• Keine Ergebnisse gefunden

I. Die Stimmberechtigten als Volk («Stimmvolk»)

A. Begriffliches

Als Stimmvolk i.w.S. werden im direktdemokratischen Verfahren in erster Linie die (potenziell) Stimmberechtigten des jeweiligen Gemeinwesens bezeichnet. In einem engeren Sinn wird unter dem Stimmvolk das Staatsorgan Volk verstanden, welches alle Stimmberechtigten als Organwalter umfasst.181

In diesem engeren Sinn ist das Stimmvolk jenes Staatsorgan, das in seinem Zu-ständigkeitsbereich im hierfür vorgesehenen direktdemokratischen Verfahren Or-ganakte vornehmen und damit für den Staat verbindliche Beschlüsse (Volksent-scheide182) fassen kann. Anträge «an das Volk» sind Anträge an das Stimmvolk.

B. Die Einheit der politischen Rechte und die Gleichheit der Stimmberechtigten

Die Stimmberechtigten üben die dem (Stimm-)Volk eingeräumten Beschluss-rechte aus.183 Da die Beschlussrechte auch die Antragsrechte (und Beratungs-rechte) umfassen, stehen den Stimmberechtigten grundsätzlich alle politischen Rechte des jeweiligen Gemeinwesens – in vollem Umfang – zu.184 Diese politi-sche Gleichwertigkeit der Stimmberechtigten ergibt sich als Erfordernis für alle

181 Siehe dazu unten N 107–125.

182 In der Schweiz wird der Begriff «Volksentscheid» für Beschlüsse des Stimmvolks heute häufiger als der sinngleiche Begriff «Volksbeschluss» verwendet. Ich werde im Folgenden ebenfalls diesem verbreiteteren Begriff den Vorzug geben.

183 Angesichts der etablierten Verwendung des Begriffs der Stimmberechtigten sehe ich davon ab, ihn durch den Begriff der Beschlussberechtigten zu ersetzen.

184 Vgl. TÖNDURY,Toleranz als Grundlage politischer Chancengleichheit, 572.

96

97

98

Gemeinwesen bereits aus dem Demokratiegebot; für die Bundesebene wird sie in der Bundesverfassung auch ausdrücklich angesprochen, wenn es heisst, dass die Stimmberechtigten alle die gleichen politischen Rechte haben.185

Das Verfahren demokratischer Beschlussfassung basiert auf dem Mehrheits-prinzip. Die Gleichheit der Stimmberechtigten ist Voraussetzung der Mehr-heitsentscheidung. Diese Voraussetzung rechtfertigt sich gemäss KELSEN dadurch, dass sie möglichst vielen (Mitentscheidungs-)Freiheit einräumt res-pektive möglichst wenige mit dem Beschluss im Widerspruch stehen lässt.186

185 BV 136 I Zweiter Satz. Dieses Erfordernis ergibt sich grundsätzlich bereits aus IPbpR 25 (vgl. dazu Nowak CCPR Commentary2, Art. 25‑NOWAK,N 8), bundesrecht-lich für die kantonale und kommunale Ebene gemäss TÖNDURY aus BV 34 und BV 51 I (TÖNDURY,Toleranz als Grundlage politischer Chancengleichheit, 541–544, m.w.H.

und einer Diskussion alternativer Begründungen; ähnlich, nämlich für eine Ableitung des gleichen Stimmrechts aus BV 34 II, BISAZ,Das Ausländerstimmrecht, 124; vgl.

auch STEINMANN,Die Gewährleistung der politischen Rechte, 489; abgestützt auf BV 8 I dagegen bspw. BGE 140 I 58, 62 E. 3.3.2).

186 KELSEN,Vom Wesen und Wert der Demokratie (2. Auflage 1929), 159: «Es wäre un-möglich, das Majoritätsprinzip damit zu rechtfertigen, dass mehr Stimmen ein grösse-res Gesamtgewicht haben als weniger Stimmen. Aus der rein negativen Präsumtion, dass einer nicht mehr gelte als der andere, kann noch nicht positiv folgen, dass der Wille der Mehrheit gelten solle. Wenn man das Mehrheitsprinzip allein aus der Idee der Gleichheit abzuleiten versucht, hat es tatsächlich jenen rein mechanischen, ja sinn-losen Charakter, den man ihm von autokratischer Seite vorwirft. Es wäre nur der not-dürftig formalisierte Ausdruck der Erfahrung, dass die mehreren stärker sind als die wenigeren; und der Satz: Macht geht vor Recht, wäre nur insoferne überwunden, als er sich selbst zum Rechtssatz erhöbe. Nur der Gedanke, dass – wenn schon nicht alle – so doch möglichst viel Menschen frei sein, d. h. möglichst wenig Menschen mit ihrem Willen in Widerspruch zu dem allgemeinen Willen der sozialen Ordnung geraten sol-len, führt auf einem vernünftigen Wege zum Majoritätsprinzip.» (Hervorhebungen be-lassen, Hinweise auf Originalnummerierung entfernt). Vgl. auch HANGARTNER/KLEY, Die demokratischen Rechte, N 405; HUSER,Stimmrechtsgrundsätze und Urnenabstim-mungsverfahren, 18 f.; JAGMETTI,Der Bürger im Entscheidungsprozess, 367; USTERI, Ausübung des Stimm- und Wahlrechts nach freiheitsstaatlichen Prinzipien, 394a.

