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2 Rahmendaten der Hörgeschädigtenpädagogik

6.5 Qualitative Ergebnisse

6.5.2 Text 2: „Fahrkarte“

Der zweite Text der VERA-Deutscharbeit besteht aus einer Fahrkarte (für eine Hin- und Rückfahrt von Bochum nach Frankfurt), einem „authentischen, diskontinuierlichen Sachtext, der zum Teil tabellarisch angelegt ist und grafische Elemente enthält“ (Projekt VERA 2005b, 8). Ein solcher Text ist für eine Deutscharbeit ungewöhnlich. Obwohl zur Beantwortung der dazugehörigen Fragen nur vergleichsweise einfache Teilkompetenzen des Lesens beherrscht werden müssen, ist dies für die hörgeschädigten SchülerInnen aufgrund ihrer geringen Erfahrungen mit verschiedenen Textsorten (siehe 5.8) eine besondere Herausforderung. Ob ihnen tatsächlich „Texte dieser Art (...) u.a. im Sach- und Mathematikunterricht und im Alltag“ begegnen, wie das Projekt VERA (2005b, 8) unterstellt, ist für einen großen Teil dieser SchülerInnen nicht unbedingt vorauszusetzen. Die Aufgabe ist ein gutes Beispiel für die Anforderungen an die Lesefähigkeit im Rahmen der „Literacy“-Konzeption und dafür, wie hörgeschädigte SchülerInnen mit ihnen umgehen.

VERA 2.1

In der ersten Frage müssen die SchülerInnen die Geschichte aus der ersten Aufgabe und die Informationen aus der Fahrkarte miteinander in Beziehung setzen: „Könnte dies die Fahrkarte der alten Dame aus Text 1 sein, die mit Uli in einem Abteil reiste? Kreuze die richtige Antwort an“. Zur Beantwortung muss von vier Auswahlmöglichkeiten eine angekreuzt werden: „Ja, denn es ist eine Fahrkarte für einen Erwachsenen“, „Nein, dies ist eine Hin- und Rückfahrkarte“, „Ja, denn die alte Dame fährt mit der Bahn“ und „Nein, diese Fahrkarte gilt für eine Fahrt nach Frankfurt (Main) und zurück“. Eine zusätzliche Schwierigkeit besteht darin, dass alle vier Begründungen sachlich zutreffen, auch wenn nur die letzte als richtige Antwort zu werten ist.

Diese Aufgabe wird vom Projekt VERA (2005b, 9) dem Fähigkeitsniveau II zugeordnet, weil die SchülerInnen „die Information (...) aus Text 1 und den Zielbahnhof der Fahrkarte (...) auffinden und (...) beide Informationen miteinander verknüpfen“ müssen. Wenn sie erkennen,

dass die alte Frau im ersten Text nach München fährt, die vorliegende Fahrkarte jedoch nach Frankfurt ausgestellt ist, beweisen sie die „[e]rweiterte[n] Fähigkeiten“ des Fähigkeitsniveaus II, denen zufolge „[ü]ber den Text verteilte Informationen (...) gefunden und (....) [n]ahe liegende Schlüsse (...) gezogen (...) werden“ können (Projekt VERA 2005b, 9).

26% der hörgeschädigten ViertklässlerInnen (n=15) und 12% der SchülerInnen in der EAE-Schule (n=4) kreuzen das richtige Feld an. In der EAE-EAE-Schule handelt es sich dabei um SchülerInnen aus der Klasse 6.2 (Sibell und Rachel) sowie 6.3 (Lucy und Tanja). In beiden Gruppen wird die richtige Antwort nicht am häufigsten ausgewählt, wenn man die Häufigkeit der einzelnen Möglichkeiten für sich genommen und unter Einbezug von Mehrfachauswahlen betrachtet: Statt dessen favorisieren sie die Aussage, dass dies „eine Fahrkarte für einen Erwachsenen“ sei; knapp 60% der SchülerInnen der EAE-Schule und knapp 50% der hörgeschädigten ViertklässlerInnen stimmen ihr zu. Den zweiten Platz nimmt die Wahlmöglichkeit ein, dass es die Fahrkarte der alten Frau sei, weil sie „mit der Bahn“ fahre, wobei sie in der Gruppe der ViertklässlerInnen gleich häufig wie die richtige Antwort angekreuzt wird.

