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Nachteilsausgleich in vierten Klassen

2 Rahmendaten der Hörgeschädigtenpädagogik

6.2 Vierte Klassen an Hörgeschädigtenschulen

6.2.1 Nachteilsausgleich in vierten Klassen

Ein methodisches Problem stellt die Tatsache dar, dass in den vierten Klassen verschiedene Formen des Nachteilsausgleichs angelegt werden. Dies liegt an einem fehlenden schulübergreifenden Konsens und daran, dass in den beteiligten Bundesländern in dieser Hinsicht unterschiedliche Gesetze gelten. Damit sind objektiv gleiche Evaluationsbedingungen nicht mehr gegeben. Es werden jedoch die realen Bedingungen erfasst, die bei entsprechenden Vergleichs- und Abschlussarbeiten zu finden sind.

Für die vorliegende Arbeit wird der Nachteilsausgleich in einem Fragebogen evaluiert und im Folgenden in einem eigens entwickelten Analyseschema aufbereitet. Aufgrund der fehlenden Vergleichswerte kann die Auswirkung des jeweils unterschiedlichen Nachteilsausgleichs innerhalb der vorliegenden Stichprobe nicht ermittelt werden. Es besteht jedoch die Möglichkeit, eine Teilgruppe, die an der IGLU-Aufgabe und an der VERA-Deutscharbeit mitwirkt, im Hinblick auf diese Fragestellung zu vergleichen (siehe Kap. 7).

Grundsätzlich sind folgende Typen des Nachteilsausgleichs möglich:

Typ I: Veränderung des Prüfungstextes oder der Prüfungsfragen:

- Textvereinfachung, Textoptimierung

- Ersatz von Höraufgaben (z.B. beim listening comprehension in Englischtests)

Ein Nachteilsausgleich dieses Typs greift direkt in den Aufbau und die Struktur der Prüfungsaufgaben ein und verändert sie, indem z.B. Textabschnitte umformuliert werden oder indem für Teilaufgaben, die Hörgeschädigten unzugänglich sind, etwa auditiven Aufgaben, ein Ersatz angeboten wird.

Typ II: Veränderung der Prüfungsmaterialien:

- Vergrößerte Kopien von Aufgaben oder Aufgabenteilen

Hierbei wird die Erscheinungsform der Prüfungsmaterialien verändert, nicht jedoch in den Inhalt eingegriffen. Vergrößerte Kopien können nicht nur bei SchülerInnen mit einer Sehbehinderung individuell sinnvoll sein, sondern auch im Falle von unübersichtlichen Aufgaben als angemessener Nachteilsausgleich für alle SchülerInnen gelten.

Typ III: Ergänzungen zum Prüfungstext:

- Wortlisten zu im Text markierten Begriffen mit schriftlichen Erläuterungen, Bildern und/oder Gebärdendarstellungen bzw. -fotos

- Einführende Erläuterungen in Laut- und/oder Gebärdensprache, ggf. mit unterstützendem Material

Ergänzungen zu den Prüfungsaufgaben lassen den Prüfungstext unverändert, vervollständigen aber Informationen, die den SchülerInnen aufgrund ihres behinderungsspezifischen Nachteils fehlen: Dabei handelt es sich insbesondere um Lücken im Wortschatz und im Weltwissen.

Typ IV: Veränderung der Prüfungssituation:

- Zeitverlängerung

Eine Zeitverlängerung zu gewähren, ist ein Nachteilsausgleich, der nicht nur hörgeschädigten SchülerInnen, sondern auch Prüflingen mit anderen Behinderungen eingeräumt wird. Weil er keine inhaltlichen und konzeptionellen Überlegungen seitens des Prüfungspersonals voraussetzt und leicht einheitlich geregelt werden kann, ist dieser Nachteilsausgleich sehr gebräuchlich. Er setzt jedoch nicht bei dem spezifischen Nachteil einer SchülerInnengruppe an, sondern kompensiert eine allgemeine Begleiterscheinung des jeweiligen Nachteils, die in einer vergleichsweise längeren Bearbeitungsdauer liegt.

Typ V: Unterstützung in der Prüfungssituation:

- Beantwortung individueller Nachfragen

Die Nachfragen der SchülerInnen zu beantworten, ermöglicht einen Ausgleich des spezifischen Nachteils. Ein einheitliches Vorgehen ist aber wegen der Individualität nicht zu regeln.

In den Hörgeschädigtenschulen wird der Nachteilsausgleich sehr unterschiedlich gehandhabt.

Dies liegt auch daran, dass der Hörstatus der Kinder von gehörlos bis dysauditiv (mit AVWS) reicht und deshalb der zu kompensierende Nachteil voneinander abweicht. Es lässt sich allerdings kein eindeutiger Zusammenhang zwischen Hörstatus und Art des Nachteilsausgleichs feststellen.

