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Heute liegen die direktdemokratischen Instrumente und Verfahren durch ihre Aus-differenzierung merkwürdig isoliert nebeneinander. Das Versammlungssystem ist auf übersichtliche Verhältnisse angewiesen und das Urnensystem umfasst nur ein-geschränkte Mitwirkungsrechte. Ohne eine einheitliche rechtsdogmatische Erfas-sung direkter Demokratie erscheinen die einzelnen direktdemokratischen Instru-mente als sui generis und es lassen sich kaum Rückschlüsse auf die Einführung neuer Instrumente/Verfahren oder auch nur auf die Weiterentwicklung der beste-henden ziehen.

14 Vgl. BGE 143 I 272, 279 E. 2.4.1.

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Das Bundesgericht hat die Volksinitiative bereits früh als «Antrag aus dem Volke an das Volk»15 bezeichnet.16 Damit hat es den Grundstein für die These (im Sinne GADAMERs das «Vorurteil»17) dieser Untersuchung gelegt: Alle direktdemokrati-schen Instrumente können als «Anträge aus dem Volk an das Volk» aufgefasst werden. Es wird somit unterstellt, dass eine verfahrensrechtliche Vergleichbarkeit besteht, die in der Lehre kaum je genannt oder gar hervorgehoben wird.

Der Ordnungsantrag eines Stimmberechtigten an der Landsgemeindeversamm-lung, eine Volksinitiative auf Teilrevision der Bundesverfassung – in der Form des ausgearbeiteten Entwurfs oder der allgemeinen Anregung –, das fakultative Refe-rendum gegen einen Beschluss des kantonalen Parlaments oder der Antrag eines Teilnehmers an der Gemeindeversammlung zum Erlass eines Verwaltungsakts:

Alle diese direktdemokratischen Instrumente würden demgemäss als Anträge aus dem Volk an das Volk charakterisiert. Auf dieser behaupteten gemeinsamen Grundlage und Eigenheit aller direktdemokratischen Instrumente baut diese Arbeit auf. Darauf basierend wird eine einheitliche Typologie von Anträgen und ihren Verfahren erarbeitet, die es erlauben soll, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ihnen sichtbar zu machen, zu erklären und allenfalls auch infrage zu stellen.

Es mag nun eingewendet werden, dass mit dieser These ein Rückschritt verbunden sei: Alle direktdemokratischen Instrumente als das Gleiche anzusehen, erscheint vordergründig tatsächlich als Ausdruck mangelnder Differenzierung und mag nicht als geeigneter Ansatz gelten, eine weitergehende Differenzierung und Sys-tematisierung direktdemokratischer Instrumente zu ermöglichen. Wie BENTHAM bemerkt, seien in Europa ein Hund und ein Pferd unterschiedliche Tiere geworden,

15 BGE 25 I 64, 77 E. 5. Diese prägnante und treffende Formulierung dürfte eine Eigen-leistung des Bundesgerichts sein. Dieses konnte sich dabei aber auf die Ausführungen KELLERs (KELLER,Das Volksinitiativrecht nach den Schweizerischen Kantonsverfas-sungen, 57–62) stützen, der die juristische Natur der Volksinitiative ausdrücklich als

«an das Volk gerichteter Antrag» (KELLER, ibid., 60; vgl. auch HILTY,Das Referendum im schweizerischen Staatsrecht, 419: «an das Volk gerichtete Petition») bezeichnet.

16 Vgl. auch FLEINER,Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 398.

17 So bedeutet «Vorurteil» nach GADAMER im Grunde «ein Urteil, das vor der endgülti-gen Prüfung aller sachlich bestimmenden Momente gefällt wird» (GADAMER, Herme-neutik I, 275). Nach seinem Verständnis kann nun dieses Vorurteil im Gegensatz zur heutigen negativen Konnotation des Begriffs nicht nur positiv und negativ gewertet werden, vielmehr ist das Wesen alles Verstehens vorurteilshaftig (GADAMER, ibid., 274 f.; zur Bedeutung des «Vorverständnisses» in der Rechtswissenschaft vgl.

LARENZ/CANARIS,Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 27–33).