Die SchülerInnen tendieren in dieser Aufgabe dazu, sich nur auf die Fahrkarte zu konzentrieren, allein eine kleine Gruppe zieht den geforderten Vergleich zwischen den beiden ersten Texten. Mehrheitlich entstammt ihre Antwort einem lokal begrenzten Verständnis und es gelingt ihnen nur selten, weit voneinander entfernte Textstellen zu verknüpfen.

VERA 2.2

Die zweite Aufgabe zum Text 2 „Fahrkarte“ gibt fünf mögliche Ausgangpunkte der Reise an („in Kiel“, „in Frankfurt“, „in Bochum“, „in Hamburg“ und „in Köln“); es wird gefragt: „Wo beginnt die Reise?“ Diese Aufgabe wird vom Projekt VERA (2005b, 9) dem Fähigkeitsniveau I zugeordnet, weil „einzelne Informationen im Lesetext gefunden [werden], wenn sie in der Aufgabenstellung fast wortgleich (...) formuliert sind“.

Diese Anforderung erfüllen jeweils 56% der hörgeschädigten ViertklässlerInnen (n=32) und der SchülerInnen der EAE-Schule (n=19), denn sie wählen „in Bochum“. In beiden Gruppen ist die Antwort „in Frankfurt“, die den Zielort der Reise beinhaltet, die zweithäufigste und das doppelte Ankreuzen der beiden auf der Fahrkarte vermerkten Orte die dritthäufigste Wahl.

Die relativ einfache Anforderung, Abfahrts- und Zielort auf einer Bahnfahrkarte zu unterscheiden, erfüllt zwar jeweils eine knappe Mehrheit der SchülerInnen. Offenbar gibt es aber viele, denen der Umgang mit einer solchen Textsorte große Schwierigkeiten bereitet.

VERA 2.3

Als letzte Aufgabe zum Text 2 muss der Preis der Fahrkarte aufgeschrieben werden: „Was hat die Fahrkarte gekostet?“ Das Fähigkeitsniveau dieser Aufgabe wird nicht ausgewiesen, es geht aber eindeutig um das „Erkennen von Einzelinformationen“, die das Fähigkeitsniveau I erfasst (Projekt VERA 2005b, 5).

79% der hörgeschädigten ViertklässlerInnen (n=45) und 71% der SchülerInnen der EAE-Schule (n=24) können den Betrag von „96,20 €“ richtig eintragen.

Die Form der richtigen Antworten reicht von minimalistischen Varianten bis hin zu ausformulierten Sätzen. Ein hörgeschädigter Viertklässler und fünf SchülerInnen der EAE-Schule nehmen typographische Kopien des entsprechenden Zahlenfeldes inkl. der Abkürzung

„Eur“ vor, z.T. mit den ideographischen Sonderzeichen, die den unausgefüllten Platz vor dem Preis belegen (***). Eine Schülerin interpretiert die Ziffer „6“ auf dem Computerausdruck als eine „5“, was in diesem Falle als richtige Antwort gerechnet wird, weil die zutreffende Information gefunden worden ist:

„Preis Eur 96,20“

(Václav, 10;2, mittelgr. sh., andersspr. Elt., vierte Klasse)

„Preis Eur *** 96,20“

(Minou, 15;5, gehörlos, andersspr. Elt., EAE-Schule, Klasse 6.2)

„Preis Eur *** 95,20“

(Cornelia, 13;11, gehörlos, CI, deutschspr. Elt., EAE-Schule, Klasse 6.2)

Am häufigsten wird in beiden Gruppen nach diesem Muster vorgegangen oder einfach nur die Zahl, zumeist mit Währungseinheit „€“ oder „Euro“ genannt. Nur in weniger als der Hälfte der richtigen Antworten wird ein Satz oder Satzteil ergänzt. Es dominieren dabei weitgehend elliptische Äußerungen, wie z.B.:

„Die Fahrkarte hat gekostet 96,20“

(Lutz, 10;4, dysauditiv, ADHS, deutschspr. Elt., vierte Klasse)

