• Keine Ergebnisse gefunden

Diskursstrukturelles Verständnis des Textes

2 Rahmendaten der Hörgeschädigtenpädagogik

5.4 Diskursstrukturelles Verständnis des Textes

Nachdem die SchülerInnen den Text gelesen haben, werden ihnen Fragen zur Geschichte gestellt, die ihr allgemeines Verständnis messen sollen. Als Richtlinie ist das Geschichtenstruktur-Schema von Labov und Waletzky gewählt worden (Labov & Waletzky 1967; Labov 1980). Um vollständig zu sein, hat eine Erzählung danach folgende Bestandteile:

- Orientierung: Sie kennzeichnet „den Zeitpunkt, den Ort und die Personen, ihre Aktivität oder die Situation“ (Labov 1980, 297).115

- Handlungskomplikation: Sie enthält eine Reihe von Ereignissen, die sich gegenüber der Orientierung abheben (Labov & Waletzky 1967, 32).

115 Labov (1980, 296f.) erweitert das Modell um den Bestandteil des einleitenden, wenige Sätze umfassenden

„Abstrakt[s]“, der jedoch für eine Überprüfung rezeptiver Fähigkeiten nicht entscheidend ist, und deswegen in diesem Zusammenhang nicht weiter berücksichtigt wird.

- Evaluation: Die „[e]valuative[n] Merkmale teilen (...) mit: (...) dies ist es wert, erzählt zu werden. Es war nicht gewöhnlich, einfach, langweilig oder alltäglich“ (Labov 1980, 303). In der Evaluation wird „die Pointe einer Erzählung vermittelt“ (Labov 1980, 303). Von ihrer Erzählwürdigkeit hängt der erzählerische Wert der Geschichte ab

- Resultat: Das Resultat schließt den notwendigen Verlauf einer vollständigen Erzählung ab;

es beinhaltet die „Beendigung [der ihr vorausgehenden; J.H.] Reihe von Ereignissen“ (Labov 1980, 296).

- Koda: Sie ist kein obligatorischer Bestandteil einer vollständigen Erzählung; wenn es sie gibt, besteht sie aus wenigen Sätzen am Ende, die anzeigen, dass die Erzählung abgeschlossen ist (Labov & Waletzky 1967, 39).

Wenn man die Geschichte „Mäuse auf dem Kopf“ nach diesem Schema analysiert, lassen sich verschiedene Fragen entwickeln, die die einzelnen Merkmale erfassen. Das Augenmerk liegt auf der Orientierung, der Handlungskomplikation und der Evaluation, während das Verständnis des Resultats nicht eigens abgefragt wird, weil es stark davon abhängt, ob die Evaluation richtig interpretiert wird und deswegen in der Rezeption keine entscheidende eigene Kategorie darzustellen scheint.

Die Kenntnis der Hauptpersonen und des Ortes, an dem die Geschichte spielt, dient als basales Merkmal der Orientierung. Dementsprechend lauten die ersten beiden Fragen: „A) Wer kommt in der Geschichte vor?“ und „B) Wo spielt die Geschichte?“. Vor allem die erste Frage wird für die SchülerInnen dadurch vereinfacht, dass die Geschichte mit Zeichnungen der Hauptperson bebildert ist. Zeigen die SchülerInnen nur auf die Bilder, werden sie aufgefordert zu sagen, um wen es sich handelt. Wird nur einer der Protagonisten genannt, ermöglicht die Anschlussfrage „Wer noch?“, die Antwort zu komplettieren. Unter diesen Bedingungen können knapp 90% der SchülerInnen eine richtige Antwort der Art „Mann“,

„Opa“, „Labon“ und „Mäuse“ geben, immerhin aber können sechs SchülerInnen nur einen oder keinen Protagonisten nennen. Bei der Frage nach dem Ort reduziert sich die Anzahl derjenigen, die hierauf eine richtige Antwort geben auf 43% (n=21), z.B. in der Form: „im Haus“, „drinnen“ oder „in seiner Wohnung“. Bereits bei Merkmalen der Orientierung zeigt sich somit ein deutliches Verständnisproblem, wenn die visuelle Unterstützung recht eindeutiger Bilder nicht mehr zur Verfügung steht.

