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2 Rahmendaten der Hörgeschädigtenpädagogik

4.2 IALS-basierte Untersuchungen

Untersuchungen zur Lesekompetenz Hörgeschädigter, die eine der unter 3.4 vorgestellten Bildungsstudien adaptieren, sind selten. Insbesondere lässt sich auf zwei Studien verweisen, die in Kanada und Österreich die Lesekompetenz gehörloser Erwachsener mit Aufgaben aus IALS erfassen (Ministry of Education 1998; Fellner-Rzehak & Podbelsek 2002). IALS nimmt mit ähnlichen Aufgaben wie PISA und IGLU einen internationalen Vergleich der Lesekompetenzen Erwachsener vor (Murray et al. 1998).

Gestützt auf IALS erhebt das Bildungsministerium in Ontario die Lesekompetenz von 529 gehörlosen und schwerhörigen Erwachsenen, von denen 56, d.h. 11% der ursprünglichen Gesamtstichprobe, nicht genügend Fragen beantworten, um ihre Lesekompetenz einzuordnen (Ministry of Education 1998, 46). Die Tabelle in Abb. 19 führt auf, welche Kompetenzstufe die übrigen 473 Gehörlosen und Schwerhörigen erreichen und wie im Vergleich dazu die Gesamtbevölkerung in Ontario in der ursprünglichen IALS-Studie abschneidet (Ministry of Education 1998, 28).

Der Bereich unterhalb der Stufe 3 wird als „low literacy“ definiert (Ministry of Education 1998, 27), womit er als Äquivalent eines Mindeststandards gesehen werden kann. Die Stufen 1 und 2 definieren vor allem die Kompetenz, einzelne Informationen aus Texten zu ermitteln (Murray et al. 1998, 133). Mehr als die Hälfte der hörgeschädigten Erwachsenen gehören zu

101 In den Korrelationsstudien sind die Angaben zum Hörverlust und zu dessen Einteilung häufig nicht besonders detailliert: Hoffmeister (2000, 155) untersucht 50 SchülerInnen mit einem Hörverlust von mehr als 70dB, zu denen der aussagelose Wert eines durchschnittlichen Hörverlusts (von etwa 100dB) angegeben wird, Padden und Ramsey (2000, 168ff.) geben zum Hörverlust der 31 gehörlosen Kinder ihrer

ASL-Lesekompetenz-Korrelationsstudie keine genaueren Angaben und Strong und Prinz (2000, 134) begrenzen ihre Stichprobe auf 155 SchülerInnen, die in der Aufblähkurve („aided hearing level“) einen Hörverlust von 71dB oder mehr zeigen.

diesen Kategorien, Hörende dagegen nur zu 38%. In der Gruppe mit einem absoluten Hörproblem bleiben 71% unter der Stufe 3 (Ministry of Education 1998, 28). Auf der anderen Seite des Kompetenzspektrums erreicht nur eine sehr kleine Minderheit von 5% der hörgeschädigten Erwachsenen den höchsten Bereich der Stufen 4/5, zu dem im Vergleich 30% der hörenden Gesamtbevölkerung gerechnet werden (Ministry of Education 1998, 28).

Stufe 1 Stufe 2 Stufe 3 Stufen 4/5

Teilweise Schwierigkeiten, eine Gruppe zu hören102 15% 17% 58% 10%

Zusätzlich teilweise Schwierigkeiten, eine Einzelperson zu hören 24% 33% 40% 3%

Unfähig, eine Gruppe oder eine Einzelperson zu hören 40% 31% 27% 2%

Alle Gehörlosen und Schwerhörigen 25% 27% 43% 5%

Gesamtbevölkerung Ontarios 17% 21% 32% 30%

Abb. 19: Lesekompetenz erwachsener Hörgeschädigter in Ontario (nach: Ministry of Education 1998, 28)

In der Kategorie derjenigen mit subjektiv größeren Hörproblemen befinden sich die hochgradig Schwerhörigen und Gehörlosen, die nur über geringe lautsprachliche Kompetenzen verfügen. Ihre Lesekompetenz erweist sich insgesamt als sehr schwach: 40%

von ihnen erreichen nur die unterste Stufe 1, nur 2% hingegen die höchsten Stufen 4/5. Es wird also deutlich, dass auch in dieser Stichprobe diejenigen mit einem stark begrenzten Zugang zur lautsprachlichen Kommunikation nur sehr eingeschränkte Lesekompetenzen erworben haben. Die meisten Hörgeschädigten in der Studie haben jedoch keine Alternative zur lautsprachlichen Kommunikation: Nur 11% aller Hörgeschädigten und 15% der Gruppe in der Kategorie des schwächsten Hörens verwenden die Gebärdensprache (Ministry of Education 1998, 60).