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wogegen in Tahiti das erste Pferd ein grosser Hund war.18 Um im übertragenen Sinn zu bleiben, behauptet die leitende These dieser Arbeit jedoch nicht, dass es sich beim Hund und beim Pferd um das gleiche Tier handelt, sondern dass diese beiden Tiere sehr vieles gemeinsam haben: Das eine ist zwar ein Karnivore und das andere ein Herbivore, doch handelt es sich bei beiden um Säugetiere mit ana-tomisch grossen Ähnlichkeiten. Die These soll somit nicht die Unterschiede zwi-schen den direktdemokratizwi-schen Instrumenten übergehen, sondern anhand derer Ähnlichkeiten dabei helfen, Gattung und Arten sowie Unterarten direktdemokra-tischer Instrumente herauszuarbeiten – unabhängig davon, ob diese im Urnen- oder im Versammlungssystem vorkommen.

Die These, dass alle direktdemokratischen Instrumente als «Anträge aus dem Volk an das Volk» verstanden werden können, ist, soweit ersichtlich, neu. Immerhin sei darauf hingewiesen, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Staatsrecht-ler – und daran anknüpfend auch das Bundesgericht – die Volksinitiative für das gleiche wie den Antrag («Anzug») in der Landsgemeinde hielten oder zumindest als ein damit vergleichbares Instrument.19 Ein solches Verständnis hätte die ge-meinsame rechtsdogmatische Erfassung aller direktdemokratischen Instrumente ermöglichen können, wozu es jedoch nicht kam. Viele dieser Autoren fassten die Volksinitiative vielmehr gleichzeitig als eine (qualifizierte) Form der (Mas-sen-)Petition auf,20 was als Hinweis darauf gedeutet werden kann, dass die rechts-dogmatische Differenzierung direktdemokratischer Instrumente noch nicht sehr

18 BENTHAM,Essay on Political Tactics, 45.

19 ORELLI,Das Staatsrecht der schweizerischen Eidgenossenschaft, 103: «In den Urkan-tonen ist die Initiative altes Landrecht; die Verfassungen von Uri, Unterwalden, Glarus, Appenzell a. Rh. enthalten darüber Bestimmungen. […] Man nennt sie hier einfach ‹Anträge› […].» (Verweise unterdrückt); im gleichen Sinne bereits DUBS, Das öffentliche Recht der Schweizerischen Eidgenossenschaft I, 145–147; vgl. auch BGE 25 I 64, 77 E. 5: «Das Initiativrecht ist ein öffentliches Recht, kraft dessen eine Anzahl Stimmberechtigter einen Vorschlag für ein Gesetz oder einen allgemein ver-bindlichen Beschluss einbringen und verlangen kann, dass darüber das Volk befragt werde. Das ist allen Normierungen des Initiativrechts gemeinsam, dass über den Vor-schlag der Initianten der endgültige Entscheid beim Volke steht. Hierin berührt sich die Initiative mit dem Anzugsrecht der Landsgemeindekantone, das in gewissem Sinne wohl als ihr Vorbild bezeichnet werden darf und welches, teilweise nach langem, wechselndem Kampfe mit den Prätentionen der Behörden, überall zum Durchbruch gelangt ist.»

20 HILTY,Das Referendum im schweizerischen Staatsrecht, 419: «Die rechtliche Natur der Initiative ist die einer Petition. Sie unterscheidet sich von dem Petitionsrecht, wel-ches die Eidgenössische Verfassung und alle Cantonsverfassungen gewährleisten, 17

weit fortgeschritten war (etwas maliziös kann auf den tahitischen Hund verwiesen werden).

Die übrigen direktdemokratischen Instrumente (insbesondere das Volksreferen-dum) sprechen dagegen auch diese Autoren nie als Anträge aus dem Volk an das Volk an. Immerhin ist auch diesbezüglich zu ergänzen, dass sie die modernen di-rektdemokratischen Instrumente als Mittel verstanden, das Volk auch in grossflä-chigen, bevölkerungsreichen Territorialstaaten wie bei Landsgemeinden als Ge-setzgeber einzusetzen. Damit sollte das in der «klassischen» Volksversammlung21 als realisiert angesehene,22 nach wie vor anerkannte Prinzip der «Volkssouveräni-tät» auch im modernen Staat verwirklicht werden – neuerdings auf der Grundlage der Gleichheit aller (männlichen!) Bürger.23 Bei solchen Ausführungen bleiben die Autoren jedoch bei sehr allgemeinen Feststellungen. Eine einheitliche rechts-dogmatische Einordnung der Anträge im Urnen- und im Versammlungssystem ist bei ihnen nicht auszumachen.

