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«Stimmvölker»

E. Das Zusammenspiel der beiden Kriterien

Folgende Kantone haben das Auslandschweizer- und/oder in irgendeiner Form das Ausländerstimmrecht auf kantonaler und/oder auf kommunaler Ebene eingeführt:

Ausländerstimmrecht Auslandschweizerstimmrecht

Kanton Kantonal Kommunal Kantonal Kommunal

AG (X)

AR X (fak.)

BE X

BL X X

BS (X) (X)

FR X X

GE X X

GR X (fak.) X X (fak.)

JU X X X

NE X X X X

SO X

SZ X

TI (X) (X)

VD X

ZH (X)

386 Da es hierbei um die rechtliche Definition des Stimmvolks ginge, müsste eine solche kollektive Betroffenheit ausschlaggebend sein. Das Abstützen auf eine individuelle Betroffenheit des jeweiligen Auslandsschweizers verkannte die kollektive Dimension des Stimmrechts. Grosse Bedeutung käme angesichts der Unbestimmtheit des Kriteri-ums der Betroffenheit der Instanz zu (wie sollte diese besetzt werden?), welche über die Betroffenheit entscheiden dürfte, was Missbrauchspotenzial mit sich brächte.

Vgl. zum Ganzen auch HORLACHER,Die politischen Rechte der Auslandschweizer, N 128–142.

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Aus dieser Zusammenschau ist ersichtlich, dass alle Kantone ausser zwei (Appen-zell Ausserrhoden und Waadt), die das Ausländerstimmrecht in irgendeiner Form kennen, auch das Auslandschweizerstimmrecht eingeführt haben. Bemerkenswert ist insbesondere, dass die beiden Kantone Jura und Neuenburg sowohl Ausländern als auch Auslandschweizern das kantonale, der Kanton Neuenburg gar auch das kommunale, Stimmrecht einräumen. Es kann damit nicht gesagt werden, die «Ter-ritorialdemokratie» (Anknüpfung des Stimmrechts an den Wohnsitz) dränge die

«Bürgerdemokratie» (Anknüpfung des Stimmrechts an das Bürgerrecht) zurück.

Die Gründe für die Einführung des Auslandschweizerstimmrechts widersprechen in letzter Konsequenz jenen für die Einführung des Ausländerstimmrechts. Wenn neben dem Wohnsitz auch das Bürgerrecht für ausreichend empfunden wird, um einer Person das Stimmrecht einzuräumen, dann kann das Argument nicht über-zeugen, dass die Normunterworfenen oder die besonders Betroffenen auch die Normerzeuger sein müssten. Die Auslandschweizer sind dies in den seltensten Fällen. Wird dagegen das mitgliedschaftliche Sonderverhältnis der Bürger hervor-gehoben, ist es kaum verständlich, weshalb Nichtmitglieder stimmberechtigt sein sollten. Das Bürgerrecht und das Wohnsitzerfordernis können, wie aufgezeigt, in unterschiedlichem Ausmass zusammenspielen; erst die gleichzeitige Zulassung des Ausländerstimmrechts und Auslandschweizerstimmrechts führt zu einem ge-wissen demokratietheoretischen Widerspruch.

Vor diesem Hintergrund überrascht, dass das Ausländer- und das Auslandschwei-zerstimmrecht nicht nur nebeneinander bestehen, sondern häufig auch gleichzeitig oder kurz aufeinanderfolgend eingeführt wurden. Gemeinsam haben sie, dass sie das Stimmvolk ausweiten. Steht die fragwürdige Ansicht dahinter, dass je grösser der Personenkreis ist, umso legitimierter seien die von ihm gefassten Entscheidun-gen? Ist die Ausweitung des Personenkreises der Weg des geringsten Wider-stands? Ist diese Entwicklung womöglich auf das von BIAGGINI angesprochene

«wachstumsorientiert-technokratische Denken»387 zurückzuführen? Die Tatsache, dass sowohl das Auslandschweizer- als auch das Ausländerstimmrecht häufig im Rahmen von Totalrevisionen von Kantonsverfassungen eingeführt worden sind,388

387 BIAGGINI,External Voting, 470.

388 Für die Einführung des Ausländerstimmrechts im Rahmen einer Totalrevision im Kan-ton Basel-Stadt vgl. CARONI,Herausforderung Demokratie, 39; für jene im Kanton Graubünden vgl. CARONI, ibid.; und TANQUEREL,Les électeurs étrangers, 202; für jene im Kanton Neuenburg vgl. CARONI,Herausforderung Demokratie, 38; im Kanton Jura wurde das Ausländerstimmrecht mit der Gründung in die Verfassung eingeführt, vgl.

BUSER,Das Ausländerstimmrecht aus juristischer Sicht, 404. Im Kanton Genf wurde 158

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sowie die dürftigen Argumente, die mitunter zugunsten des Auslandschweizer-stimmrechts ins Feld geführt wurden und offenbar für dessen Einführung ausreich-ten,389 vermögen das zumindest nicht ganz auszuschliessen.

