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In der Sonderpädagogik gibt es eine Reihe von konkurrierenden Bezeichnungen für weitgehend synonyme Begriffe, so dass eine terminologische Einordnung am Anfang einer Studie fast unumgänglich scheint: Bereits das pädagogische Fach wird je nach traditioneller Ausrichtung und historischem Hintergrund als Behindertenpädagogik, Förderpädagogik, Heilpädagogik oder Rehabilitationspädagogik bezeichnet, ohne dass sich daraus zwangsläufig Unterschiede in der tatsächlichen pädagogischen oder wissenschaftlichen Orientierung ergeben. Eine ähnliche begriffliche Vielfalt ist in dem Teilgebiet der Hörgeschädigtenpädagogik zu finden, das in der vorliegenden Arbeit behandelt wird. Dies liegt auch daran, dass Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit aus einer Reihe von unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden können, wie z.B. einer sprachlichen, kulturellen oder medizinischen, und dementsprechend von einer „Vielzahl von Fachdisziplinen“ beschrieben werden (Wisotzki 1994, 48). Dadurch variieren die Definitionen und der Personenkreis, auf den diese sich beziehen. Wie weiter unten ausgeführt wird, orientiert sich die vorliegende Arbeit an der aktuell diskutierten Form der Bildungsberichterstattung (Avenarius et al. 2003a; 2003b). Deshalb bezieht sie sich auch auf die offizielle Terminologie der KMK,1 in der von SchülerInnen mit Förderschwerpunkt

„Hören“ (KMK 1996) gesprochen wird. SchülerInnen mit einem anerkannten Förderschwerpunkt „Hören“ werden in Deutschland zumeist in Sonderschulen unterrichtet und nicht in der Integration.2 Allerdings gibt es mit Sicherheit eine größere Anzahl von hörgeschädigten SchülerInnen in Regelschulen, die nicht sonderpädagogisch betreut werden und deshalb auch nicht in Statistiken auftauchen (siehe 2.1). Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit stehen deswegen SchülerInnen in Hörgeschädigtenschulen.

In dem zentralen Beschluss der KMK (1996, 3) werden SchülerInnen mit einem Förderschwerpunkt „Hören“ als diejenigen mit einer „Hörschädigung oder Beeinträchtigung der auditiven Wahrnehmung“ bestimmt. In Anlehnung daran wird im Folgenden der

1 Kultusministerkonferenz der Länder

2 Für hörgeschädigte SchülerInnen „im gemeinsamen Unterricht“ (KMK 1996, 19) wird im Folgenden der Begriff „Integration“ verwendet, weil für diese SchülerInnen die Bedingungen der „Inklusion“, etwa ein „Leben und Lernen (...) in der allgemeinen Schule“ mit einem „[u]mfassende[n] System für alle“ im Rahmen einer

„Synthese von (veränderter) Schul- und Sonderpädagogik“ (Hinz 2002, 359), nicht notwendigerweise als gegeben angesehen werden können.

Ausdruck „Hörschädigung“3 verwendet, der Gehörlosigkeit, Schwerhörigkeit und auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS)4 als Schädigungen des peripheren Hörvermögens oder der zentralen Hörverarbeitung umfasst. Das Kriterium der „Schädigung“

(„impairment“) findet sich auch in den zentralen Definitionen der WHO5 für den Bereich der Behindertenpolitik wieder, sowohl in der ICIDH6 von 1980 als auch in der neueren ICF7 von 2001, wobei die Folgen der Schädigung jeweils unterschiedlich gefasst werden.8 Während eine Hörschädigung noch vergleichsweise sicher und unkontrovers definiert werden kann, wird darüber diskutiert, wie ihr „Einfluss auf die Aktivitäten und die Partizipation der Betroffenen“ (Große 2001, 13) gefasst werden soll: Die Bandbreite verläuft von dem vielfach verwendeten Oberbegriff „Hörbehinderung“ (Große 2001, 13) bis hin zu anderen Bezeichnungen, die sich stärker von dem physiologischen Vorgang des Hörens abgrenzen und kommunikative Aspekte betonen, wie etwa „Kommunikationsbehinderung“ (Audeoud &

Lienhard 2006, 17). Viele hörgeschädigte Kinder und Jugendliche zeigen auch eine Behinderung ihrer sprachlichen Entwicklung, die nicht nur als im eingeschränkten Hören veranlagte, d.h. „[a]udiogene“ Sprachentwicklungsstörung (Luchsinger & Arnold 1970, 559ff.) betrachtet werden sollte, sondern zu der auch eine Reihe von individuellen Faktoren und institutionellen Bedingungen beitragen, die nicht in dem Hörschaden des Kindes begründet liegen.

Die Struktur des ersten nationalen Bildungsberichts (Avenarius et al. 2003a) ist insofern als Vorlage für die eigene Arbeit gewählt worden, als sie von den allgemeinen und statistischen Daten der Hörgeschädigtenpädagogik ausgehend zu den evaluierten Kompetenzen der SchülerInnen überleitet. Eine Analyse der Rahmenbedingungen ist deswegen notwendig, weil es zwar einführende Werke zur Hörgeschädigtenpädagogik gibt (Wisotzki 1994; Leonhardt 1999; Günther & Renzelberg 2003), aber keinen umfassenden Datenreport, auf den sich eine Studie beziehen könnte. Dies liegt auch daran, dass es in der Hörgeschädigtenpädagogik nur

3 Plath (1995, 109f.) grenzt den Begriff des „Hörschaden[s]” von dem der „Hörschädigung“ ab, weil letzterer

„ein Ereignis, das (...) zu einem Hörschaden führt“ sei, ein Ereignis, das aber „oft (...) nicht bekannt“ sei. In der vorliegenden Arbeit werden veranlagte und erworbene Hörschäden unter dem Sammelbegriff

„Hörschädigungen“ gefasst. Als Gegenbegriff dazu wird „hörend“ verwendet.

