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2 Rahmendaten der Hörgeschädigtenpädagogik

4.4 Methodische Reflexion

Evaluationsmethoden der Lesekompetenz, wie sie in der vorliegenden Arbeit adaptiert werden, sind für hörgeschädigte SchülerInnen und Erwachsene geeignet, weil sie zu Ergebnissen führen, die denen aus anderen Studien entsprechen. Da jedoch ein großer Anteil der hörgeschädigten SchülerInnen und Erwachsenen auf der untersten Stufe oder im nicht-messbaren Bereich verbleibt, können die Verfahren um zusätzliche Komponenten erweitert werden, damit differenziertere Aussagen möglich sind. Zu diesem Zweck werden entweder Ergebnisse aus bereits vorgenommenen Evaluationen übernommen und in Form einer Zweitverwertung mit eigenen Untersuchungsverfahren ergänzt (Padden & Ramsey 2000) oder bestehende Aufgaben und selbst entwickelte Untersuchungsinstrumente zu einer neuen Evaluationsmethode zusammengestellt (Fellner-Rzehak & Podbelsek 2002; Hoffmeister 2000, Hennies 2004).

Basierend auf den genannten Vorstudien ist das eigene Untersuchungsdesign gewählt worden:

Weil die Einbeziehung von zwei Klassenstufen die Aussagekraft der PISA-bezogenen Lesekompetenzuntersuchung im Hamburger Bilingualen Schulversuch (Hennies 2004) leicht eingeschränkt hat, werden in der vorliegenden Arbeit in zwei Teilstudien nur hörgeschädigte ViertklässlerInnen untereinander verglichen und mit hörenden SchülerInnen der gleichen Klassenstufe in Beziehung gesetzt. Als problematisch erweist sich, dass die bilingualen SchülerInnen zwar die vierte Klassenstufe besuchen, aber wegen einer gedehnten Eingangsstufe bereits im fünften Schulbesuchsjahr sind. Deswegen wird die bilinguale Klasse mit höheren Klassen der EAE-Schule verglichen, um den Effekt des zusätzlichen Schulbesuchsjahr einschätzen zu können.

Die Vorgehensweise in der Adaption der IGLU-Aufgabe ist ähnlich wie bei der PISA-bezogenen Untersuchung im Hamburger Schulversuch: Die SchülerInnen werden in Einzelinterviews evaluiert. Die Lesetexte liegen ihnen rein schriftlich vor, sie dürfen aber die Bedeutung von Wörtern erfragen. Die Aufgaben werden zunächst schriftlich vorgelegt und dann mündlich vorgetragen, wenn dies die SchülerInnen wünschen oder erkennbar wird, dass sie Verständnisschwierigkeiten haben.

Die VERA-Deutscharbeit hingegen wird im Klassenverband geschrieben, mit einem jeweils von den Schulen verantworteten Nachteilsausgleich. Durch die Einbeziehung eines auf Interviews basierenden und eines rein schriftlichen Verfahrens sowie durch den direkten Leistungsvergleich aus beiden Ansätzen in einer Teilstichprobe der Untersuchung soll eine differenzierte Einschätzung der Lesekompetenz hörgeschädigter SchülerInnen möglich und

damit die Auswirkungen aller erhobenen Einflussfaktoren innerhalb einer Betrachtung zusammenführt werden.

4.5 Zusammenfassung

Zahlreiche internationale und nationale Studien ermitteln übereinstimmend einen hohen Anteil von Hörgeschädigten und insbesondere von Gehörlosen, die keine funktionalen Kompetenzen in der Schriftsprache erreichen.

Einige internationale Untersuchungen bedienen sich eines ähnlichen Lesekompetenzmodells wie die im Folgenden adaptierten Verfahren (siehe 4.1 & 4.2), während die Analyse der Schriftsprachkompetenz hörgeschädigter SchülerInnen in Deutschland überwiegend von der Textproduktion ausgeht (siehe 4.3).

Die in der eigenen Arbeit erfassten Merkmale (siehe 1.7.) werden in den jeweiligen Studien nur zum Teil beachtet: So finden sich Hinweise, dass es zwar mit zunehmendem Alter wachsende schriftsprachliche Kompetenzen gibt, sie jedoch insbesondere bei gehörlosen SchülerInnen weniger deutlich ansteigen als bei schwerhörigen und hörenden SchülerInnen (Karchmer & Mitchell 2003, 31f.; Schäfke 2005a, 170). Wenn zusätzliche Beeinträchtigungen vorliegen, haben hörgeschädigte SchülerInnen eine schwächere Lesekompetenz (Holt 1993;

Holt et al. 1997). Gleiches gilt für hörgeschädigte SchülerInnen mit einem Migrationshintergrund (Haug & Mann 2005, 378).