Eine alternative Sicht eröffnet die Feststellung, dass das Auslandschweizerstimm-recht auf Bundesebene ganz, auf kantonaler Ebene vereinzelt und auf Gemeinde-ebene selten eingeräumt wird, wogegen sich diese Kaskade beim Ausländerstimm-recht genau umgekehrt präsentiert: Auf Bundesebene wird es nicht, auf kantonaler Ebene nur sehr vereinzelt und auf Gemeindeebene am häufigsten eingeräumt. Die-ses Zusammenspiel der beiden Kriterien kann damit begründet werden, dass Aus-landschweizer stärker von Beschlüssen auf Bundesebene betroffen sein dürften, wogegen Ausländer mit Wohnsitz in der Schweiz am meisten durch Gemeindebe-schlüsse berührt werden und die politische Mitwirkung in ihrer Wohngemeinde für ihre Integration die bedeutendste Einheit ist.390 Insofern mag das Zusammen-gehen der beiden Kriterien dem Anliegen entspringen, das Stimmrecht an der Be-troffenheit der jeweiligen Personengruppe auszurichten. Dabei darf jedoch nicht vergessen gehen, dass das Ausländerstimmrecht eine Ausnahmeerscheinung ist und die meisten damit verfolgten Ziele durch die Möglichkeit einer raschen und

das Ausländerstimmrecht hingegen aufgrund einer Volksinitiative eingeführt, vgl.

dazu CARONI,Herausforderung Demokratie, 38. In Bezug auf das Auslandschweizer-stimmrecht siehe BUNDESKANZLEI,Bundesverfassung, Auslandschweizer, Stimmbe-rechtigte und Ständeratswahlen, 7; HORLACHER,Die politischen Rechte der Ausland-schweizer, N 294.

389 Keine überzeugenden Argumente lassen sich etwa der Botschaft der Bündner Regie-rung an den Grossen Rat 10/2001−2002, Nr. 12 zur Totalrevision der Kantonsver-fassung, 479–562, 503 entnehmen. In den Ausführungen zum einschlägigen Art. 11 III/IV des Verfassungsentwurfs, dem heutigen GR KV 9 III/IV, in dem das Ausländerstimmrecht ins Bündner Recht eingeführt wird, wird hierzu positiv erwähnt, dass die Ausdehnung auf die Auslandschweizer «zu keinem nennenswerten Mehrauf-wand» führe und diese «aufgrund der geringen Anzahl keine Verzerrung des Abstim-mungsresultates zur Folge» habe (e contrario: die Einräumung des Auslandschweizer-stimmrechts verzerrt die Abstimmungsergebnisse im Grunde). Implizit wird weiter darauf angespielt, dass das Auslandschweizerstimmrecht auf Bundesebene eingeräumt wird und festgestellt, die «Heimatverbundenheit» der Auslandschweizer zum Kanton sei «wohl kaum geringer als jene zur Eidgenossenschaft». Selbst die «in der Regel auf die grossrätlichen Erläuterungen» beschränkte Meinungsbildung zu kantonalen Vorla-gen im Ausland stehe einer Ausdehnung «gerade weVorla-gen der strikten AnforderunVorla-gen an die behördliche Information» nicht im Wege.

390 Vgl. HORLACHER, ibid., N 410 f.

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einfachen Einbürgerung erreicht werden könnten. Ist eine solche Einbürgerungs-möglichkeit gegeben, kann das Nichtbestehen des Ausländerstimmrechts meiner Ansicht nach nicht als «Fehlen» bezeichnet werden, vielmehr erschiene es dann als obsolet.391 Das Ausländerstimmrecht ist damit nur in beschränktem Masse das Gegenstück des Auslandschweizerstimmrechts.

Eine stringentere Regelung des Erwerbs des Stimmrechts und dessen Verlusts auf den verschiedenen Staatsebenen wäre jedoch wünschenswert. Dass das Auslän-derstimmrecht erst nach einer bestimmten Wohnsitzdauer eingeräumt wird, hat gute Gründe. Demgegenüber überzeugt es nicht, dass das Auslandschweizer-stimmrecht unbefristet erteilt wird.392

In Bezug auf die Aufnahme neuer Stimmberechtigter herrscht heute in der Lehre weitgehend Einigkeit, dass es der politischen Gleichheit und dem Demokratie-gebot widerspricht, wenn den definitiv in der Schweiz niedergelassenen Personen über Generationen hinweg die politischen Rechte durch eine systematische Nicht-einbürgerung und ein Fehlen des Ausländerstimmrechts vorenthalten werden.393

391 Bisweilen wird die Einführung eines Ausländerstimmrechts allerdings als Integra-tionsförderungsmittel befürwortet, was dafürspräche, das Ausländerstimmrecht in je-dem Fall einzuräumen.

392 Vielmehr wäre das Auslandschweizerstimmrecht nur für eine bestimmte, maximale Abwesenheitsdauer einzuräumen und allenfalls auch von einer minimalen Aufenthalts-dauer in der Schweiz abhängig zu machen (vgl. HORLACHER, ibid., N 415–417 und 492). Die Schwierigkeit bestünde allerdings darin, angesichts der unterschiedlichen Kompetenzen im Bereich der politischen Rechte auf Bundesebene und auf kantonaler Ebene, eine gemeinsame Lösung zu finden und nicht neue Ungleichheiten einzuführen (vgl. HORLACHER, ibid., N 440). HORLACHER nimmt demgegenüber die in der Politik andiskutierte Idee einer direkten Vertretung der Auslandschweizer im Bundesparla-ment auf (HORLACHER, ibid., 441–488); dass sich eine solche Aufwertung des Aus-landschweizerstatus angesichts der verbreiteten grundsätzlichen Zweifel bezüglich der Betroffenheit der Auslandschweizer von Entscheidungen des Schweizer Gesetzgebers rechtfertigen könnte, erscheint fraglich.

393 Stellvertretend KLEY,Politische Rechte, N 19; vgl. auch CARONI,Herausforderung De-mokratie, 46–55; HANGARTNER,Ausländer und schweizerische Demokratie; R ÜEG-GER,Demokratie – Politische Rechte für Ausländerinnen und Ausländer.

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