4 Auch: Zentral auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (ZAVWS), zentrale Hörstörung, zentrale Hörbehinderung etc. Die gewählte Terminologie „AVWS“ folgt Kühn-Inacker (2002). Der Hörstatus dieser SchülerInnen wird in der vorliegenden Arbeit mit dem Begriff „dysauditiv“ beschrieben (siehe 2.4).

5 World Health Organisation

6 International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (Lindmeier 2005, 21)

7 International Classification of Functioning, Disability and Health (DIMDI 2005)

8 Bei ICIDH steht ein „Krankheitsfolgemodell“ von Schädigung („impairment“), Fähigkeitsstörung („disability“) und sozialer Beeinträchtigung („handicap“) im Mittelpunkt (Lindmeier 2005, 4), während es sich bei ICF um ein

„bio-psycho-soziale[s] Modell“ (Lindmeier 2005, 8) handelt, bei dem die Situation der Betroffenen als ein Resultat interagierender persönlicher und kontextueller Faktoren beschrieben wird, die sowohl einen positiven als auch einen negativen Aspekt darstellen können. „Schädigung“ als negativer Aspekt der „Körperfunktionen und –strukturen“ bleibt dabei von zentraler Bedeutung (DIMDI 2005, 17).

eine schmale Tradition der Bildungsevaluation gibt (siehe 1.2). Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Lesekompetenz hörgeschädigter SchülerInnen. In dieser Hinsicht unterscheidet sie sich von einem Bildungsbericht, der solche Studien nur sekundär verarbeitet, aber nicht primär erhebt. In ihrer wissenschaftlichen Konzeption bezieht sich die Arbeit jedoch auf die aktuellen Methoden der Lernstandserhebungen, die in den Prozess der Bildungsberichterstattung einfließen. Damit bleibt sie innerhalb des gewählten Referenzrahmens.

Die Argumentation ist, wie auch für einen Bildungsbericht vorgesehen, „problemorientiert, im wesentlichen an Informationen ausgerichtet und analytisch, damit die intendierten und nicht intendierten Folgen sozialen Handelns im Bildungsbereich sichtbar werden“ (Avenarius et al. 2003b, 83). Die Situation der hörgeschädigten SchülerInnen wird nämlich nicht nur von audiologischen und anderen individuellen Voraussetzungen, wie etwa familiären Bedingungen, sondern auch von dem schulischen und vorschulischen Sprach- und Förderangebot beeinflusst. Das Ziel empirischer Studien in der Hörgeschädigtenpädagogik sollte darin bestehen herauszufinden, wie diese Faktoren interagieren und wie sie sich auf die Situation hörgeschädigter SchülerInnen auswirken. Deshalb wird in der vorliegenden Arbeit, auch um eine Terminologie zu verwenden, die die Gewichtung einzelner Faktoren nicht vorwegnimmt, von der „Hörschädigung“ als der Ausgangssituation der Betroffenen gesprochen.

Ein zentraler und anhaltender Konflikt innerhalb der Hörgeschädigtenpädagogik betrifft die Frage der sprachlichen Förderung. Diese Auseinandersetzung wird klassisch unter dem Begriff „Methodenstreit“ zusammengefasst und zumeist auf das „Problem Gebärdensprache-Lautsprache“ (Schott 1995, 79) bezogen. Eine andere Lesart dieses Konfliktes ist jedoch, dass es nicht um die Konkurrenz zwischen verschiedenen Kommunikationssystemen, sondern um einen Streit über das Primat der Lautsprache in der schulischen Förderung geht (Hennies 2004, 8). Die deutsche Hörgeschädigtenpädagogik ist nämlich von einer Tradition geprägt, in der kompensatorische Möglichkeiten, sei es die Vermittlung der Gebärdensprache oder eine eigenständige Nutzung der Schriftsprache, weitgehend ausgegrenzt werden und in der sich fast ausschließlich auf die Lautsprache in der Sprachanbahnung gehörloser und schwerhöriger SchülerInnen konzentriert worden ist. Klassisch ist eine solche Konzeption als „orale Methode“ bezeichnet worden; nach dem Einbezug von neueren Hörgeräten oder des Cochlea-Implantats (CI) wird eher von „auralen“ oder „hörgerichteten Ansätzen“ gesprochen. Die Nutzung einzelner Gebärden oder der vollständigen Gebärdensprache und damit einhergehend der Einsatz von hörgeschädigten LehrerInnen, die bereits Ende des 18. und Anfang des 19.

Jahrhunderts in deutschen Taubstummenanstalten selbstverständlich gewesen sind, finden erst seit Mitte der 1980er Jahre langsam wieder Eingang in die Hörgeschädigtenpädagogik (Günther et al. i.D.). Vor diesem Hintergrund ist eine differenzierte Gewichtung der individuellen Voraussetzungen und der institutionellen Bedingungen in der Kompetenz-Evaluation hörgeschädigter SchülerInnen notwendig, um über den Erfolg von Förderbemühungen im Zusammenhang empirischer Befunde und nicht auf Grundlage eines historisch gewachsenen Konflikts zu diskutieren. In dieser Hinsicht kann sich eine solche Forschung ebenfalls die Konzeption des Bildungsberichts zum Vorbild nehmen, der „nicht primär an Bilanzierung und schon gar nicht an be- und verurteilender Abrechnung interessiert“ ist, sondern „alternative Möglichkeiten des Handelns sichtbar“ machen will (Avenarius et al. 2003b, 83).