bloss dadurch, dass sie nicht bloss in der repräsentativen Körperschaft, an die sie ge-richtet ist, behandelt werden muss, was auch bei einer gewöhnlichen Petition der Fall ist, sondern überhaupt nicht definitiv abgewiesen, vielmehr bloss in der Regel nicht empfohlen werden kann, wobei dann dem Volke selbst der eigentliche Entscheid zu-steht. Es ist also eigentlich eine an das Volk gerichtete Petition, welche bloss noch einer Vorberathung und Begutachtung durch die Repräsentanten unterliegt, ganz ähn-lich den ‹Anträgen› der Landsgemeinden.»; vgl. auch DUBS,Das öffentliche Recht der Schweizerischen Eidgenossenschaft I, 145; ORELLI,Das Staatsrecht der schweizeri-schen Eidgenossenschaft, 103.

21 Die klassische direkte Demokratie wird seit jeher mit dem antiken Athen des 5. Jh. v. Chr. und den Landsgemeinden verschiedener vormoderner Schweizer Kan-tone in Verbindung gesetzt. Der wichtigste Vordenker der direkten Demokratie, ROUSSEAU, hielt dieses Regierungssystem nur in einem kleinen Staat mit einer kleinen, sozial weitgehend gleichgestellten Bevölkerung für realisierbar. In diesen ursprüng-lichen Vorstellungen der direkten («reinen») Demokratie fällte das Volk seine Be-schlüsse in einer Vollversammlung.

22 So schreibt etwa HILTY: «[…] es würde sich auch hierin zeigen, dass diese modernen

‹Volksrechte› überhaupt eigentlich bloss die Landsgemeindeeinrichtung in durch die grösseren Verhältnisse nothwendig gemachter und zuletzt überhaupt etwas moderni-sirter Form sind» (HILTY,Das Referendum im schweizerischen Staatsrecht, 419); und:

«Die Landsgemeinde ist, das thut man zum Verständnisse gut stets festzuhalten, das Original dieser ganzen neu-demokratischen Einrichtungen […].» (HILTY, ibid., 419 Fn. 116).

23 Vgl. stellvertretend DUBS,Die schweizerische Demokratie in ihrer Fortentwicklung, 3–5.

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Die gewählte These soll für die Analyse des direktdemokratischen Verfahrens einen verstärkten gegenseitigen Einbezug rechtsdogmatischer Differenzierungen ermöglichen, die sich zu den einzelnen Verfahren herausgebildet haben. In der Lehre kommt dem Urnensystem eine weit grössere Aufmerksamkeit als dem Ver-sammlungssystem zuteil. Gleichzeitig jedoch ermöglicht das Versammlungs-system durch seine Vielfalt an Antragsarten den Teilnehmern eine weit differen-ziertere Mitbestimmung als das Urnensystem. Vor diesem Hintergrund und im Hinblick auf eine Weiterentwicklung der direktdemokratischen Verfahren ver-spricht vor allem die rechtsdogmatische Erfassung der Versammlungsdemokratie neue Einsichten. Diese sollen auch bei der Behandlung von direktdemokratischen Instrumenten des Urnensystems eine rechtsdogmatische Verfeinerung erlauben.

Es ist die Aufgabe jeder Systematik, Verbindungen zwischen den einzelnen darin zu erfassenden Gegenständen herzustellen, ihre Gemeinsamkeiten herauszustrei-chen und Komplexität zu reduzieren. Systematisieren entspricht letztlich der Theoriebildung. Insofern könnte das Ziel dieser Arbeit auch darin gesehen werden, Elemente einer Theorie des direktdemokratischen Verfahrens herauszuarbeiten, die in der Folge für ihre Weiterentwicklung Orientierung, vielleicht gar Leitsätze, bieten kann.24 Angesichts ihres Zwecks, ihres Untersuchungsgegenstands und ih-rer methodischen Ausrichtung kann diese Untersuchung der juristischen Demo-kratietheorie25 zugeordnet werden.

Die direktdemokratischen Verfahrensregeln sind meist rechtlich vorgegeben oder zumindest vorgängig zur von ihnen zu regelnden Beschlussfassung festzulegen.

Ihre Bedeutung für die Geltung und Legitimität der direktdemokratischen Be-schlüsse ist unbestritten.26 Das in dieser Untersuchung verfolgte Erkenntnisinte-resse betrifft die Regeln des Verfahrens der Rechtserzeugung, was von einzelnen Autoren offenbar als eher untypischer Gegenstand einer rechtswissenschaftlichen Untersuchung angesehen wird, da sich diese für gewöhnlich für die aus dem Ver-fahren der Rechtserzeugung hervorgegangenen Normen, deren Auslegung und

24 Im Anschluss an ERNST könnte auch von einer «Abstimmungslehre» der direkten De-mokratie in der Schweiz gesprochen werden, die ebenfalls auf einem «reichhaltigen Erfahrungswissen» basiert, «das sich in einer langen geschichtlichen Entwicklung in immer neuem Umgang mit Abstimmungsfragen herausgeschält hat» (ERNST,Kleine Abstimmungsfibel, 9).

