• Keine Ergebnisse gefunden

§ 12 Begriff und Funktion im Verfahren

Damit es zu einer Volksabstimmung kommt, müssen direktdemokratische Verfah-ren angestossen werden;517 diese Funktion erfüllt der Antrag an das Stimmvolk.

Gegenstand eines jeden direktdemokratischen Verfahrens ist ein Antrag518.519 Der Antrag ist auf die Änderung des geltenden Rechts520 oder auf ein bestimmtes staat-liches Handeln gerichtet.521

Über einen Antrag ist ordnungsgemäss abzustimmen522 und ein rechtsver-bindlicher Beschluss zu fassen;523 ein Antrag an das Stimmvolk erzwingt eine

517 Die einzige diesbezügliche Ausnahme betrifft das obligatorische Referendum, siehe hierzu unten N 380 f.

518 CRON umschreibt den Antrag folgendermassen: «Der Antrag ist die Willensäusserung eines einzelnen, der darauf hinzielt, seinen Willen mit jenem der Mehrheit zu vereini-gen, um nach aussen einen verbindlichen Willen (Staatswillen) zu erzeugen.» (CRON, Die Geschäftsordnung der Schweizerischen Bundesversammlung, 183). Er bezieht sich dabei auf das Antragsrecht von Parlamentsmitgliedern, doch ist diese Umschrei-bung allgemeingültig.

519 Es ist in einem untechnischen Sinn zwar zutreffend, dass den Stimmberechtigten «eine Frage» unterbreitet wird (vgl. stellvertretend ATTINGER,Die Rechtsprechung des Bun-desgerichts zu kantonalen Volksinitiativen, 1), juristisch von Bedeutung ist dagegen einzig, dass diese Frage den Willen eines Stimmberechtigten zu einem konkreten An-trag festzustellen sucht.

520 Vgl. GVP (ZG) 1987 293, 293: «Die gegen eine Veränderung geltenden Rechts und damit auf dessen Zementierung gerichtete ‹Initiative› ist begrifflich ein Widerspruch in sich selbst.»

521 Im Falle von Ordnungsanträgen kann es sich beim angesprochenen staatlichen Han-deln etwa um die Festlegung eines bestimmten Vorgehens zur Beschlussfassung ge-hen. Im Falle von Sachanträgen sind es insbesondere die Verwaltungsakte, die neben Erlassen zum Gegenstand von Anträgen gemacht werden können.

522 BURGHERR,Versammlungsdemokratie in den Gemeinden, 627; NIQUILLE,Das Bun-desgericht verwaltet sich selbst, 1366; RITZMANN,Das Antragsrecht in der Gemeinde-versammlung, 293: Der Antrag ist «abstimmungsbedürftig»; vgl. auch ERNST,Der Be-schluss als Organakt, 33.

523 Ein Antrag hat keine Verfügungsqualität. Er kann daher nicht als Verfügung angefoch-ten werden, selbst wenn er vom Gemeinderat gestellt wird und die Beschlussfassung beeinflusst (vgl. EGV-SZ 1995 Nr. 47, 117−119 E. 1).

208

209

210

rechtsverbindliche Beschlussfassung in einer Volksabstimmung.524 Der Antrag ist zwingende Voraussetzung eines Beschlusses: Liegt kein Antrag vor, findet auch keine Abstimmung statt und wird kein Beschluss gefasst.525

In Verbindung mit Anträgen ist häufig von «Entwürfen» und «Vorlagen» die Rede. Ich verwende diese Begriffe mit HEINIGER folgendermassen: Ein Entwurf ist ein «ausgearbeiteter Text, der noch der Behandlung und möglichen Abände-rung durch die Bürgerschaft unterliegt», wohingegen eine Vorlage von den Stimmberechtigten nur noch angenommen oder verworfen werden kann (in der Gemeindeversammlung durch die Schlussabstimmung).526

In einem engeren Sinn zielen Anträge auf einen hängigen Beschlussentwurf oder ein hängiges Beschlussverfahren527,528 während sie in einem weiteren Sinn auch die Fassung eines neuen Beschlusses oder die Änderung respektive die Aufhebung eines bestehenden Erlasses bezwecken können.529 Mangels valabler Alternativen

524 Vgl. CARATSCH,Die Initiative zur Verfassungsrevision, 19; METTLER,Das Zürcher Gemeindegesetz, 152; VITAL, Das Verfahren in der bündnerischen Gemeindever-sammlung, 81.

