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5.1 Telematische Prognose der Verletzungsintensität

5.1.1 Verfahren zur Prognose der Verletzungsintensität

Eine Prognose der Verletzungsintensität der Fahrzeuginsassen kann durch die Aus-wertung von Daten der Fahrzeugsensorik erstellt werden. Dazu müssen u.a. Daten über den Unfallhergang im Fahrzeug automatisch erfasst und kurz nach der Kollision gemeinsam mit der automatischen Unfallmeldung an ein Prognosesystem übermittelt werden. In dieser Arbeit wurde untersucht, welche Verfahren für die Erstellung einer Prognose eingesetzt werden können und welche Prognosegüte mit unterschiedlichen Eingangsgrößen erzielt werden kann.

Systeme zur Prognose der Verletzungsintensität können auf zwei grundsätzlich unterschiedlichen Verfahren basieren. Im Rahmen dieser Untersuchung wurden statisti-sche Verfahren eingesetzt, die es ermöglichen, auf der Grundlage einer Stichprobe von Unfällen, für die sowohl die Eingangsgrößen als auch die Verletzungsintensität bekannt sind, für neue Unfälle eine Verletzungsprognose zu erstellen. Mit diesen Verfahren wer-den in einer Spezifikations- bzw. Lernphase zunächst mathematische oder logische Modelle erstellt, die für die Fälle der Stichprobe den Zusammenhang zwischen den Ein-gangsgrößen und der tatsächlichen Verletzungsintensität (Ausgangsgröße) möglichst fehlerfrei abbilden. Werden an den Modellen neue Eingangsgrößen angelegt, kann die Ausgangsgröße als Prognose berechnet werden. Ein Vorteil der statistischen Verfahren liegt darin, dass keine theoretischen Kenntnisse über die Mechanismen, die dem Zusam-menhang zwischen den Eingangsgrößen und der Ausgangsgröße zugrunde liegen, erfor-derlich sind.63 Da im Prognosemodell der Zusammenhang über einfache mathematische Gleichungen oder logische Ausdrücke beschrieben werden kann, ist für die Berechnung des Prognoseergebnisses nur ein minimaler Rechenaufwand erforderlich. Sehr viel grö-ßer ist der Aufwand für die Aufbereitung der Lernstichprobe und die Berechnung der

62Dieses Problem könnte durch die Übertragung der Daten von Sitzplatzbelegungssensoren in die Rettungsleitstelle gelöst werden. Ist mindestens ein Sitzplatz im Fahrzeug belegt und erhält der Disponent im Sprachkontakt mit dem Fahrzeuginnenraum keine Antwort, ist davon auszugehen, dass der Insasse bzw. die Insassen bewusstlos sind. Eine Voraussetzung für die-sen Lösungsvorschlag ist allerdings, dass die Sensorik nach dem Unfall noch funktionsfähig ist.

63Je nach Art der statistischen Verfahren (z.B. Regressionsanalysen, Entscheidungsbauminduk-tion) können aus den spezifizierten Modellen Erkenntnisse über den Zusammenhang zwi-schen den Eingangsgrößen und der Ausgangsgröße gewonnen werden.

Diskussion 165

Modellparameter. Mit statistischen Verfahren können allerdings nur dann valide Prog-noseergebnisse erzielt werden, wenn die Lernstichprobe in der Verteilung der Fälle die Grundgesamtheit repräsentiert. Fehlt beispielsweise in der Stichprobe eine bestimmte Art von Unfällen, für die später eine Prognose erstellt werden soll, können dafür keine sinnvollen Ergebnisse erzielt werden.

Alternativ zu den statistischen Verfahren können Simulationsverfahren genutzt wer-den, mit denen auf der Grundlage der Eingangsgrößen der Crash-Verlauf mit komplexen Modellen nachgebildet wird. Es kann daraus die Belastung einzelner Körperteile, über die die Verletzungsintensität der Insassen abschätzbar ist, berechnet werden. Diese Ver-fahren haben den Vorteil, dass keine Lernstichprobe für die Erstellung der Modelle erforderlich ist und damit auch für seltene Unfallkonstellationen eine Prognose möglich wird. Im Gegensatz zu den statistischen Verfahren erfordern die Simulationsmodelle eine exakte Kenntnis u.a. über den Fahrzeugaufbau, das Deformationsverhalten und über die Kinematik der Insassen in der Fahrgastzelle. Nachteilig ist bei diesen Modellen der hohe Rechenaufwand für die Lösung der numerischen Gleichungen, der bei den aktuell verfügbaren Rechenkapazitäten noch dazu führt, dass die Prognose zu spät für die Unterstützung der Dispositionsentscheidung vorliegen würde. Es müsste untersucht werden, wie die Modelle auf ungenaue oder unvollständige Eingangsgrößen reagieren und wie zuverlässig damit die Ergebnisse sind. Werden diese Probleme gelöst, kann wahrscheinlich mit Simulationsverfahren eine höhere Genauigkeit der Verletzungsprog-nose erzielt werden. Es wird sich dann zeigen, ob der hohe Aufwand für die Erstellung der Modelle und die Durchführung der Simulationen gerechtfertigt ist. Interessante Möglichkeiten könnten sich aus einer Kombination von statistischen Verfahren mit Simulationsverfahren ergeben. Vorstellbar ist, dass mit Simulationsverfahren eine Lern-stichprobe für statistische Verfahren erzeugt wird, auf deren Grundlage einfache Prog-nosemodelle erstellt werden können. Damit wären die Probleme der unvollständigen und zu kleinen Stichproben für die Spezifikation der statistischen Modelle sowie das Problem der langen Rechenzeiten für die Simulationsmodelle gelöst [Issing2005A].

