• Keine Ergebnisse gefunden

Stimmzwang – Stimmpflicht – Stimmenthaltung

«Stimmvölker»

D. Stimmzwang – Stimmpflicht – Stimmenthaltung

Die Stimmpflicht verpflichtet die Stimmberechtigten zur Teilnahme an Volksab-stimmungen (und Wahlen). Der Stimmzwang belegt die Nichtbeachtung dieser Pflicht mit einer Strafe. Entgegen der Begrifflichkeit ist die Stimmpflicht formaler Natur und bezieht sich nur auf die Teilnahme an einer Volksabstimmung.421

417 In diesem Sinn auch BGer, Urteil 1C_596/2017 vom 19.04.2018 E. 5.2; AGVE 2018 273, 273 E. 5.2. Die Wünschbarkeit von Ausstandspflichten für Parlamentsmitglieder ist kontrovers (siehe dazu Komm ZH KV, Art. 43‑HALLER, ibid., N 17).

418 Vgl. in Bezug auf das Parlament auch BOLZ,Materialien und Kommentare, 431;

Komm ZH KV, Art. 43‑HALLER,N 17.

419 BGE 123 I 97, 110 E. 5d/bb.

420 BGE 125 I 289, 291 E. 3a; BGE 123 I 97, 105–107 E. 4; BISAZ,Das Wahlrecht, N 34.

421 Zum Ganzen siehe HANGARTNER/KLEY,Die demokratischen Rechte, N 34–38 und 197; KLEY,Grundpflichten Privater im schweizerischen Verfassungsrecht, 153–188;

SCHAUB,Die Stimmpflicht als «Nudge».

170

171

Bereits in der Alten Eidgenossenschaft kannten verschiedene Landsgemeinden und Gemeindeversammlungen einen Stimmzwang.422 Die parallele Verbreitung des Stimmzwangs und direktdemokratischer Instrumente im 19. Jahrhundert zeigt die Verbundenheit des Stimmzwangs mit der damaligen Idee der Demokratie.423 Der Stimmzwang hielt sich jedoch in den Kantonen nicht lange.424 Heute kennt der Kanton Schaffhausen als einziger noch den Stimmzwang (für Wahlen und Abstimmungen aller Staatsebenen),425 acht weitere Kantone immerhin noch die Stimmpflicht,426 wobei diese «programmatischen Charakter»427 hat.428 Allerdings

422 KLEY, Grundpflichten Privater im schweizerischen Verfassungsrecht, 162. Dieser Teilnahmezwang hing wesentlich damit zusammen, dass die Landleute an der Lands-gemeinde den Eid erneuern und etwa die Wehrausrüstung zur Inspektion bringen mussten (vgl. BLUMER,Staats- und Rechtsgeschichte II/1, 102 f.; RYFFEL,Die schwei-zerischen Landsgemeinden, 81–83; TOBLER,Der Stimmzwang in den schweizerischen Kantonen, 197 f.).

423 So VUTKOVICH,Wahlpflicht, 30: «Nicht ohne Grund wurde […] darauf hingewiesen, dass überall, wo die obligatorische Abstimmung [= der Stimmzwang] eingeführt ist, beinahe mit kalendermässiger Pünktlichkeit auch das Referendum sich einstellte. Die Wahlpflichtbewegung [= Bewegung zur Einführung des Stimmzwangs] nahm seit dem Jahre 1830, als sie in St. Gallen zum erstenmal greifbare Formen erhielt, immer grössre Dimensionen an, und es kann füglich behauptet werden, dass man überall, wo die wirk-liche Volkssouverenität Wurzel fasste, die säumigen Wahlbürger zur Ausübung ihrer Pflicht zwangsweise anzuhalten begann.»; vgl. auch KLEY,Grundpflichten Privater im schweizerischen Verfassungsrecht, 163.

