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3.1 Entwicklung von Modellen zur telematischen Prognose

3.1.1 Datengrundlage und Variablenauswahl

3.1.1.3 Variablenauswahl

Als Ausgangsgröße soll das Prognosemodell eine Information über die Verletzungs-intensität liefern, aus der eine Entscheidung über die erforderlichen Rettungsmittel abgeleitet werden kann. Wie bereits in Kapitel 3.1 dargestellt wurde, ist es insbesondere von Interesse, ob ein Insasse bei einem Verkehrsunfall keine bzw. nur leichte oder ob er schwere Verletzungen erlitten hat. Damit kann in der Rettungsleitstelle die Entschei-dung getroffen werden, ob die Indikation für einen Notarzteinsatz vorliegt oder nicht.

Als Maß für Verletzungsintensität bei Verkehrsunfällen hat sich die Abbreviated Injury Scale (AIS) international durchgesetzt. Eine Verletzung wird zur Bewertung nach AIS auf einer Skala von 0 bis 6 klassifiziert, wobei die von der Verletzung ausgehende Lebensbedrohung das wichtigste Beurteilungskriterium für die Klassifikation darstellt (0: unverletzt, 6: tödlich verletzt) [Appel2002]. Die Klassifikation der Verletzungen erfolgt nach einem Codebook, in dem für jede stumpfe oder penetrierende Verletzung, nach acht Körperregionen untergliedert, ein 7-stelliger Code (AIS-Code) festgelegt ist [AAAM1998].40 Über den AIS-Code kann für jede Verletzung der AIS-Schweregrad bestimmt werden. Eine beispielhafte Zuordnung von AIS-Werten zu Einzelverletzungen

40Gemäß AIS werden acht Körperregionen unterschieden: Kopf (Region 1), Gesicht (Region 2), Hals (Region 3), Thorax (Region 4), Abdomen (Region 5), Wirbelsäule (Region 6), obere Extremitäten (Region 7) und untere Extremitäten (Region 8).

zeigt Tabelle 7. Der AIS-Wert ist ein anatomisch orientierter Score, der klinisch oder auch postmortal erfasst werden kann und nicht vom zeitlichen Verlauf des physiologi-schen Zustandes der verletzten Person und damit auch nicht durch präklinische oder kli-nische Interventionen beeinflusst wird [Kanz2002].

Häufig liegen bei Verkehrsunfällen multiple Verletzungen vor. Zur Beschreibung des Verletzungsschweregrades einer Körperregion wird der maximale AIS-Wert pro Kör-perregion genutzt. Für die Bewertung der Verletzungsschwere für den gesamten Körper bestehen unterschiedliche Ansätze. Die Verletzungsintensität einer Person wird in dieser Untersuchung über den maximalen AIS-Wert (MAIS) charakterisiert. Personen, die einen MAIS-Wert von 0 bis 2 aufweisen, werden als un- bzw. leichtverletzt und Perso-nen, die einen MAIS-Wert von 3 bis 6 (MAIS 3 plus) aufweisen als schwerverletzt klas-sifiziert. Der MAIS-Wert wird in der NASS/CDS- sowie in der GIDAS-Datenbank erfasst.

Tabelle 7. Verletzungsschweregrad nach AIS, Beispiele und Letalitätsraten [Kramer1998]

Auf der Grundlage der Literaturanalyse (vgl. Kapitel 1.2.1.3) sowie eigener Plausibi-litätsüberlegungen wurden die in Tabelle 8 dargestellten Variablen ausgewählt, die als Eingangsgrößen (unabhängige Variablen) für die Spezifikation der Prognosemodelle betrachtet werden sollen. Im Unterschied zu den in der Literatur beschriebenen Untersu-chungen [Bahouth2004] wurden nur Variablen berücksichtigt, die entweder mit Senso-rik im Fahrzeug prinzipiell automatisch messbar sind oder durch eine Insassenidentifikation ermittelt werden können.41 Nicht betrachtet wurden Variablen,

AIS Schweregrad Verletzungen (Beispiele) Letalitätsrate [%]