99

Die Demokratie ist geradezu die Staatsform der politisch Gleichberechtig-ten187 – (formale188) politische Gleichheit und Demokratie sind untrennbar und eng miteinander verbunden.189

Wer nach der Definition zum Stimmvolk des Gemeinwesens gehört und die per-sönlichen Voraussetzungen zur Ausübung des Stimmrechts erfüllt, kann somit grundsätzlich alle diesem eingeräumten politischen Rechte alleine oder gemein-sam mit einer bestimmten Anzahl weiterer Organwalter ausüben. Eine Ausnahme vom Grundsatz, dass allen Stimmberechtigten Beschlussrechte zustehen, wird teil-weise auf kantonaler Ebene gemacht, wenn im Rahmen des Ausländerstimmrechts die Beschlussrechte nicht in vollem Umfang eingeräumt werden.190 Solche Aus-nahmen basieren meist auf politischen Überlegungen und können sich im Lichte des Erfordernisses politischer Gleichwertigkeit kaum je rechtfertigen.191

Die Beschlussrechte sind der Kern politischer Rechte. Nichtstimmberechtigten (einschliesslich Antragsberechtigten) können sie grundsätzlich192 nicht

187 Vgl. HANGARTNER/KLEY,Die demokratischen Rechte, N 54. Der im Altgriechischen häufig sinngleich verwendete Begriff isonomía (dieser kann mit «Gleichheitsordnung»

übersetzt werden, vgl. MEIER,Drei Bemerkungen zur Vor- und Frühgeschichte des Begriffs Demokratie, 159) war historisch womöglich gar die ursprüngliche Bezeich-nung für Volksherrschaft, bevor er vom Begriff demokratia abgelöst wurde (so VLASTOS,Isonomia, 337; siehe auch BLEICKEN,Die athenische Demokratie, 66–68 und 538 f.; RAAFLAUB,Einleitung und Bilanz, 46–52; a.A. HANSEN,The Athenian Democ-racy in the Age of Demosthenes, 69 f. und 83; HANSEN,Was Athens a Democracy?, 42 Fn. 140).

188 Vgl. dazu KELSEN,Vom Wesen und Wert der Demokratie (2. Auflage 1929), 220 f.

und passim.

189 Stellvertretend KÄGI, Demokratie, Gleichheit und Egalitarismus, 36 f.; vgl. ferner BISAZ,Das Ausländerstimmrecht, 130 f.

190 Vgl. dazu unten N 148–150.

191 Ausführlich dazu BISAZ, ibid., 129–134; gl.A. TÖNDURY,Toleranz als Grundlage po-litischer Chancengleichheit, 572; vgl. auch SGK BV3, Art. 136‑KLEY,N 3, der darauf hinweist, dass Bestimmungen der aBV, welche die politischen Rechte der eingebür-gerten Stimmberechtigten einschränkten, dem Grundsatz der politischen Gleichheit widersprachen; RUDIN,Ausländische Personen in der Politik, 25.51–25.70; SCHAUB, Ausländerstimmrecht, 87 f.; Komm GR KV, Art. 9‑SCHULER, N 51; a.A. dagegen TSCHANNEN, der eine bloss teilweise Einräumung des Stimmrechts an Ausländer of-fenbar für unproblematisch hält (BSK BV, Art. 34‑TSCHANNEN,N 15).

192 Vgl. aber immerhin die historischen Beispiele in BISAZ,Das Ausländerstimmrecht, 134.

100

101

räumt werden, auch nicht mittelbar oder in beschränktem Umfang. Das Demokra-tiegebot und der Grundsatz der Volkssouveränität sprechen gegen solche Rege-lungen.

C. Begrifflichkeit und Eigenheiten der verschiedenen