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2 Rahmendaten der Hörgeschädigtenpädagogik

2.10 Sprachen und Methoden

Die Methoden- bzw. Sprachenfrage ist in der Hörgeschädigtenpädagogik weiterhin zentral (siehe 1.1): Auch wenn es mittlerweile eine größere Toleranz gegenüber alternativen Ansätzen gibt, wird immer noch kontrovers diskutiert, ob Lautsprache primär oder ausschließlich im Unterricht verwendet werden soll, ob dabei Lautsprachbegleitende Gebärden oder andere visuelle Kommunikationsmittel, wie PMS oder das Fingeralphabet, eingesetzt werden dürfen oder ob ein vollständiger Einsatz der DGS in einem bilingualen Unterricht angemessen ist. Trotz dieser anhaltenden Diskussion gibt es nur relativ wenige

67 Eine Aufschlüsselung der Kosten nach Förderschwerpunkten nimmt das Statistische Bundesamt nicht vor (Auskunft von Thomas Baumann vom Statistischen Bundesamt per Email am 12.10.2005).

Informationen darüber, welche Sprachen und Methoden wirklich im Unterricht Verwendung finden.

Eine wichtige Voraussetzung für die sprachliche Förderung in der Schule besteht in den Kommunikationsformen, die die SchülerInnen mitbringen: Die klassische Position ist, dass hörende Eltern primär oder ausschließlich Lautsprache gebrauchen, wohingegen Gebärdensprache nahezu ausschließlich von hörgeschädigten Eltern verwendet wird (Leonhardt 1996, 96). Große (2003, 33f.) ermittelt, dass 2,3%68 hörgeschädigter Kinder und Jugendlicher „(gehörlose) Eltern bzw. einen (gehörlosen) Elternteil mit der Deutschen Gebärdensprache als primärem Kommunikationsmittel“ haben. Unklar ist jedoch, wieviele hörende Eltern darüber hinaus LBG oder DGS in der Erziehung ihrer Kinder einsetzen. Einen Richtwert können drei Untersuchungen zu Eltern von hörgeschädigten Kindern bieten, die zwar unterschiedliche Themen behandeln, aber denselben Fragebogen zu Hörstatus und Kommunikationsformen verwenden (Hintermair et al. 2000, 53ff.; Hintermair 2002, 82ff.;

Hintermair 2005, 89ff.). Rechnet man die Zahlen zusammen, sind die Eltern von insgesamt 793 mittelgradig schwerhörigen bis gehörlosen Kindern daran beteiligt.69 74% verwenden nur die Lautsprache und 25% kommunizieren neben der Lautsprache „mit Gebärden“. Auch wenn diese Angaben noch nichts über den Anteil und die sprachliche Qualität dieser Kommunikation aussagen (Hintermair et al. 2000, 58), zeigen sie doch, dass mit einem nicht geringen Teil der schwerhörigen und gehörlosen Kinder im häuslichen Umfeld unter anderem mit Gebärden(-sprache) kommuniziert wird. Wenn man zudem berücksichtigt, dass sich in der zusammengefassten Stichprobe ein Anteil von 32% mittelgradig schwerhörigen SchülerInnen mit einem Hörverlust unter 70dB befindet, so kann man davon ausgehen, dass bei den hochgradig schwerhörigen und gehörlosen SchülerInnen der Anteil derjenigen, mit denen auch unter Einbezug von Gebärden kommuniziert wird, größer ist. Zudem lässt sich in den drei Studien als Tendenz feststellen, dass der Anteil der SchülerInnen mit einem CI in der Gruppe der gehörlosen SchülerInnen von 28% (Datenerhebung: 1998) über 53%

(Datenerhebung: 2000) auf 73% (Datenerhebung: 2002) steigt. Außerdem steigt der Anteil der hochgradig schwerhörigen SchülerInnen mit einem CI von marginalen 3%

(Datenerhebung: 1998) auf 9% (Datenerhebungen: 2000 und 2002). Letztere waren „noch vor

68 Dieser Anteil ist realistischer als die „mystischen zehn Prozent“ („mythical ten percent“) gehörloser Kinder gehörloser Eltern, die in der US-amerikanischen Forschungsliteratur üblicherweise angenommen und auch hierzulande häufig übernommen werden: Neuere Erhebungen weisen dort ebenfalls einen niedrigeren Wert von etwa 4% gehörloser SchülerInnen mit gehörlosen Eltern aus (Mitchell & Karchmer 2004, 157).