0 unverletzt 0,00

1 gering Schürfung, Schnittwunden, Prellungen 0,00

2 mäßig großflächige Schürfungen und Prellungen,

leichte Gehirnerschütterung 0,07

3 ernst, nicht

lebensbe-drohlich Schädelfraktur ohne Liquoraustritt, Gehirner-schütterung mit Bewusstlosigkeit, Pneumotho-rax

2,91

4 schwer,

lebensbe-drohlich Schädelfraktur mit Liquoraustritt, Gehirner-schütterung mit Bewusstlosigkeit bis 24h, Per-foration des Brustkorbes

6,88

5 kritisch, Überleben

fraglich Schädelfraktur mit Hirnstammblutung,

Organ-riss oder -abOrgan-riss 32,32

6 tödlich, derzeit nicht

behandelbar massive Kopfquetschung, Aortaruptur 100,00

41Die Identifikation von Insassen kann beispielsweise durch einen Fingerabdrucksensor beim Starten des Fahrzeuges erfolgen. Die Insassen müssen die Angaben zu den Merkmalen bei der ersten Fahrzeugnutzung abgeben.

Methodik 67

die nur von einer Person am Unfallort oder durch die Übertragung von Bildern von der Unfallstelle erhoben werden können (z.B. herausgeschleuderte Insassen).

Die unabhängigen Variablen in Tabelle 8 sind in die vier Gruppen Fahrzeugmerk-male, Crash-MerkFahrzeugmerk-male, Insassenmerkmale und Nutzungsmerkmale aufgeteilt. Für jede Variable ist die Variablenbezeichnung angegeben, die im Rahmen der Spezifikation der Modelle genutzt wird. Die dargestellten Variablen und deren Ausprägungen sind zum Teil nicht direkt in dieser Form in der NASS/CDS- bzw. GIDAS-Datenbank enthalten, sondern wurden durch die Verknüpfung und Umkodierung mehrerer Variablen gebildet.

Für jede Variable ist das Skalenniveau angegeben, wobei zwischen metrischen, ordina-len, nominalen und nominal binären Variablen unterschieden wird. Die nominal binären Variablen haben nur zwei Ausprägungen und sind dichotom kodiert.

Tabelle 8. Ausgewählte Variablen aus der NASS/CDS- und

GIDAS-Datenbank als Eingangsgrößen für die Prognosemodelle Bezeichnung

Variablen-name Beschreibung Ausprägungen

Erfass-barkeit abhängige Variable

MAIS 3 plus mais3p nb schwere Verletzung des Insassen

(MAIS 3 bis 6) yes (1); no (0) unabhängige Variablen

Fahrzeugmerkmale

Vehicle body type bodytype n Klassifikation des Fahrzeugtyps

in eine Kategorie 2-3 doors/ limou-sine (1); Cabrio (2);

van/ truck (3);

other (4)

a

Vehicle model year modelyr m Baujahr bzw. Jahr der Erstzulas-sung im vierstelligen Jahresfor-mat

[years] a

Vehicle curb weight curbwgt m Leergewicht [kg] a

Airbag (front)

available F fbagavl nb Verfügbarkeit eines Airbags (frontal) für die betrachtete Sitz-position

yes (1); no (0) a

Crash-Merkmale

Total delta V dvtotal m Delta V ist der relative Geschwindigkeitsverlust oder auch die vektorielle Geschwin-dingkeitsdifferenz (Auslauf minus Einlauf) einer Kollision

[km/h] a

Direction of force

(highest) F dof n Prinzipielle Richtung der Kraft (Ergebnis der durch Vektorana-lyse bestimmten Richtung des Stoßimpulses), die bei der Kolli-sion mit dem höchsten delta V auf das Fahrzeug eingewirkt hat (frontal: 11 Uhr bis 1 Uhr; right: 2

rollover F roll nb Überschlag (eine viertel Drehung

und mehr) yes (1); no (0) a

Multi impact multimp nb Mehrfachkollision yes (1); no (0) a

Variablen ausschließlich zur Filterung der Fälle: F

Skalenniveau der Variablen: n - nominal; nb - nominal/ binär; o - ordinal; m - metrisch Erfassbarkeit der Daten: Gruppe a - liegen bereits vor; Gruppe b1 - durch neue Sensorik erfaßbar (Crash-Merkmale); Gruppe b2 - durch neue Sensorik erfaßbar (Insassenmerk-male); Gruppe c - Insassenidentifikation erforderlich