Desweiteren werden den SchülerInnen Fragen zur Handlungskomplikation und Evaluation der Geschichte vorgelegt: „C) Was passiert/geschieht in der Geschichte?“, „D) Was macht der Mann (Labon)?“ und „E) Was machen die Mäuse?“. Erleichtert werden die beiden letzten Fragen dadurch, dass begleitend auf die Bilder zum Text gezeigt wird, sollten die SchülerInnen nicht wissen, um wen es sich handelt. Bietet es sich an, wird die Reihenfolge dieser drei Fragen untereinander vertauscht. So beginnen manche SchülerInnen bei der Aufzählung der Protagonisten bereits, etwas zu ihnen zu erzählen. Um ihren Gedankengang nicht zu unterbrechen, wird in dieser Situation mit den Fragen D) und E) fortgefahren und C) eventuell nachgeschoben. Motivierende Nachfragen, etwa „und dann?“, „warum macht er das?“ oder „wie genau?“ werden ebenfalls an die SchülerInnen gerichtet, bis der Interviewer den Eindruck hat, dass die SchülerInnen ihr gesamtes Verständnis mitgeteilt haben.

In der Analyse wird der Konflikt zwischen Labon und den Mäusen als zentral für die Handlungskomplikation begriffen, nämlich dass Labon die Mäuse loswerden möchte, weil sie zu viele geworden sind. 39% der SchülerInnen (n=19) beschreiben im weitesten Sinne den Konflikt zwischen Labon und den Mäusen. Drei der sieben SchülerInnen, die die Pointe der Geschichte verstehen, nennen diesen Konflikt nicht in ihrer Nacherzählung. Vermutlich wird ihre Aufmerksamkeit zu sehr von der Wiedergabe des evaluativen Aspektes der Geschichte in Anspruch genommen.

Als zentrales Merkmal der Evaluation wird überprüft, ob die SchülerInnen verstehen, dass Labon Mausefallen und Möbel an der Decke aufhängt und die Mäuse deswegen glauben, anstatt auf dem Fußboden auf der Decke zu stehen. Dafür werden sämtliche Kommentare der SchülerInnen während des gesamten Interviews zur Hilfe genommen. Wenn sie irgendwann diesen Zusammenhang nennen, wird dieses Merkmal als richtig gewertet. 18% der SchülerInnen (n=9) können beschreiben, dass Labon die Möbel an die Decke hängt, begreifen jedoch den Sinn dieser Handlung nicht. Sie verstehen also die Evaluation nur im Ansatz. 14%

der SchülerInnen (n=7) hingegen begreifen die Pointe der Geschichte und damit die Evaluation vollständig. In dieser Gruppe wird bis auf zwei Ausnahmen auch das Resultat der Geschichte zutreffend damit beschrieben, dass Labon die Mäuse nun einsammeln und wegbringen kann.

Neben Merkmalen der Geschichtenstruktur werden SchülerInnen nach dem Sinn des Autorenvermerks „von Roald Dahl“ befragt, der sich direkt unter der Überschrift befindet und auf den auch gezeigt wird: „F) Wer ist „Roald Dahl“?“. Schließlich sollen sie auch die Bedeutung der Überschrift erläutern, wiederum mit Verweis auf die Textstelle: „G) Was bedeutet: ‚Mäuse auf dem Kopf’?“ Nur 45% der SchülerInnen (n=22) können Roald Dahl als

„Schriftsteller“ identifizieren oder seine Tätigkeit angemessen umschreiben. Die übrigen vermuten größtenteils, es handele sich um den Mann oder eine Maus aus der Geschichte.

Dieser Wert zeigt, dass viele SchülerInnen nicht nur an der sprachlichen Komplexität der Geschichte scheitern, sondern ihnen grundlegendes Wissen zur Struktur von Texten fehlt, weil sie nicht einmal einen Autorenvermerk erkennen. 33% (n=16) können erklären, die Überschrift bedeute, dass die Mäuse einen Kopfstand machen. Interessanterweise führt nur Simon, ein Schüler aus der bilingualen Klasse, expliziert aus, dass es sich dabei um die

„Überschrift“ handele, die einem den Inhalt der Geschichte vermittele. Da er sie dann jedoch inhaltlich falsch erklärt, wird seine Antwort nicht als richtig gezählt.

Wenn man jedes Merkmal mit einem Punkt wertet,116 ergibt sich eine Korrelation mit dem Ergebnis in den aus IGLU entnommenen Fragen (siehe 5.4) von r=0.68. Damit erweist sich ein relevanter Zusammenhang zwischen diesen zusätzlichen Fragen und der Evaluationsform in der IGLU-Studie.

Abb. 26: Geschichtenstrukturverständnis nach Hörstatusgruppen und bilingualer Förderung an Tbh.gr.= an Taubheit grenzend; gl.= gehörlos;

mittel-hochgr.=mittel- bis hochgradig schwerhörig;

dys.= dysauditiv; leichtgr.= leichtgradig schwerhörig;

bilingual=bilinguale Klasse

116 Dabei wird das ansatzweise Verständnis und das vollständige Verständnis der Evaluation mit je einem Punkt gerechnet, genauso die Fragen nach Schriftsteller und Überschrift, die nicht im engeren Sinne

diskursstruktureller Natur sind.