Als Ausgangsgröße der Prognosemodelle wurde eine binär codierte Variable mit den Ausprägungen un- bzw. leichtverletzt und schwerverletzt festgelegt. Die Klasseneintei-lung zwischen un- bzw. leichtverletzten und schwerverletzten Insassen erfolgte auf der Grundlage des MAIS-Scores (0-2: un- bzw. leichtverletzt und 3-6: schwerverletzt). Der genutzte Score und die Klasseneinteilung der vorherzusagenden Variable entsprechen der Vorgehensweise von Malliaris et al. und Augenstein et al. bei der Entwicklung des URGENCY-Algorithmus [Malliaris1997, Augenstein2003]. Die Einteilung der vorher-zusagenden Variable wurde so gewählt, dass aus der Prognose der Modelle eine Ent-scheidung über die Indikation eines Notarzteinsatzes direkt abgeleitet werden kann.

Detaillierte Informationen über die genaue Verletzungsintensität des Unfallopfers und

die Art der Verletzungen sind für die Dispositionsentscheidung zunächst nicht erforder-lich. Diese Informationen könnten allerdings für die Vorbereitung des anfahrenden Not-arztes und die klinische Diagnose von inneren Verletzungen von Bedeutung sein. Für die Dispositionsentscheidung ist eher von Interesse, ob mit einer verletzten Person an der Unfallstelle zu rechnen und überhaupt der Einsatz des Rettungsdienstes erforderlich ist. Um diese Fragestellung zu berücksichtigen, müsste die Ausgangsgröße der Progno-semodelle in drei Stufen (unverletzt, leichtverletzt, schwerverletzt) eingeteilt werden.

Zur Vereinfachung der Prognosemodelle wurde in dieser Arbeit nur das Zwei-Klassen-Problem untersucht.

Neben der Information über die Verletzungsintensität der Insassen ist für die Dispo-sition technischer Rettungsmittel eine Information von der Unfallstelle über den Bedarf an technischem Bergungsgerät erforderlich. Das Prognosesystem müsste dementspre-chend eine weitere Ausgangsgröße liefern, die die Indikation von technischem Ber-gungsgerät angibt. Analog der Vorgehensweise zur Spezifikation von Modellen für die Prognose der Verletzungsintensität, könnten Modelle für die Prognose der Indikation von technischem Bergungsgerät erstellt werden. Dazu müssten Lernstichproben zur Verfügung stehen, die neben den Eingangsgrößen auch Informationen über den Einsatz von technischem Bergungsgerät bzw. über eingeklemmte Insassen enthalten.

Die in dieser Arbeit verwendeten Lernstichproben wurden aus einer amerikanischen (NASS/CDS) und einer deutschen (GIDAS) Unfalldatenbank gewonnen. Für jeden erfassten Unfall wurden retrospektiv in den Datenbanken Informationen über das verun-glückte Fahrzeug, den Unfallablauf und die Insassen erhoben. Ausgewählte Variablen aus den Datenbanken wurden in die Lernstichproben aufgenommen und damit als Ein-gangsgrößen für die Spezifikation der Prognosemodelle verwendet. Aus diesem Grund müssen im Praxiseinsatz des Prognosesystems die Daten der Fahrzeugsensorik so auf-bereitet werden, dass sie in ihrer Definition den Variablen der Lernstichprobe entspre-chen. Durch diese Aufbereitung der Daten gehen jedoch Informationen verloren, die für die Prognose genutzt werden könnten. Um dieses Problem zu lösen, müssen im Praxis-betrieb des Systems die tatsächlich bei einem Unfall von der Fahrzeugsensorik gemes-senen Daten in einer Datenbank gemeinsam mit der retrospektiv bestimmten Verletzungsintensität der Insassen abgelegt werden. Diese Datenbank kann anschlie-ßend genutzt werden, um neue Prognosemodelle zu erstellen, die auch die tatsächlich gemessenen Daten als Eingangsgrößen nutzen. Mit einer wachsenden Größe der Daten-bank würde durch eine dynamische Spezifikation von neuen Prognosemodellen die Güte der Modelle immer weiter ansteigen. Die organisatorische Herausforderung wird dabei sein, dass die tatsächliche Verletzungsintensität der Insassen vom Rettungsdienst erfasst und in die Datenbank übernommen wird.

Diskussion 167

Innerhalb der Gruppe der statistischen Prognoseverfahren bestehen wiederum unter-schiedlichste Ansätze, die dem Bereich der klassischen multivariaten Statistik und dem Bereich des maschinellen Lernens zugeordnet werden können. In dieser Arbeit wurden die logistische Regression und die Entscheidungsbauminduktion eingesetzt. Die logisti-sche Regression ist eines der wenigen Verfahren der klassilogisti-schen multivariaten Statistik, die keine parametrischen Verteilungen der Eingangsgrößen voraussetzen und somit für die vorliegende Problemstellung eingesetzt werden können. Die Entscheidungsbaumin-duktion aus dem Bereich des maschinellen Lernens hat gegenüber Neuronalen Netzen, Genetischen Algorithmen oder Support-Vektor-Maschinen den Vorteil, dass die Ent-scheidungsregeln in den Modellen explizit vorliegen und vom Anwender nachvollzogen werden können. Inwieweit sich die Prognosegüte beim Einsatz von anderen Prognose-verfahren ändert, sollte in weiteren Untersuchungen auf der Grundlage der ausgewähl-ten Eingangsgrößen betrachtet werden.

5.1.2 Eingangsgrößen, Prognosegüte und