25 Für grundlegende Überlegungen zur juristischen Demokratietheorie vgl. BIAGGINI, De-mokratietheorie – rechtswissenschaftlich betrachtet.

26 Vgl. auch THIELE,Regeln und Verfahren der Entscheidungsfindung, 4.

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Gültigkeit, interessieren.27 Die Konzentration auf Normen, die ein Verfahren re-geln, scheint mir aus einer methodischen Sicht jedoch keineswegs als eine Beson-derheit. Auch solche Normen sind Rechtsnormen, die im hierfür vorgesehenen Verfahren erzeugt wurden und wie alle anderen Rechtsnormen auslegungsbedürf-tig sind. Die Entfaltung des Sinns von Rechtsnormen (die Dogmatik) gilt als

«rechtswissenschaftliches Kerngeschäft»;28 die in dieser Untersuchung ange-strebte Klärung und Ausdifferenzierung der verfahrensrechtlichen Begriffe ist im Wesentlichen juristische Dogmatik, angewendet auf das direktdemokratische Verfahrensrecht.

Auch die angestrebte Herausarbeitung einer einheitlichen Systematik des direkt-demokratischen Verfahrensrechts, wie es in Rechtsnormen niedergeschrieben ist, von den Gerichten angewendet und zu einem nicht geringen Teil weiterentwickelt wird,29 ist als klassische rechtswissenschaftliche Aufgabe anzusehen. Sie dient einem besseren Verständnis des geltenden Rechts; mit dem Vergleich der ver-schiedenen Regelungen auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene eröffnet sie zudem die Möglichkeit eines besseren Verständnisses der Funktionen des Verfah-rensrechts sowie der unterschiedlichen verfahrensrechtlichen Ansätze zu deren Er-füllung.30 Während die Regelungen auf Bundes- und Kantonsebene flächende-ckend erfasst werden, ist dies in Bezug auf die (politischen) Gemeinden nicht der Fall. Von den insgesamt über 2000 Gemeinden werden für jeden Kanton nach dem Zufallsprinzip grössere und kleinere Gemeinden mit Parlament oder mit Gemein-deversammlung berücksichtigt. Das entscheidende Kriterium für die Aufnahme in die Untersuchung ist, dass direktdemokratische Verfahren jeweils über Eigenhei-ten im Vergleich zu jenen auf Bundes- und Kantonsebene aufweisen. Räumen Kantone ihren Gemeinden viel Autonomie bei der Gestaltung ihrer direktdemo-kratischen Verfahren ein und machen diese davon Gebrauch, führt dies angesichts der grösseren Vielfalt dazu, dass mehr Gemeinden dieses Kantons untersucht und in die Arbeit aufgenommen werden.

27 Vgl. THIELE, ibid., 4 f.; ferner LARENZ/CANARIS,Methodenlehre der Rechtswissen-schaft, 18 f.

28 MAHLMANN,Der Staat im Spektrum der Wissenschaften, N 22; vgl. BIAGGINI, Demo-kratietheorie – rechtswissenschaftlich betrachtet, 3.

29 Zur prägenden Rolle des Bundesgerichts bei der (Weiter-)Entwicklung der direkten Demokratie vgl. stellvertretend AUER, Staatsrecht der schweizerischen Kantone, N 955–957.

30 Dazu, dass dies die Ziele sind, welche die Jurisprudenz zu verfolgen hat, LARENZ/ CANARIS,Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 62 f.

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Ein umfassendes Verständnis des Untersuchungsobjekts setzt auch bei einem rechtswissenschaftlichen Erkenntnisinteresse die Berücksichtigung von Erkennt-nissen anderer Forschungsdisziplinen darüber voraus.31 Insbesondere bei der Diskussion der unterschiedlichen Abstimmungs- respektive der Bereinigungsver-fahren im fünften Teil dieser Arbeit wird auf die umfassende wirtschaftswissen-schaftliche, politikwissenschaftliche und mathematische Literatur zu diesem Thema Bezug zu nehmen sein.