Abb. 26 zeigt die Kompetenzen in den einzelnen Teilgruppen, die einen Zusammenhang zwischen Hörstatus und diskursstrukturellem Verständnis der Geschichte erkennen lassen:

Fast alle leichtgradig schwerhörigen und dysauditiven SchülerInnen zeigen ein vollständiges Verständnis der Geschichte. Dass sie beim Merkmal der Handlungskomplikation nicht einen entsprechend hohen Punktwert wie in der Evaluation haben, liegt daran, dass die Hälfte der SchülerInnen über die Wiedergabe der Pointe dieses Merkmal vergisst. In der Gruppe der mittel- bis hochgradig schwerhörigen SchülerInnen lässt sich eine ähnliche Beobachtung anstellen: Von den acht SchülerInnen bzw. 31%, die die Evaluation im Ansatz begreifen, benennen fünf nicht den Konflikt zwischen Labon und den Mäusen, der die Handlungskomplikation konstituiert. Auch ihre Konzentration ist darauf gerichtet, zu beschreiben, wie Labon verschiedene Dinge an die Decke klebt, und sie sind damit offensichtlich von der Handlungskomplikation abgelenkt. Dies ist besonders plausibel, da für diese SchülerInnen die Evaluation der Geschichte ein teilweise offenes Rätsel darstellt, an dem sie sich interpretatorisch versuchen.

Die an Taubheit grenzend schwerhörigen und gehörlosen SchülerInnen haben deswegen trotz ihres schwachen Gesamtergebnisses im Merkmal der Handlungskomplikation einen höheren Wert als die mittel- bis hochgradig schwerhörigen SchülerInnen, weil sie nicht von Überlegungen zur Evaluation abgelenkt werden: Aus dieser Gruppe gibt es nur eine Antwort, die die evaluativen Merkmale der Geschichte im Ansatz richtig erfasst.

Während sich also ein Zusammenhang zwischen Hörstatus und diskursstrukturellem Verständnis zeigt, weichen die Ergebnisse der überwiegend gehörlosen bilingualen SchülerInnen von dieser Systematik ab. Sie haben in fast allen Fragen einen höheren Wert als die nicht-bilingualen an Taubheit grenzend schwerhörigen und gehörlosen SchülerInnen, nur die Evaluation erfassen sie überwiegend nicht. Einzig eine bilinguale Schülerin, Christa, versteht die sprachlich schwierige Pointe der Geschichte, die übrigen bilingualen SchülerInnen erkennen sie noch nicht einmal im Ansatz. Zwar begreift die Hälfte der bilingualen Klasse, dass die Mäuse einen Kopfstand machen, wie die Frage G) zeigt. Aber insbesondere die Verwechselung von Fußboden und Zimmerdecke wird von ihnen nicht erkannt. Das Vokabular der Geschichte ist offensichtlich für diese Gruppe nicht eindeutig genug. Es wird in dem Text durchgehend das Wort „Decke“ statt „Zimmerdecke“ verwendet, dessen Bedeutung ansonsten nur durch das Adverb „oben“ deutlich wird. Während des Interviews halten dementsprechend Maria und Luise, zwei der stärkeren SchülerInnen aus der bilingualen Klasse, „Decke“ kontinuierlich für eine Decke aus Stoff und Hamida probiert es wahlweise mit „Ecke“ und „Deckel“.

Die bilingualen SchülerInnen verfügen also zumeist nicht über ein ausreichendes sprachliches Verständnis, um den zentralen Zusammenhang der Geschichte zu begreifen. Darin unterscheiden sie sich nicht von übrigen an Taubheit grenzend schwerhörigen und gehörlosen SchülerInnen und der Mehrzahl der mittel- bis hochgradig schwerhörigen SchülerInnen.

Umso bemerkenswerter sind ihre überdurchschnittlichen Werte bei den übrigen Merkmalen.

Ohne ein Verständnis der Pointe können die bilingualen SchülerInnen diese weitaus besser erfassen als die nicht-bilingualen mittelgradig schwerhörigen bis gehörlosen SchülerInnen.

Besonders bei der Frage B) zum Ort der Geschichte und bei den Fragen zur Handlungskomplikation fallen ihre hohen Werte auf, die sogar diejenigen der leichtgradig schwerhörigen und dysauditiven SchülerInnen in der Stichprobe übertreffen.