525 Dieser Grundsatz gilt für alle Abstimmungen, auch für solche im Vereinsrecht (vgl.

ERNST,Kleine Abstimmungsfibel, N 65). Eine Volksabstimmung zu einem bestimm-ten Geschäft kann jedoch auch gesetzlich vorgeschrieben sein. In einem solchen Fall ist der Beschlussentwurf zu diesem Geschäft einem Antrag gleichgesetzt, vgl. dazu unten N 380 f.

526 HEINIGER,Der Gemeinderat, 135 Fn. 33, mit Verweis auf die abweichende (synonyme) Verwendung bei GIACOMETTI, Das Staatsrecht der schweizerischen Kantone, 428 und 439.

527 In einem engeren Sinn wird als Beschlussverfahren in dieser Arbeit jener Abschnitt des direktdemokratischen Verfahrens bezeichnet, in welchem den Beschlussberechtig-ten ein Antrag zur Beschlussfassung vorgelegt wird, diese sich dazu eine Meinung bil-den und schliesslich in einer Volksabstimmung ihren Beschluss darüber äussern; das Beschlussverfahren umfasst damit die zivilgesellschaftliche Behandlungsphase und die Beschlussfassung (siehe dazu unten N 535).

528 Vgl. BV 160 II ; und RHINOW/SCHEFER/UEBERSAX, Schweizerisches Verfassungs-recht, N 2438. GIACOMETTI bezeichnet dieses Antragsrecht in einem engeren Sinne auch als «besonderes Volksinitiativrecht» (GIACOMETTI,Das Staatsrecht der schwei-zerischen Kantone, 543).

529 Vgl. GIACOMETTI, ibid., 542 f.; und Komm ParlG, Art. 76‑THELER,N 9; sowie die Ver-wendung in KV NW 54 und passim.

211

212

wird der «Antrag» im Folgenden in diesem weiteren Sinn verwendet.530 Damit beinhaltet der hier verwendete Antragsbegriff sowohl selbständige als auch un-selbständige Anträge.531

Beim Antrag «aus dem Volk» kann sich der Antragsteller auf eine Antragsberech-tigung berufen, die nicht aus seiner Verbindung mit einem anderen Organ als dem Stimmvolk herrührt.532 Ein gültiger Antrag hat sich an das beschlussberechtigte Organ zu richten. Ein Antragsrecht, das die Antragstellung von einer Unterstüt-zung durch ein anderes Organ abhängig macht, kann nach der hier verwendeten Terminologie nicht mehr als direktdemokratisches Instrument bezeichnet werden und wird im Weiteren nicht behandelt.

Der Antrag ist das Mittel, um ein gesellschaftliches Anliegen in einen staatlichen Beschluss umzumünzen; damit kommt ihm eine eminent wichtige Bedeutung an der Grenze zwischen der gesellschaftlichen und der staatlichen Sphäre zu.533 Mit einem Antrag wird ein politisches Anliegen in eine konkrete Form übergeführt, die es erlaubt, sich mit einem «Ja» oder «Nein» für oder gegen den entsprechenden Antrag auszusprechen. Der Antrag abstrahiert und reduziert Komplexität, um einen Beschluss zu ermöglichen, dessen Inhalt er vorschlägt.

Das Antragsrecht beinhaltet grundsätzlich534 auch das Recht, den Antrag kurz zu begründen und ihn als Lösung eines bestimmten Problems darzustellen.535 Die typischen Bestandteile eines Antrags sind: Titel, Ingress, Text und Begrün-dung des Antrags.536

530 Als alternative Bezeichnungen für den Antrag im weiteren Sinn erscheinen «Vorstoss»

oder «Eingabe» als zu untechnisch und breit, «Anzug» dagegen als zu ungebräuchlich und eher zu eng.

531 Siehe dazu unten N 309 und 324.

532 Diese negative Umschreibung soll es zulassen, dass auch Anträge nicht beschlussbe-rechtigter Antragsbebeschlussbe-rechtigter als «Anträge aus dem Volk» verstanden werden können, vgl. zur Unterscheidung zwischen Antrags- und Beschlussberechtigten oben N 67–76.

533 Wo diese Grenze genau verläuft, erschliesst sich aus dem jeweiligen Recht.

534 Als Ausnahme gelten diesbezüglich Begründungen von Volksreferendumsbegehren, vgl. dazu unten N 499.

535 Zur Funktion der Begründung siehe unten N 498.

536 Siehe dazu unten N 484–500.

213

214

215

216