In der letzten Spalte der Tabelle 8 ist für jede Variable eine Bewertung bezüglich des Aufwandes zur automatischen Erfassung der Ausprägungen angegeben. Fahrzeugspezi-fische Merkmale sowie die Variablen, deren Ausprägungen im Regelfall bereits durch die Fahrzeugsensorik erfasst werden, sind für die einfache Erfassbarkeit mit der Bewer-tung a gekennzeichnet. Variablen, für deren Messung neue Sensorik bzw. neue Auswer-tungsalgorithmen erforderlich sind, werden mit b1 bzw. b2 bewertet. Die insassenspezifischen Merkmale, die nur durch eine Insassenidentifikation ermittelt wer-den können, werwer-den bezüglich der Erfassbarkeit als aufwändig und damit mit c beur-teilt. Die Bewertung der Eingangsgrößen nach der Erfassbarkeit ermöglicht einen Vergleich der Leistungsfähigkeit von Prognosemodellen, die Eingangsgrößen mit

unter-Narrow object

colli-sion pole nb Kollision mit einem

pfahlähnli-chen Objekt yes (1); no (0) b1

Airbag (frontal)

deployed fbagdep nb Auslösung des Airbags (frontal)

für die betrachtete Sitzposition yes (1); no (0) a Intrusion for seat

position intrus o Intrusion in den Fahrzeuginnen-raum im Bereich der betrachteten Sitzposition

deforma-tion rimdef nb Verformung des Lenkradkranzes infolge eines Insassenaufpralls (nur für Fahrer)

yes (1); no (0) b1

Deformation extern

(max.) defmax m Maximale äussere

Deformations-tiefe [cm] b1

Insassenmerkmale

Sex of occupant sex nb Geschlecht des Insassen female (1); male (0) c

Age of occupant age m Alter des Insassen [years] c

Weight of occupant weight m Gewicht des Insassen [kg] b2

Height of occupant height m Größe des Insassen [cm] b2

Body Mass Index bmi m Berechnung: Körpergewicht in kg

/ (Körpergröße in m)2 [kg/m2] b2 Nutzungsmerkmale

Occupant’s seat

posi-tion F seatpos n Sitzposition des Insassen driver (FL); passen-ger front (FR); pas-senger rear left (RL); passenger rear right (RR)

a

Seat track seattrackn Sitzeinstellung bei der

betrachte-ten Sitzposition middle (1); rear (2);

forward (3) b1 Belt use beltuse nb Nutzung des Sicherheitsgurtes

durch den Insassen yes (1); no (0) a Bezeichnung

Variablen-name Beschreibung Ausprägungen

Erfass-barkeit

Methodik 69

schiedlichem Erfassungsaufwand einbeziehen. Tabelle 9 zeigt eine Zusammenfassung der unabhängigen Variablen nach der Erfassbarkeit in vier Gruppen.

Tabelle 9. Gruppenzuordnung der Variablen nach Erfassbarkeit

Die ausgewählten Variablen sind nicht alle in direkter Form durch die Fahrzeugsen-sorik messbar (z.B. Intrusion, Pfahlaufprall), sondern müssen zum Teil durch Auswer-tung der Daten verschiedener Sensoren (z.B. Verzögerungsprofil, Deformations-sensoren) berechnet werden. Diese Berechnung soll gemäß Abbildung 9 in der Variab-lentransformation erfolgen. Als Ergebnis liefert die Transformation die Ausprägungen der Variablen gemäß Tabelle 8. Die Vorgehensweise und die Algorithmen zur Variab-lentransformation werden im Rahmen dieser Arbeit nicht betrachtet.

Gruppe Datenerfassung Variablen

Gruppe a keine neue Sensorik

erforderlich bodytype, modelyr, curbwgt, dvtotal, multimp, fbagdep, beltuse

Gruppe b1 neue Sensorik

(Crash-Merkmale) pole, intrus, defmax, rimdef, seattrack Gruppe b2 neue Sensorik

(Insassenmerkmale) weight, height, bmi Gruppe c Insassenidentifikation sex, age