Damit bestätigt sich die These, dass diese SchülerInnen aufgrund ihres Wissens um Textstrukturen und ihres exekutiven Metawissens bestimmte Lücken auf der unteren Ebene der Textrepräsentation ausgleichen können, selbst wenn dabei Schlüsselstellen des Textes nicht verstanden werden. Dass fast alle bilingualen SchülerInnen den Ort der Geschichte nennen können, während dies bei den übrigen Kindern in der Stichprobe eine seltene Fähigkeit ist, zeigt anschaulich, wie z.B. ein primär in der DGS erworbenes Wissen über das Geschichtenstruktur-Schema dabei hilft, solche Merkmale auch in schriftlichen Texten zu finden.

Dass die übrigen mittelgradig schwerhörigen bis gehörlosen SchülerInnen nicht in vergleichbarer Weise an Texte und ihre Rezeption herangeführt worden sind, zeigen auch die Werte in der Frage F). Nur 45% aller SchülerInnen (n=22) wissen, dass eine solche Zeile wie

„von Roald Dahl“ am Anfang einer Geschichte den Autoren bezeichnet. Insbesondere nicht-bilinguale mittelgradig schwerhörige bis gehörlose SchülerInnen verfügen nicht über diese Kompetenz. Die sprachliche Einschränkung der SchülerInnen erklärt dieses Ergebnis nicht zureichend. Solches Wissen wäre innerhalb von vier Schuljahren sicherlich einem größeren Anteil selbst der schwachen SchülerInnen vermittelbar. Der Leseunterricht ist offenbar häufig von einer alltagspraktischen Orientierung, wie sie sich aus der Konzeption von Lesen als

„Literacy“ ableiten lässt, weit entfernt.117

Von den leichtgradig schwerhörigen und dysauditiven SchülerInnen können die Frage nach dem Autor hingegen alle beantworten und in der bilingualen Klasse ist es die Mehrzahl. Die

117 Ein Teil der SchülerInnen soll in einem Fragebogen Geburtsmonat und -jahr ankreuzen. Unerwarteterweise können etliche SchülerInnen auch auf direkte Ansprache hin nicht ihr Geburtsdatum nennen, obwohl sie die Frage eindeutig verstehen. In einigen Klassen, in denen das Geburtsdatum bereits aus anderen

Teiluntersuchungen bekannt ist, ist diese Frage nicht gestellt worden, so dass ein quantitativer Vergleich dieses Merkmals nicht möglich ist. Bei der Gestaltung der Untersuchung ist nämlich nicht antizipiert worden, dass es überhaupt hörgeschädigte ViertklässlerInnen gibt, die dazu nicht in der Lage sind. Es wäre also von Interesse, alltagspraktisches Wissen dieser Art in weiteren Untersuchungen aufzunehmen.

beiden bilingualen Schüler, denen dies nicht gelingt, haben jeweils einen zusätzlichen Förderschwerpunkt „Lernen“ oder „Sehen“.118

Aus den frei formulierten Antworten lässt sich eine weitere Beobachtung ableiten: Der Teilsatz aus der Geschichte „...nach einer Weile wurden sie eine nach der anderen ohnmächtig, weil ihnen alles Blut ins Gehirn floss“ hat offensichtlich viele SchülerInnen nachhaltig beeindruckt und insbesondere die Interpretation des Resultats der Geschichte geprägt: In der Antwort von 34% der SchülerInnen (n=17) spielt es eine zentrale Rolle, dass die Mäuse in physischer Form leiden, am Kopf bluten oder am Ende der Geschichte sterben.

Für einige SchülerInnen ist dieser Aspekt fast der einzige Inhalt, den sie aus der Geschichte mitnehmen. So wird eine humane und kindertaugliche Geschichte wegen der reduzierten sprachlichen Wahrnehmung zu einer ziemlich gewalttätigen Schilderung. Die leichtgradig schwerhörigen und dysauditiven SchülerInnen sind davon kaum betroffen, aber alle anderen hörgeschädigten SchülerInnen inklusive der bilingualen Klasse.119 Wenn den SchülerInnen nur wenige kommunikative und metakognitive Möglichkeiten zur Verfügung stehen, derartige Missverständnisse innerhalb und außerhalb des Unterrichts aufzuklären, hat dies sicherlich nachhaltige Konsequenzen für die Entwicklung der SchülerInnen, und zwar nicht nur in schriftsprachlichen Kompetenzbereichen.

Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse in den Fragen zum diskursstrukturellen Verständnis noch deutlicher als der Wortschatztest, welche Auswirkungen der unterschiedliche Zugang zu Kommunikationssystemen hat. Der unter 5.1. beschriebene primär lautsprachliche Zugang zum Lesen erweist sich für hörgeschädigte SchülerInnen sowohl im Leseprozess, als auch im Verständnis zentraler inhaltlicher Kategorien als nicht unproblematisch.