424 KLEY, ibid., 163–165.

425 SH KV 23 II i.V.m. SH WahlG 9. und dies seit 1876 (BETSCHART,Zum Stand des Schaffhauser Verfassungsrechts – geltendes Recht und laufende Verfassungsrevision, 83; und JOOS,Ein Stadtstaat erfindet Kantonsstrukturen, 44). Die Rede ist jedoch von Stimmpflicht, nicht Stimmzwang, was damit gerechtfertigt wird, dass es sich bei der Busse von – inzwischen – 6 SFr. «mehr um einen symbolischen Betrag mit Gebüh-rencharakter» handelt (Komm SH KV, Art. 23‑DUBACH,88). Verschiedene Versuche, den Stimmzwang abzuschaffen, scheiterten sowohl im Grossen Rat als auch in einer Volksabstimmung 1982 deutlich (SCHNEIDER,Die politischen Rechte der Schaffhauser Kantonsverfassung, 161).

426 Eine Stimmpflicht sowohl in kantonalen als auch in kommunalen Angelegenheiten kennen AG KV 59 II; AI KV 17; GL KV 21 II; NW KV 13 II; OW KV 22 II; TI KV 32;

UR KV 20; eine Stimmpflicht ausschliesslich in Bezug auf Gemeindeversammlungen dagegen ZG KV 17 I.

427 HANGARTNER/KLEY,Die demokratischen Rechte, N 35.

428 Vgl. auch SCHAUB,Die Stimmpflicht als «Nudge», 588 f. Dass die kantonalrechtlich begründete Stimmpflicht auch für eidgenössische Angelegenheiten zulässig ist, ergibt sich aus einer historischen und entgegen einer grammatikalischen Auslegung von 172

verpflichtet auch der Stimmzwang nur zur Teilnahme an einer Abstimmung, wo-mit ihm durch die Einreichung eines leeren Stimmzettels Genüge getan wird.429 Vom Schaffhauser Stimmzwang ausgenommen sind die Stimmberechtigten ab dem 65. Altersjahr.430 Die Sanktion für eine unentschuldigte Nichtausübung des Stimmrechts beträgt 6 SFr.431 Das Gesetz lässt Entschuldigungsgründe dabei grosszügig zu.432

Die Vertreter der organischen Theorie der politischen Rechte befürworteten die Stimmpflicht (und den Stimmzwang) mit dem Argument, dass die Stimmberech-tigten als Teilorgane durch die politischen Rechte verpflichtet sind, ihre Organ-funktion wahrzunehmen.433 Das Bundesgericht und die herrschende Lehre stützen sich auf die daraus gefolgerte Begründung, es handle sich bei der Stimmpflicht um eine Organpflicht.434 Dieses Argument verkennt nicht nur, dass eine Organpflicht das Organ und nicht den Organwalter binden würde,435 eine solche Pflicht würde letzten Endes erfordern, dass eine leere Stimmabgabe, respektive eine Stimment-haltung, ausgeschlossen wäre, was weder bei einer Stimmpflicht noch bei einem

BV 136 (SCHAUB, ibid., 589–592; im Gegensatz dazu stützt sich die h.L. auf BPR 83, vgl. SGK BV3, Art. 136‑KLEY, N 12; HANGARTNER/KLEY, Die demokratischen Rechte, N 37). Nicht befriedigen kann, dass es – gerade im Falle von Schaffhausen mit dem Stimmzwang und der damit zusammenhängenden höheren Stimmbeteiligung (vgl. SCHAUB,Die Stimmpflicht als «Nudge», 585 Fn. 7) – «innerhalb des eidgenös-sisch definierten Stimmkörpers zu seltsamen Ungleichheiten von Kanton zu Kanton»

(BSK BV, Art. 136‑TSCHANNEN,N 15) kommt. Laut SCHNEIDER soll die im Vergleich zu den anderen Kantonen höhere durchschnittliche Stimmbeteiligung im Kanton Schaffhausen allerdings nicht nur auf die angedrohte Busse von – damals – 3 SFr. zu-rückgeführt werden können (SCHNEIDER, Die politischen Rechte der Schaffhauser Kantonsverfassung, 154 Fn. 3).