Von den zehn beteiligten vierten Klassen ist in sechs Klassen ein Nachteilsausgleich gewährt worden. Aus der Aufstellung in Abb. 39 wird ersichtlich, dass keine der Schulen einen Nachteilsausgleich des Typs I, d.h. eine Änderung der Formulierungen in der bereitgestellten Vergleichsarbeit, vorgenommen hat. Angesichts des Themas Lesekompetenz würde nämlich ein Eingriff in den eigentlichen Lesetext die Vergleichbarkeit der Arbeit grundsätzlich in Frage stellen.

Der häufigste Nachteilsausgleich besteht aus Maßnahmen des Typs V: In allen sechs Klassen werden individuelle Nachfragen der SchülerInnen beantwortet.

Etwas weniger häufig ist der Nachteilsausgleich des Typs IV, der in fünf Klassen gewährt wird und in allen Fällen eine Zeitverlängerung bedeutet. Gleich häufig ist Typ III, der eine ganze Reihe von Maßnahmen einschließt: Erläuterung einzelner Wörter (n=5) und

einführende Zusammenfassung der Texte in Lautsprache, LBG oder DGS (n=4) sind dabei am weitesten verbreitet. Andere Maßnahmen des Typs III sind die Verwendung einer Landkarte bei der Einführung in den Text (n=2) und von Wortlisten (n=2); sie werden an der EAE-Schule eingesetzt, ebenso wie die Maßnahmen des Typs II: Vergrößerte Kopien einer Tabelle für die ganze Klasse und Din-A-3-Kopien aller Aufgabenblätter für sehbehinderte SchülerInnen (n=2).

Dass die EAE-Schule in dieser Aufstellung einen weitergehenden Nachteilsausgleich anlegt als die meisten anderen Schulen, hat mehrere Gründe: Zunächst ermöglicht das Land Berlin solche „Ausgleichsmaßnahmen“, die in der SopädVO (2005) § 39 geregelt werden. Ferner befinden sich an der EAE-Schule überwiegend gehörlose ViertklässlerInnen und damit die Hälfte der an der Evaluation beteiligten gehörlosen SchülerInnen. An dieser Schule ist folglich von einem größeren behindertenspezifischen Nachteil auszugehen als an anderen Schulen, die überwiegend mittel- bis hochgradig schwerhörige und etliche leichtgradig schwerhörige ViertklässlerInnen an den Arbeiten beteiligen. Und schließlich nutzt die EAE-Schule die VERA-Vergleichsarbeit 2005 als ein Erprobungsfeld für nachteilsausgleichende Maßnahmen, um über deren Nützlichkeit zu reflektieren. Aus diesen Gründen wird der Nachteilsausgleich an der EAE-Schule unter 6.3.1 gesondert dargestellt. Auch im Hinblick auf die ViertklässlerInnen der EAE-Schule muss sorgfältig geprüft werden, welche Auswirkungen diese Maßnahmen auf ihre Ergebnisse im Gesamtvergleich haben, insbesondere da sich die SchülerInnen des Berliner Bilingualen Schulversuchs an dieser Schule befinden. Da jedoch die bilinguale Klasse und ihre Parallelklasse an der schulweiten Untersuchung der Viert- bis NeuntklässlerInnen mit derselben VERA-Deutscharbeit unter identischen Bedingungen beteiligt sind, es zu beiden Klassen die Ergebnisse aus der in Kap. 5 dargelegten Untersuchung mit Hilfe der IGLU-Aufgaben gibt und somit beide Klassen in den Vergleich zwischen beiden Erhebungsmethoden in Kap. 7 einbezogen werden, ist eine Einschätzung der Plausibilität ihrer Ergebnisse möglich. Zu den bilingualen SchülerInnen stehen außerdem weitere Untersuchungen zur Sprachentwicklung mit entsprechenden Vergleichsgruppen zur Verfügung (siehe Kap. 8).

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass bei etwas mehr als der Hälfte der beteiligten Klassen an Hörgeschädigtenschulen nachteilsausgleichende Maßnahmen eingesetzt werden und hierbei eindeutig die Beantwortung von Nachfragen, die Zeitverlängerung und die Erläuterung einzelner Worte dominieren. Es ergibt sich allerdings die paradoxe Situation, dass einerseits eine bundesländerübergreifende Evaluation durchgeführt, andererseits bundesländer- oder schulspezifischer Nachteilsausgleich angelegt wird. Um eine

Vergleichbarkeit der Arbeiten zu gewährleisten, wäre es notwendig, einheitliche Richtlinien zum Nachteilsausgleich für alle Hörgeschädigtenschulen zu etablieren.