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1.2 Telematische und telemedizinische Technologien in der

1.2.1 Automatische Notrufsysteme

1.2.1.3 Ansätze zur Prognose der Verletzungsintensität und

In der Rettungsleitstelle stellt sich die Frage, mit welcher Dispositionsentscheidung auf eine eingehende automatische Unfallmeldung reagiert werden soll, die beispiels-weise durch die Aktivierung eines Airbags ausgelöst wurde. Die Rettungsleitstelle kann versuchen, im Sprachkontakt mit dem Fahrzeuginnenraum Informationen über die Art des Unfalls, die Anzahl der beteiligten Personen und ihre vitale Gefährdung abzufragen.

Ist dies nicht erfolgreich, muss ein Rettungsmittel auf Verdacht disponiert werden. Falls die Fahrzeuginsassen noch bei Bewusstsein sind und das Fahrzeug noch nicht verlassen haben, können im Gespräch mit ihnen zwar weitergehende Informationen gewonnen werden, doch dabei geht wertvolle Zeit verloren. Die Disposition von Rettungsmitteln auf Verdacht kann bei einer flächendeckenden Einführung von automatischen Notruf-systemen zu einer Überlastung des Rettungsdienstes führen. Statistisch gesehen wird in Deutschland bei ca. 50% aller Unfälle mit Personenschaden ein Airbag ausgelöst, obwohl nur bei ca. 6% der Unfälle Pesonen schwer verletzt wurden.24

Aus diesem Grund liegt es nahe, mit der automatischen Unfallmeldung weitere Informationen über den Unfallhergang, den Fahrzeugzustand, die Anzahl der Fahr-zeuginsassen sowie die Aktivierung und Nutzung von Sicherheitssystemen an die Ret-tungsleitstelle zu übertragen und daraus eine Prognose der Verletzungsintensität der Fahrzeuginsassen durchzuführen. Ein Teil der erforderlichen Daten wird bereits durch die Fahrzeugsensorik erfasst und könnte im FSD (full set of data) an einen Service

Pro-23Italien, UK, Spanien, Schweden, Niederland und Deutschland.

24Ergebnis der eigenen Auswertung der GIDAS-Datenbank.

Ausgangslage und Stand der Forschung 35

vider (SP) übermittelt und dort für eine Prognose der Verletzungsintensität genutzt wer-den.

Dieser Ansatz wurde im Rahmen des EU-Forschungsprojektes AIDER25 untersucht.

Das Ziel des Projektes war die bessere Identifikation einer Notfallsituation nach einem Verkehrsunfall und die Versorgung der Rettungsleitstelle mit einem Maximum an Infor-mationen über den Unfallhergang und den vitalen Status der Fahrzeuginsassen. Um dies zu erreichen, wurde neben der Übermittlung von Daten der Fahrzeugsensorik auch die Übermittlung von Bildern aus dem Fahrzeuginnenraum und von Daten zusätzlicher Beschleunigungssensoren sowie nichtinvasiver biomedizinischer Sensoren26 an eine zentrale Kontrollstelle vorgesehen. In der Kontrollstelle sollen die Daten aufbereitet und als Entscheidungsgrundlage für die Disposition der Rettungsmittel an die Rettungsleit-stelle weitergeleitet werden. Über die vorgesehenen Verfahren zur Prognose der Verlet-zungsintensität und Ableitung von Entscheidungsempfehlungen für die Rettungsleitstelle sind keine Informationen öffentlich verfügbar.

Prognose der Verletzungsintensität

In USA wurde 1996 von der National Highway Traffic Safety Administration (NHTSA) in Zusammenarbeit mit der University of Maryland Medical School ein Pro-jekt zur Untersuchung von Einflussfaktoren auf den Schweregrad von Verletzungen der Fahrzeuginsassen nach Straßenverkehrsunfällen ins Leben gerufen. Im Rahmen des Projektes wurde von Malliaris et al. ein Algorithmus entwickelt, um das Risiko einer schweren Verletzung von Fahrzeuginsassen nach einem Verkehrsunfall zu prognostizie-ren [Malliaris1997]. Der Algorithmus - URGENCY genannt - basiert auf dem logisti-schen Regressionsansatz. Die Parameter der Regressionsfunktion wurden auf der Grundlage der Unfalldatenbank des National Automotive Sampling System/ Crashwort-hiness Data System (NASS/CDS) geschätzt. Als Inputfaktoren (unabhängige Variab-len) wählten Malliaris et al. insgesamt 21 Attribute aus, die den Unfallhergang, das Fahrzeug sowie die Insassen beschreiben. Dabei verwendeten sie sowohl Daten, die durch die Fahrzeugsensorik gemessen werden können (z.B. delta V, Aufprallrichtung, Nutzung des Sicherheitsgurtes), als auch Daten, die in einem Gespräch mit einer Person am Unfallort erfasst werden müssen (z.B. Alter des Insassen, Einklemmung des Insas-sen, Herausschleudern des Insassen).