Zum Einfluss der anderen unter 1.7 und 1.8 diskutierten Merkmale auf die Lesekompetenz hörgeschädigter SchülerInnen, wie z.B. des Geschlechts, des sozial-ökonomischen Hintergrunds und der Förderbiographie, sind keine ähnlich eindeutigen Vorläuferstudien zu finden.

Die zentralen Hypothesen der vorliegenden Arbeit (siehe 1.4) werden selten in einem einheitlichen Forschungsdesign untersucht: Der Zusammenhang von Hörstatus und Lese- bzw. Schriftsprachkompetenz ist in breit angelegten Studien bestätigt worden (Holt 1993;

Holt et al. 1997; Günther & Schulte 1988), die zumeist alternative Fördermethoden nicht berücksichtigen. Wie sich hingegen alternative Fördermethoden (also ein bilingualer Unterricht bzw. die Gebärdensprachkompetenz) auf die Lese- bzw. Schriftsprachkompetenz auswirken, wird überwiegend in audiologisch weitgehend homogenen, d.h. gehörlosen Vergleichsgruppen untersucht, innerhalb derer wiederum der Hörstatus kein relevanter Faktor ist (Chamberlain & Mayberry 2000, Bizer & Karl 2002).

Eine Ausnahme stellen die Arbeiten zum Hamburger Bilingualen Schulversuch dar (Günther

& Schäfke 2004; Schäfke 2005a; Hennies 2004), in denen die Kompetenz der bilingualen Klassen zu nicht-bilingualen Vergleichsgruppen mit unterschiedlichem Hörstatus in Beziehung gesetzt werden. Darauf basierend ist die Hypothese gebildet worden, dass der Hörstatus einerseits in einem überwiegend lautsprachlichen Förderumfeld die Lesekompetenz beeinflusst, andererseits in einem bilingualen Kontext dieser Einfluss weniger stark ausfällt oder nivelliert werden kann.

Für die bildungspolitische und pädagogische Planung in der Hörgeschädigtenpädagogik ist es notwendig, beide Einflussfaktoren miteinander ins Verhältnis zu setzen. Die Ergebnisse aus solchen Studien können zur Beantwortung der Frage beitragen, bei welchen Indikatoren ein bilingualer Ansatz den SchülerInnen die besten Entwicklungschancen bietet. Dies ist z.B. für die Planung innerhalb von Konzepten wie den Sprachlerngruppen in bayerischen Hörgeschädigtenschulen von Interesse, in denen die SchülerInnen aufgrund einer derartigen Abwägung verschiedenen Förderkonzepten zugeordnet werden. Hierfür stehen noch nicht genügend empirische Befunde zur Verfügung. Eine Zusammenführung der beiden beschriebenen, zumeist getrennten Forschungsperspektiven kann also auch zu praktisch nutzbaren Ergebnissen führen.

5 IGLU-Textaufgabe

Die IGLU-Studie hat im Jahr 2001 die Kompetenzen von GrundschülerInnen in 35 teilnehmenden Staaten erfasst und verglichen. Nach der internationalen Vorgabe wird die Klassenstufe einbezogen, in der sich die meisten Neunjährigen befinden, was in Deutschland der vierten Jahrgangstufe entspricht (Lankes et al. 2003, 7). IGLU erfasst im internationalen Zusammenhang Lesekompetenzen und Kontextfaktoren der SchülerInnen, die deutsche Ergänzung IGLU-E ermittelt zudem u.a. mathematische und naturwissenschaftliche Fähigkeiten (Lankes et al. 2003, 13).

In der Evaluation der Lesekompetenz kommen acht Texte zum Einsatz, wovon vier literarische Texte und vier Informationstexte sind. Zu ihnen müssen insgesamt 98 Fragen beantwortet werden, die je zur Hälfte den textimmanenten und den wissensbasierten Verstehensleistungen zugeordnet sind. 46 Fragen haben eine Multiple-Choice-Form und 52 Fragen erfordern eine freie Antwort (Bos et al. 2003, 96). Das internationale Konsortium hat vier dieser Texte samt Fragen veröffentlicht (Mullis et al. 2001, Anhang C). In der deutschen Übersetzung sind davon zwei der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden,109 die anderen beiden international veröffentlichten Beispielaufgaben sind für die vorliegende Untersuchung vom deutschen IGLU-Konsortium auf Anfrage zur Verfügung gestellt worden.110

Aus diesen vier Texten ist der literarische Text „Mäuse auf dem Kopf“ von Roald Dahl ausgewählt worden. Die Geschichte besteht aus 525 Worten und handelt von Labon, einem alten Mann, dem es mit einem Trick gelingt, Mäuse in seinem Haus zu fangen. Weil Labon von der stetig wachsenden Zahl der Mäuse verärgert ist, beschließt er, sie loszuwerden.

