverlust) und „less-than-severe“ (weniger als 71dB Hörverlust), Begriffe, die im Folgenden mit „gehörlos“, „hochgradig schwerhörig“ und „mittelgradig schwerhörig“ übersetzt werden. Gehörlose SchülerInnen zeigen eine deutlich schwächere Lesekompetenz als jene mit einer hochgradigen Schwerhörigkeit. Beiden Gruppen überlegen erweisen sich SchülerInnen mit einer mittelgradigen Schwerhörigkeit. Wenn die gehörlosen SchülerInnen mit 17 Jahren ihre höchste Kompetenz erreichen, entspricht dies dem Median der hochgradig Schwerhörigen mit 15 Jahren, demjenigen der mittelgradig Schwerhörigen mit 13 Jahren und demjenigen der Hörenden mit neun bis zehn Jahren (Holt 1993, 173f.). Der Abstand zwischen den Untergruppen der Hörgeschädigten liegt danach bei jeweils zwei Jahren, während der Abstand zu den hörenden SchülerInnen vier bis acht Jahre beträgt. Ferner sind hörgeschädigte SchülerInnen mit einer zusätzlichen Behinderung sehr viel schwächer als solche ohne. Auch der ethnische Hintergrund und die Schulform sind Indikatoren für erhebliche Unterschiede in der Lesekompetenz hörgeschädigter SchülerInnen, die jedoch nicht auf die hiesige Situation übertragbar sind.96

Der SAT 9 bestätigt den Zusammenhang zwischen Hörstatus und Lesekompetenz (Holt et al.

1997, 35f.). Außerdem ist er Anlass zu weiterführenden Analysen:

Karchmer und Mitchell (2003, 31f.) machen darauf aufmerksam, dass sich die Bandbreite der Ergebnisse hörender SchülerInnen über den Schulverlauf (von 8 bis 15 Jahren) verringert, während sich die Werte der hörgeschädigten SchülerInnen mit zunehmendem Alter immer weiter auseinander entwickeln. Es sind nur die besseren hörgeschädigten SchülerInnen, die einen ähnlichen Zuwachs in der Lesekompetenz erreichen wie die hörenden SchülerInnen; die schwächeren hörgeschädigten SchülerInnen hingegen fallen immer weiter zurück.

96 „White non-Hispanic“ sind besser als „Black non-Hispanic“ und „Hispanic“ SchülerInnen (Holt 1993, 174).

Die Gründe hierfür liegen in der gesellschaftlichen Situation in den USA und deren Schulorganisation begründet, die sich von den hiesigen Bedingungen von Kindern mit Migrationshintergrund unterscheiden. In den USA zeigen außerdem hörgeschädigte IntegrationsschülerInnen höhere Werte als solche in Sonderschulen (Holt 1993, 173). Auch dieses Ergebnis ist nicht auf Deutschland übertragbar, weil in den USA nur knapp 25% der

hörgeschädigten SchülerInnen eine Sonderschule besuchen (Karchmer & Mitchell 2003, 23), während es hier etwa 75% sind (siehe 2.3). Von den hörgeschädigten SchülerInnen in der US-amerikanischen Sonderschule hat 60% einen Hörverlust von 90 dB und mehr (Karchmer & Mitchell 2003, 26), was ein weitaus höherer Anteil als in Deutschland ist (siehe 2.3).

In derselben Stichprobe werden die hörgeschädigten SchülerInnen bis zum Alter von 14 Jahren den vier Performance Standards der Lesekompetenz zugeordnet (Traxler 2000, 342):

Sie befinden sich konstant zu etwa 80% unterhalb des Mindeststandards („below basic“).

Weder von Karchmer und Mitchell (2003, 31f.) noch von Traxler (2000, 342) wird innerhalb der Gruppe hörgeschädigter SchülerInnen nach dem Hörstatus differenziert. Die Daten von Holt (1993, 173f.) und Holt et al. (1997, 35f.) machen dagegen deutlich, dass hörgeschädigte SchülerInnen mit einem schwächeren Hörstatus auch eine geringere Lesekompetenz im SAT erreichen. Es sind folglich insbesondere die hochgradig hörgeschädigten SchülerInnen, deren Kompetenzen im Laufe der Schulzeit immer weiter von der Altersnorm abfallen und die kaum eine Chance haben, den Mindeststandard im Lesen zu erfüllen.

Während SAT eine Reihe der unter 1.7 und 1.8 genannten Faktoren in ähnlicher Form berücksichtigt, wird dort keine Erhebung der Unterrichtsmethode vorgenommen. In den USA ist die Schulstruktur anders als hierzulande: Es besucht mit 25% ein geringerer Anteil der hörgeschädigten SchülerInnen eine Sonderschule als in Deutschland, dafür gibt es eine breitere Palette von Integrationsmodellen (Karchmer & Mitchell 2003, 23). Bezieht man alle Schulformen ein, werden 47% der SchülerInnen rein lautsprachlich, 46% mit „Lautsprache und Gebärden“97 und 6% „nur mit Gebärden“98 unterrichtet,99 während in Sonderschulen eine weitaus überwiegende Mehrheit von 74% mit „Lautsprache und Gebärden“ und zusätzlich 15% „nur mit Gebärden“ unterrichtet werden (Karchmer & Mitchell 2003, 26). Im Vergleich zur deutschen Hörgeschädigtenpädagogik (siehe 2.10) sind in den USA zwar Gebärden und Gebärdensprache üblicher, die Ergebnisse von SchülerInnen in bilingualen Programmen, die in den USA auch „bi-bi“ („bilingual-bicultural“) heißen, werden jedoch nur selten getrennt ausgewiesen: Andrews et al. (1997, 21) stellen die SAT-Ergebnisse im Leseverständnis von fünf und DeLana et al. (2007, 80) diejenigen von 25 gehörlosen SchülerInnen in einem solchen Programm vor. Die bilingualen gehörlosen SchülerInnen beider Untersuchungen zeigen sich im Durchschnitt besser als der Median gleichaltriger Hörgeschädigter.

Um über den Zusammenhang zwischen ASL100-Kompetenz und Lesekompetenz Erkenntnisse zu gewinnen, adaptiert eine Reihe von Studien Aufgaben aus dem SAT bzw. setzt bereits vorliegende SAT-Ergebnisse mit weiteren Untersuchungen derselben SchülerInnen in Beziehung: Chamberlain und Mayberry (2000, 236) bieten eine Übersicht aktueller Korrelationsstudien dieser Art, die sich teilweise des SAT und teilweise anderer

97 „Speech and sign“

98 „Sign only“

99 „Primary communication mode of instruction“

100 American Sign Language

Untersuchungsinstrumente zur Lesekompetenz bedienen und Gruppenzwischen 31 und 155 hochgradig schwerhöriger und gehörloser101 SchülerInnen einbeziehen. Zur Überprüfung der Gebärdensprachkompetenz werden verschiedene eigens entwickelte Evaluationsmethoden eingesetzt, die unterschiedliche Aspekte der Gebärdensprache, häufig narrative Elemente, erfassen. Diese Studien finden zumeist einen relevanten Zusammenhang zwischen Gebärdensprachkompetenz und Lesekompetenz und weisen damit nach, dass die Kenntnis einer Gebärdensprache der Entwicklung von Lesekompetenz nicht entgegensteht, wie klassisch häufig angenommen, sondern dass vielmehr von einem positiven Zusammenhang zwischen beiden Kompetenzen ausgegangen werden kann (Chamberlain & Mayberry 2000, 237).