Augenstein et al. haben den URGENCY-Algorithmus validiert und weiterentwickelt, um ihn zur Prognose der Wahrscheinlichkeit für schwere Verletzungen der

Fahrzeugin-25EU-Forschungsprojekt AIDER (Accident Information from the Vehicle for Optimisation in Management of Rescue Operation), Laufzeit 2001 bis Ende 2004.

26Puls, Blutsauerstoffsättigung, Atemfrequenz, Blutdruck und Körpertemperatur.

sassen nach einem Verkehrsunfall einzusetzen [Augenstein2001, Augenstein2002, Augenstein2003, Bahouth2004]. Das Ziel war die Verbesserung der Entscheidungsfin-dung für die Disposition des Rettungsdienstes, die Triage, den Transport und die Behandlung der Unfallopfer. Die präklinische Notfallversorgung in den USA basiert weitgehend auf einem nicht-ärztlich gestützten Rettungssystem (Paramedic-System).

Das Rettungsdienstpersonal (Paramedics) versucht, die Patienten möglichst schnell in ein Krankenhaus einzuliefern und die Versorgung am Unfallort ausschließlich auf die Stabilisierung des Kreislaufes zu beschränken („Scoop and Run“-Prinzip). Im Gegen-satz dazu wird in Deutschland angestrebt, durch das flächendeckende Notarztsystem bereits am Unfallort eine weiterreichende Behandlung durchzuführen („Stay and Play“-Prinzip). Das nicht-ärztliche Rettungsdienstpersonal muss in den USA am Unfallort den Verletzungsschweregrad der Personen beurteilen, um zu entscheiden, ob ein Transport zu einem Trauma-Center erforderlich ist oder nicht (Triage). Fehlentscheidungen führen zu einer unzureichenden medizinischen Versorgung der Unfallopfer oder zu einer unnö-tigen Belastung medizinischer Ressourcen. Zur Unterstützung der Entscheidungsfin-dung und Verbesserung der Trennschärfe soll die Prognose des URGENCY-Algorithmus eingesetzt werden. Gleichzeitig kann eine Verletzungsvorhersage in der sich anschließenden klinischen Versorgung als Verdachtsmoment für innere Verletzun-gen Verletzun-genutzt werden.

Als Inputfaktoren für die Weiterentwicklung des URGENCY-Algorithmus nutzten Augenstein et al. einerseits Informationen über den Unfallhergang, die von Sensoren eines automatischen Notrufsystems im Fahrzeug erfasst und an die Rettungsleitstelle übermittelt werden können und andererseits - wie bereits Malliaris et al. - zusätzliche Informationen, die durch Zeugen oder Paramedics von der Unfallstelle erhoben werden müssen. Augenstein et al. stellten fest, dass die Aufprallrichtung bei einem Unfall einen signifikanten Einfluss auf das Verletzungsrisiko hat. Gleichzeitig zeigte sich, dass je nach Aufprallrichtung unterschiedliche Inputfaktoren einen signifikanten Einfluss auf das Verletzungsrisiko haben. Aus diesem Grund entwickelten Augenstein et al. für vier unterschiedlichen Hauptaufprallrichtungen jeweils ein separates Prognosemodell. Zur Schätzung der Parameter der logistischen Funktionen nutzten sie die Unfalldaten der NASS/CDS-Datenbank der Jahre 1995 bis 1999.

Der URGENCY-Algorithmus stellt einen Ansatz zur Prognose der Verletzungsinten-sität bei Verkehrsunfällen dar. Für die Prognose sind neben Informationen der Fahr-zeugsensorik Informationen erforderlich, die im Gespräch mit den Fahrzeuginsassen oder zufällig anwesenden Unfallzeugen erhoben werden müssen. Wird die Prognose des URGENCY-Algorithmus nur zur Unterstützung der Entscheidung der Paramedics über den Transport des Verletzten in ein Trauma-Center genutzt, ist dies unproblematisch, da diese Informationen spätestens mit dem Eintreffen der Paramedics an der Unfallstelle

Ausgangslage und Stand der Forschung 37

bekannt werden. Soll die Prognose allerdings zur Unterstützung der Dispositionsent-scheidung über das adäquate Rettungsmittel eingesetzt werden, wie es insbesondere im deutschen Rettungssystem wichtig wäre, sollten alle erforderlichen Informationen bereits mit der automatischen Unfallmeldung in die Rettungsleitstelle übertragen wer-den. Es ist zu untersuchen, welche Prognosegüte erzielt werden kann, wenn ausschließ-lich durch die Fahrzeugsensorik erfassbare Informationen als Inputfaktoren genutzt werden.