69 Zwei der Studien sind in bayerischen Hörgeschädigtenschulen in einem Abstand von vier Jahren durchgeführt worden (Hintermair et al. 2000; Hintermair 2005), so dass ein theoretischer Doppelungseffekt bestehen könnte, indem jüngere SchülerInnen der ersten Studie als ältere SchülerInnen an der zweiten Studie teilgenommen haben, der aber nur wenige Fälle betreffen dürfte (Hintermair, persönliche Auskunft per Email am 28.11.2007).

wenigen Jahren von der Indikation für ein CI ausgeschlossen“ (Hintermair 2005, 94), mittlerweile scheint die klassische 90 dB-Schwelle als Indikator für ein CI (Lenarz 1997, 37) nicht mehr zu gelten.

Getrennt ausgewiesen ist der Anteil von Eltern gehörloser Kinder, die in der Erziehung rein lautsprachlich kommunizieren: Er steigt von 33% (Datenerhebung: 1998) über 64%

(Datenerhebung: 2000) auf 68% (Datenerhebung: 2002).70 Es zeigt sich also ein vielschichtiges Ergebnis: Offenbar verwenden mehr Eltern Gebärden(-sprache), als dies vor dem Hintergrund der Beratungs- und Förderpraxis zu erwarten ist. Diller et al. (2000, 58) weisen nach, dass 73% der Frühfördereinrichtungen einen hörgerichteten Ansatz vertreten und 13% eine „[a]ndere Orientierung“ haben, während für die restlichen Einrichtungen keine Angaben vorliegen. Es bleibt unklar, ob und für welche Fälle diejenigen Einrichtungen, die nicht als hörgerichtet eingeschätzt werden, den Einsatz von DGS oder LBG empfehlen.

Außerhalb von Modellprojekten (siehe 2.1) sind keine Beispiele der Nutzung von Gebärden in der Frühförderung dokumentiert, weshalb Eltern diese wohl nur sehr selten empfohlen, vielmehr meistens davon abgeraten wird. Folglich werden die Eltern auch im Erlernen der Gebärdensprache nicht unterstützt und müssen sich ihre Sprachkurse selbst organisieren.

Allerdings führt eine Zunahme von Cochlea-Implantationen offensichtlich dazu, dass der Anteil von Eltern, die hierzu bereit sind, zunehmend sinkt. Dies kann jedoch gravierende Folgen für die sprachliche, kognitive und emotionale Entwicklung der SchülerInnen haben, die zu den etwa 50% der implantierten Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen gehören (siehe 2.1). Solchen Kindern werden zunehmend weniger alternative Kommunikationsmittel angeboten.

Für den schulischen Kontext gibt es Angaben zu 1016 Klassen an Hörgeschädigtenschulen (Große 2003, 48), womit laut Statistischem Bundesamt (2001a) etwa 75%

dieser Klassen erfasst werden:

SchulleiterInnen oder LehrerInnen ordnen dabei nach einem vorgegebenen System ihre Klassen

bezüglich der Sprachen und Kommunikationssysteme ein (Abb. 11): Ein „hörgerichteter

70 Bei einem Anteil hörgeschädigter Eltern von 9% in der ersten und zweiten Erhebung, jedoch nur etwa 5% in der dritten Erhebung, was einen leichten, aber keinen entscheidenden Einfluss auf die sinkenden Zahlen zur Gebärdennutzung haben kann.

Lautspracherwerb“ steht in über 40% der Klassen im Mittelpunkt, knapp 25% verfolgen einen

„hörgerichtete[n] Lautspracherwerb“ mit Unterstützung „manuelle[r] Kommunikationsmittel“

(vermutlich dem Fingeralphabet, PMS und LUG), knapp 22% stellen den „Lautspracherwerb“

in den Mittelpunkt und verwenden „manuelle Kommunikationsmittel“ (vermutlich LBG), knapp 8% werden einem Ansatz der „Totale[n] Kommunikation“ zugeordnet (d.h. DGS, LBG, Lautsprache) und in knapp 2% der Klassen kommt eine bilinguale Förderung zum Einsatz.

Diese Werte können auf zwei verschiedene Arten gelesen werden: Zum einen wird in 90%

der Klassen der Lautspracherwerb zur Priorität erklärt, zum anderen werden in 60% der Klassen manuelle Kommunikationsmittel hinzugezogen (d.h. Fingeralphabet, PMS, LUG bis hin zu LBG, DGS und einem bilingualen Ansatz). Es scheinen also zwei bisher als gegensätzlich verortete Positionen des Lautspracherwerbs und des Einsatzes manueller Kommunikationsmittel in der Schulrealität weithin parallel zu existieren. Zugleich entsteht der Eindruck einer gewissen methodischen Orientierungslosigkeit, da so viele Klassen dem Begriff „hörgerichteter Lautspracherwerb + manuelle Kommunikationsmittel“ zugeordnet werden. Dieser widerspricht der grundsätzlichen Idee der hörgerichteten (auch „auralen“ oder