Zunächst klebt er einige Mausefallen an die Decke, worüber sich die Mäuse in der ersten Nacht amüsieren, weil sie Labon für dumm halten. Als Labon jedoch eine ganze Reihe von Möbelstücken an die Decke klebt, geraten sie in der zweiten Nacht in Panik, weil sie nun glauben, sich selbst an der Decke zu befinden. Um wieder richtig herum zu stehen, machen sie einen Kopfstand. Sie werden ohnmächtig und Labon kann sie einsammeln. Zum Text gehören vier Zeichnungen, die die in Panik geratenen Mäuse zeigen sowie Labon, der die Unterseite eines Stuhls mit Klebstoff bestreicht.

Die Geschichte ist ausgewählt worden, weil sie als altersgemäße Anforderung erscheint.

Mäuse und Mausefallen sind in der Populärkultur, etwa in Zeichentrickserien, so präsent, dass auch Hörgeschädigte sie kennen können. Da die Erzählung in ihrem Aufbau dem klassischen

109 Unter: http://www.ifs.uni-dortmund.de/iglu2006/ [ges. am 01.10.2007].

110 Ich danke Prof. Dr. Wilfried Bos für die Bereitstellung dieser Materialien nach einem persönlichen Gespräch am 27.01. 2005.

Geschichtenschema folgt, kann das Verständnis der SchülerInnen zusätzlich zu den IGLU-Vorgaben mit Hilfe dieser Struktur evaluiert werden. Die Pointe der Geschichte ist für hörgeschädigte SchülerInnen sprachlich komplex: Es muss verstanden werden, dass der alte Mann die Möbel „umgedreht an die Decke“ klebt und die Mäuse glauben, sie selbst hingen kopfüber, wenn sie rufen: „Stehen wir etwa an der Decke?“ und „Der Boden ist da oben!“

(IGLU 2001a).

Die Evaluation ist folgendermaßen strukturiert: Zunächst wird ein kleiner Wortschatztest mit neun Worten aus dem Text durchgeführt (siehe 5.3). Es soll nicht nur ein Eindruck der lexikalischen Kompetenzen gewonnen werden, sondern es werden auch die SchülerInnen identifiziert, die gravierende grundsätzliche Schwierigkeiten mit der Bearbeitung einer schriftlichen Aufgabe haben. Ihnen wird danach nur eine vereinfachte Version der Geschichte vorgelegt. Dieses Vorgehen ist bei drei SchülerInnen eingesetzt worden, die gleichwohl keine Ergebnisse oberhalb des Zufallswerts zeigen. Ihr Wert fließt regulär in die Berechnung ein, weil sie in der vollen Textversion nicht mehr Antworten gefunden hätten und sowieso kaum weniger Punkte hätten erreichen können.

Anschließend an die Wortschatzaufgabe wird die Kurzgeschichte von den SchülerInnen gelesen. Sie entscheiden selbst, ob sie laut, still oder mit begleitenden Gebärden lesen wollen.

Die SchülerInnen haben die Möglichkeit, ihnen unbekannte Worte zu erfragen.

Um das allgemeine Verständnis der Geschichte zu überprüfen, folgen zunächst einige Aufgaben, die sich an der Geschichtenstruktur der Erzählung orientieren. Sie werden in Laut-, Gebärdensprache oder lautsprachbegleitenden Gebärden gestellt sowie schriftlich vorgelegt.

Anschließend bekommen die SchülerInnen elf der siebzehn Fragen aus der IGLU-Untersuchung zu diesem Text in schriftlicher Form. Bei Verständnisproblemen werden sie ebenfalls in Lautsprache, DGS oder LBG präsentiert. Es wird stets darauf geachtet, dass die Kommunikationsmittel den Bedürfnissen der SchülerInnen angepasst sind.

In einem abschließenden Teil werden die SchülerInnen mit einem Fragebogen über ihre Einstellung zum Lesen und über ihre Lesegewohnheiten interviewt. Dieser Teil baut auf dem IGLU-SchülerInnenfragebogen auf (IGLU 2001b).