„Die Fahrkarte hat 96,20 € gekostet.“

(Merle, 10;1, hochgr. sh., deutschspr. Elt., vierte Klasse)

„Die *Kate hat 96,20 € gekostet.“

(Kurt, 10;11, dysauditiv, AVWS, FSP „Sprache“, deutschspr. Elt., vierte Klasse)

„Es kostet 96,20 €“

(Aishe, 12;9, mittelgr. sh., andersspr. Elt., EAE-Schule, Klasse 6.2)

Nur in wenigen Fällen wird der Sachverhalt anders formuliert:

„Sie *mus 96,20 € *bezalee“

(Andreas, 11;10, dysauditiv, AVWS, LRS, deutschspr. Elt., vierte Klasse)

„Ein Mann bezahlt 96,20€ kostet“

(Catharina, 9;9, hochgr. sh., deutschspr., gehörlose Elt., vierte Klasse)

Unter den falschen Antworten gibt es nur wenige, die einen anderen Betrag angeben. Zwei SchülerInnen fügen die in der Fahrkarte als „MWST“ ausgewiesene Mehrwertsteuer von 13,27 € ein und eine andere Schülerin die Zahl aus der Angabe „Sparpreis 25“:

„Die Fahrkarte 13,27 € gekostet.“

(Jasemin, 10;5, mittelgr. sh., andersspr. Elt., vierte Klasse)

„*Fahrkart 96,20 und= 13,27 kostet“

(Büsra, 16;2, gehörlos, andersspr. Elt., EAE-Schule, Klasse 9)

„die *Farkarte 25 €“

(Sabrina, 9;8, leichtgr. sh. (einseitig taub), deutschspr. Elt., vierte Klasse)

Häufiger sind falsche Antworten, die überhaupt keinen Bezug zur Frage erkennen lassen; sie enthalten die auf der Fahrkarte genannten Orte oder andere Textbausteine. Sie stammen mit einer Ausnahme aus der EAE-Schule. Davon sind besonders die SchülerInnen der nicht-bilinguale vierten Klasse betroffen, die überhaupt versuchen, eine Antwort zu geben. Keine/r von ihnen findet die richtige Lösung, während dies allen in der bilingualen Parallelklasse gelingt.

Diesem Muster folgen auch einige ältere SchülerInnen der EAE-Schule, die offensichtlich genausowenig mit der Frage anfangen können wie die hier aufgeführten ViertklässlerInnen, aber die Form einer elliptischen Beantwortung benutzen, indem sie mit „Die Fahrkarte....“

beginnen:

„Frankfurt“

(Jens, 9;5, hochgr. sh., CI, deutschspr. Elt., vierte Klasse)

„in Frankfurt“

(Dunja, 10;0, mittelgr. sh., FSP „Sehen“, andersspr. Elt., EAE-Schule, Klasse 4.1)

„in Bochum“

(Achmed, 11;0, hochgr. sh., andersspr. Elt., EAE-Schule, Klasse 4.1)

„im die Fahrkarte“

(Laura, 10;8, mittelgr. sh., CI, deutschspr. Elt., EAE-Schule, Klasse 4.1)

„Die Fahrkarte hat *Bohum und Frankfurt (Main) gekostet.“

(Felix, 15;1, gehörlos, deutschspr. Elt., EAE-Schule, Klasse 8)

„Die Fahrkarte hat einen Erwachsenen gekostet.“

(Orhan, 14;4, gehörlos, andersspr. Elt., EAE-Schule, Klasse 8)

„Die Fahrkarte kostet für *mit *Fahren“

(Sandra, 16;2, gehörlos, deutschspr. Elt., EAE-Schule, Klasse 9)

Der Anforderung dieser einfachen Aufgabe ist jeweils eine Mehrheit der SchülerInnen gewachsen; sie ist in beiden Gruppen diejenige mit der zweithäufigsten Lösungswahrscheinlichkeit. Die Antworten enthalten zumeist nur die Zahlen und Sätze aus Text und Frage, eine eigenständige Formulierung bietet nur eine Minderheit der SchülerInnen an. Einem Fünftel der hörgeschädigten ViertklässlerInnen und etwa einem Drittel der SchülerInnen der EAE-Schule gelingt dennoch keine richtige Lösung.