„auditiv-verbalen“) Erziehung, in der „Sprache auf natürlichem, also imitativem Weg über das Gehör“ (Leonhardt 1999, 80) erlernt werden soll und in der keine manuellen Kommunikationsmittel eingesetzt werden (Diller 2000, 29). Es ist zudem unklar, welche Unterrichtskonzepte in den Klassen der Kategorie der „Totale[n] Kommunikation“ tatsächlich Verwendung finden. „Total Communication“ (TC) ist ein angelsächsischer Ansatz, den es in den USA seit den 1970er Jahren gibt und bei dem theoretisch sämtliche Kommunikationssysteme eingesetzt, in der Praxis jedoch eher lautsprachbegleitende Gebärdensysteme verwendet werden (Moores 1999, 3). „Total Communication“ ist immer noch in Gebrauch, kann jedoch zugleich als Vorläufer bilingualer Modelle in den USA gesehen werden. Dieser Vorgang ist vergleichbar mit der Verwendung von LBG in der deutschen Hörgeschädigtenpädagogik seit den 1980er Jahren (Braun et al. 1982).

Die Antworten aus den hiesigen Hörgeschädigtenschulen deuten darauf hin, dass es zwischen einem tatsächlich hörgerichteten Unterricht und einem bilingualen Konzept eine Reihe von Unterrichtsformen mit abgestuftem Einsatz von Gebärden gibt, für die es weder eine angemessene Beschreibung, noch empirische Untersuchungen und wahrscheinlich vielfach auch keine ausgestalteten konzeptionellen Grundlagen gibt.

Bilingual wird nur eine deutliche Minderheit der Klassen gefördert: Große (2003, 53) ermittelt sieben Schulen mit Klassen nach dem „Zwei-LehrerInnen-Modell“ von gehörloser

und hörender Lehrkraft und fünf Schulen mit bilingualen Klassen ohne gehörlose LehrerInnen. Der Anteil bilingualer Klassen hat sich wahrscheinlich seit dieser Umfrage im Jahr 2000 erhöht. Nicht nur der in der vorliegenden Arbeit berücksichtigte Berliner Bilinguale Schulversuch ist später eingerichtet worden, sondern es berichten auch verschiedene AutorInnen von anderen neu eingerichteten bilingualen Klassen.71 In dem bayerischen Konzept für Hörgeschädigtenschulen werden die hörgeschädigten SchülerInnen einer von fünf verschiedenen Sprachlerngruppen zugeordnet, innerhalb derer in abgestuftem Maße manuelle Kommunikationsmittel eingesetzt werden (ISB 2005, 7) und von denen die Sprachlerngruppe IV explizit als bilingual im Sinne der Schulversuche konzipiert ist (ISB 2005, 32).

Man kann die Verteilung der Unterrichtskommunikation bei Große (2003) mit der oben aufbereiteten Verteilung des Hörstatus aus der gleichen Untersuchung in Beziehung setzen (siehe 2.4). Dabei muss man berücksichtigen, dass sich beide Angaben nicht auf eine identische Population in der Studie beziehen, da die genaue Verteilung des Hörstatus der SchülerInnen nicht getrennt ausgewiesen, sondern nur eine Gesamtverteilung in allen Bildungseinrichtungen für Hörgeschädigte aufgezeigt wird. Es scheint aber so zu sein, dass auch schwerhörige SchülerInnen in einem deutlichen Ausmaße mit manuellen Kommunikationsmitteln unterrichtet werden.

Dagegen kann man davon ausgehen, dass hörgeschädigte IntegrationsschülerInnen fast ausschließlich in einem lautsprachlichen Förderumfeld lernen. Für den Einbezug von DGS oder LBG in ihren Unterricht gibt es nur wenige, zumeist anekdotische Beispiele und insbesondere die Einbindung von DGS-DolmetscherInnen in den Integrationsunterricht ist bisher hierzulande nur für ein Modellprojekt (Latuske 2004) und einen Einzelfall (Appelbaum 2008) beschrieben worden. In Österreich hat sich das Beispiel von Integrationsklassen an Regelschulen, in denen hörgeschädigte SchülerInnen bilingual mit ÖGS72 und Deutsch gefördert werden und dabei mit Hörenden in einer Klasse gefördert werden, als erfolgreich erwiesen (Krausneker 2004; Kramreiter 2008).

71 Kramp (2004) schildert das Beispiel eines Zwei-LehrerInnen-Modells mit zwei hörenden Lehrkräften, die jeweils eine der Sprachen repräsentieren, Bohl (2006) sowie Ross (2006) zeigen Beispiele des bilingualen Unterrichts von einer Lehrerin, die die beiden Sprachen kontrastiv vermittelt, und auf der Begleit-DVD zu ISB (2005) werden eine Reihe von bilingualen Klassen in Bayern gezeigt, die von gehörloser und hörender Lehrkraft gemeinsam unterrichtet werden.

72 Österreichische Gebärdensprache