429 KLEY,Grundpflichten Privater im schweizerischen Verfassungsrecht, 153–155.

430 SH KV 23 II i.V.m. SH WahlG 9 Erster Satz.

431 SH KV 23 II i.V.m. SH WahlG 9 Zweiter Satz.

432 Art. 10 WahlG/SH, dessen Abs. 4 lässt etwa auch die Rückgabe des Stimmrechtsaus-weises innert drei Tagen nach dem Urnengang als Entschuldigung zu. Vgl. auch SCHAUB,Die Stimmpflicht als «Nudge», 588 f.

433 Stellvertretend GIACOMETTI,Das Staatsrecht der schweizerischen Kantone, 208 f.

434 BGE 72 I 165, 169 E. 4; AUER/MALINVERNI/HOTTELIER,Droit constitutionnel suisse I, N 657; HÄFELIN et al., Schweizerisches Bundesstaatsrecht, N 1382; vgl. dazu SCHAUB, Die Stimmpflicht als «Nudge», 592–594.

435 Zur Unterscheidung zwischen Organ und Organwalter siehe oben N 123–125.

173

Stimmzwang der Fall ist436 und überdies bundesverfassungswidrig wäre.437 Zudem ist nicht zu ersehen, worauf sich eine solche Organpflicht stützen soll, denn die oberste Zuständigkeitsordnung ist eine rechtlich nicht abgesicherte «petitio prin-cipii»438.439 Die bedeutende öffentliche Funktion des Stimmrechts kann jedoch eine organinterne Regelung rechtfertigen, die eine Stimmpflicht oder einen Stimmzwang für Organwalter vorsieht.440 Ob eine Stimmpflicht eingeführt wer-den soll oder nicht, ist eine politische Frage;441 bundesverfassungsrechtlich ist ihre Einführung zulässig.

436 Vgl. auch KLEY,Grundpflichten Privater im schweizerischen Verfassungsrecht, 159–

162; SCHAUB,Die Stimmpflicht als «Nudge», 594–597.

437 SCHAUB, ibid., 595.

438 BURCKHARDT,Methode und System des Rechts, 186.

439 BURCKHARDT, ibid.; BURCKHARDT,Die Organisation der Rechtsgemeinschaft, 174;

KLEY,Grundpflichten Privater im schweizerischen Verfassungsrecht, 160, m.w.H.;

vgl. auch MÜLLER,Demokratische Gerechtigkeit, 189; SCHAUB,Die Stimmpflicht als

«Nudge», 597 Fn. 76. Aus verfahrensrechtlicher Sicht kann mit NEF auch darauf hin-gewiesen werden, dass für die Wahrnehmung der Funktion des Stimmvolks eine Teil-nahme an einer Volksabstimmung auch nur eines einzigen Stimmberechtigten deshalb nicht zwingend notwendig ist, da auch ein Schweigen eine fehlende Zustimmung zum Antrag bedeutet, was verfahrensrechtlich nicht ein Verfahrensmangel, sondern ein Be-schluss gegen den Antrag bedeutet (vgl. NEF,Die Fortbildung der schweizerischen De-mokratie, 218; vgl. dazu auch unten N 897 und 903).

440 Vgl. TSCHANNEN,Staatsrecht, § 48 N 14.

441 KLEY,Grundpflichten Privater im schweizerischen Verfassungsrecht, 186. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass eine höhere Stimmbeteiligung entgegen zum Teil in der Lehre vertretenen Ansichten (so etwa FLEINER/GIACOMETTI,Schweizerisches Bundes-staatsrecht, 447; KELSEN,Allgemeine Staatslehre, 357; NUSPLIGER,Bern und Schaff-hausen in guter Verfassung, 397; zu Recht a.A. AUBERT,Traité de droit constitutionnel suisse, 1104–1106; NEF,Die Fortbildung der schweizerischen Demokratie, 216; vgl.

zum Ganzen SCHAFFHAUSER,Die direkte Demokratie in den komplexen Formen der Gemeindeorganisation, 190–201) für sich keine erhöhte Legitimation eines Entscheids bedeutet (vgl. auch LINDER/MUELLER,Schweizerische Demokratie, 348).

§ 11 Die Antragsberechtigten als Volk

I. Die Antragsberechtigten und die Zivil-