In einer Adaption dieser Studie führen Fellner-Rzehak und Podbelsek (2002, 155ff.) eine Untersuchung mit 50 österreichischen ProbandInnen durch und verwenden dafür sechs Aufgaben aus IALS. Obwohl diese zur niedrigsten Kompetenzstufe 1 gehören, liegt die Lösungswahrscheinlichkeit jeweils nur zwischen 24% und 54% (Fellner-Rzehak & Podbelsek 2002, 197). Selbst die einfachste Aufgabe, in der ein einzelner Wert in einem Schaubild gefunden werden muss (Fellner-Rzehak & Podbelsek 2002, 116), wird nur von einer guten Hälfte der hörgeschädigten Erwachsenen richtig beantwortet. Eine große Gruppe von 38%

102 Die Gehörlosen und Schwerhörigen werden danach eingeteilt, ob sie folgende Schwierigkeiten haben:

„Partial difficulty hearing a group“, „Also partial difficulty hearing a person“ und „Unable to hear a group or a person“. Die Einstufung des Hörverlustes folgt der subjektiven Einschätzung der Betroffenen.

kann keine der sechs Aufgaben lösen, 32% lösen eine oder mehrere Aufgaben und 30%

können alle sechs Aufgaben lösen (Fellner-Rzehak & Podbelsek 2002, 203).

Nach der Kommunikation in der Schulzeit gefragt, gibt eine große Mehrheit an, ihre LehrerInnen hätten ausschließlich oder hauptsächlich Lautsprache verwendet (Fellner-Rzehak

& Podbelsek 2002, 189f.), und 80% der Befragten stimmen der Aussage zu, sie „hätte[n]

gerne mehr Gebärdensprache gelernt“ (Fellner-Rzehak & Podbelsek 2002, 190f.). Daraus ist zu entnehmen, dass diesen hörgeschädigten Erwachsenen in ihrem Leben zumeist kein institutionelles Angebot zum Erwerb einer funktionalen Zweisprachigkeit eröffnet worden ist.103

Da an der Studie überwiegend Gehörlose beteiligt werden (Fellner-Rzehak & Podbelsek (2002, 169), findet sich kein Zusammenhang zwischen dem Grad des Hörverlusts und der Lesekompetenz (Fellner-Rzehak & Podbelsek 2002, 207). Außerdem bedient sich die Studie für dieses Merkmal des versorgungsrechtlich relevanten Hörverlusts in Prozent, der den Hörverlust auf beiden Ohren berücksichtigt (Fellner-Rzehak & Podbelsek 2002, 20f.). Diese Angabe ist weniger transparent als eine ton- oder sprachaudiometrische Einschätzung anhand des besseren Ohres und deswegen auch weniger geeignet für eine Korrelationsstudie.

Zusammenfassend verweisen beide Studien, die hörgeschädigte Erwachsene mit Aufgaben aus IALS untersuchen, auf eine massive Einschränkung der Lesekompetenz dieser Gruppe.

Die kanadischen Daten legen zudem einen Zusammenhang zwischen Hörstatus und Lesekompetenz nahe. Auch wenn sich die Untersuchungen nicht auf dieselben Regionen beziehen, bestätigen die Werte der hörgeschädigten Erwachsenen die Ergebnisse hörgeschädigter SchülerInnen aus dem SAT (siehe 4.1) und vermitteln einen Eindruck davon, mit welchen eingeschränkten Lesekompetenzen sie ihr Leben meistern müssen.

103 Der Anteil derjenigen, die angeben, dass ihre LehrerInnen in der Schule hauptsächlich Gebärdensprache verwendet hätten, ist in dieser Studie in den höheren Altersklassen (insbesondere über 59 Jahren) etwas stärker und bei den Jüngeren (unter 30 Jahren) kaum vertreten (Fellner-Rzehak & Podbelsek 2002, 189f.). Es scheint also einen Rückgang des gebärdensprachlichen Angebots gegeben zu haben. Für einen Vergleich der

Auswirkung des gebärdensprachlichen Angebots auf die Leseleistung ist die Studie jedoch nicht geeignet, weil die älteren TeilnehmerInnen nicht mit den jüngeren auf dieser Basis verglichen werden können, da der Abstand zur Schulzeit, die allgemeinen Umstände des Unterrichts und die Leistungsfähigkeit zwischen den Altersgruppen zu unterschiedlich sind und über die Qualität des gebärdensprachlichen Angebots nicht geurteilt werden kann:

Die Älteren zeigen in einem solchen altersübergreifenden Vergleich erwartungsgemäß schwächere Lesekompetenzen als die Jüngeren (Fellner-Rzehak & Podbelsek 2002, 203).