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Die dualistische Rechtsnatur der politischen Rechte der politischen Rechte

§ 8 Der ideologische Volksbegriff

II. Die dualistische Rechtsnatur der politischen Rechte der politischen Rechte

Die herrschende Lehre und die bundesgerichtliche Rechtsprechung schreiben den politischen Rechten eine dualistische Natur zu.92 Auf der einen Seite handle es sich um individuelle Rechte, auf der anderen Seite komme diesen eine staatliche (Organ-)Funktion zu. Der individuelle Aspekt kommt bei der systematischen Einordnung von BV 34 unter dem 2. Titel: Grundrechte, Bürgerrechte und Sozi-alziele zum Ausdruck.93 Der kollektive Aspekt wird darin sichtbar, dass der Volks-entscheid als Ergebnis kollektiv ausgeübter politischer Rechte dem Staat zuge-rechnet wird.

In der Lehre wurde die Frage nach der Rechtsnatur der politischen Rechte bereits früh94 und in der Schweiz «mit besonderer Akribie»95 bearbeitet. Die praktische Relevanz ihrer Beantwortung hält sich jedoch in engen Grenzen. Auch wenn die Diskussion über die Rechtsnatur der politischen Rechte teils als unfruchtbar96 oder gar «esoterisch»97 angesehen wird, können nach NOWAK die dazu vertretenen Theorien als «wertvolle Entscheidungshilfen» für Rechtspolitiker und als «Grund-gerüst für die Interpretation des positiven Rechts» dienen.98 Für die prozessuale

92 BGE 119 Ia 167, 172 E. 1d: «Durch das politische Stimm- und Wahlrecht nehmen die Bürger nämlich nicht nur ein Recht, sondern zugleich eine Organkompetenz und damit eine öffentliche Funktion wahr.»; BGE 99 Ia 724, 730 E. 1: «Mit dem politischen Stimm- und Wahlrecht dagegen übt der Bürger neben einem Individualrecht gleichzei-tig auch eine Organkompetenz und damit öffentliche Funktionen aus.»; AUBERT,Traité de droit constitutionnel suisse, supplément, N 1101; AUER/MALINVERNI/HOTTELIER, Droit constitutionnel suisse I, N 655–657; HÄFELIN et al., Schweizerisches Bundes-staatsrecht, N 1381 f.; HANGARTNER/KLEY,Die demokratischen Rechte, N 36; KUONI, Rechtliche Problemfelder direkter Demokratie, N 68; MAHON,La citoyenneté en droit public suisse, N 4–8; RHINOW/SCHEFER/UEBERSAX,Schweizerisches Verfassungsrecht, N 2060; SAILE/BURGHERR,Das Initiativrecht der zürcherischen Parlamentsgemeinden, N 101; TORNAY,La démocratie directe, 8; TSCHANNEN,Staatsrecht, § 48 N 11–15.

93 Mit der Aufnahme der politischen Rechte in den Grundrechtskatalog von Verfassun-gen erübrigten sich viele Theorien, namentlich die funktionalistischen (NOWAK, Poli-tische Grundrechte, 158).

94 Vgl. etwa VUTKOVICH,Wahlpflicht, 66–88.

95 NOWAK,Politische Grundrechte, 158.

96 SPÜHLER,Die Schranken der politischen Rechte, 9.

97 AUER,Les droits politiques dans les cantons suisses, 27.

98 So NOWAK,Politische Grundrechte, 158.

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Durchsetzung der politischen Rechte mit der heute weit gefassten Beschwerdebe-fugnis in Stimmrechtsangelegenheiten ist die Frage nach ihrer Rechtsnatur kaum mehr relevant.99

Dogmatisch könne die herrschende dualistische Theorie nicht vollends überzeu-gen, da die gleichzeitige Ausübung eines individuellen Rechts und einer kol-lektiven Funktion (Organkompetenz) zu einem Ergebnis führe, das «absurde et insoutenable» sei.100 Die Ausübung der Staatsgewalt wäre demnach nichts anderes als die Ausübung eines individuellen Rechts und das individuelle Recht hätte die Staatsgewalt zum Inhalt.101 Weder die Staffelung der individuellen und kol-lektiven Aspekte noch die Substitution der einen durch die andere konnten sich jedoch in der Lehre durchsetzen.102 Auch die monistischen Theorien wie die sub-jektivrechtliche Konzeption des Stimmrechts als individuelles Recht gegen den Staat und die funktionelle Theorie des Stimmrechts als Pflichterfüllung für den Staat widersprechen dem in der Schweiz vorherrschenden Grundverständnis der Demokratie und der «eingelebten und teils auch normativ verfestigten Übungen der politischen Rechte».103

Auch die im Wesentlichen von GIACOMETTI geprägte organische Theorie konnte sich in der Lehre gegenüber der dualistischen Konzeption nicht durchsetzen,104 obwohl ihr eine «einheitliche Perspektive» und interne Kohärenz attestiert wird.105 Die organische Theorie ordnet die politischen Rechte dem objektiven Recht zu, dem in diesem Bereich ein «hohe[r] Grad der Individualisierung»106

99 Vgl. TSCHANNEN,Staatsrecht, § 48 N 15.

100 AUER,Les droits politiques dans les cantons suisses, 16 f.

101 AUER, ibid., 17.

102 Eine Übersicht über die verschiedenen Theorien vermitteln insbesondere AFFOLTER, Die rechtliche Stellung des Volkes, 77–126; AUER,Les droits politiques dans les can-tons suisses, 11–22; NOWAK,Politische Grundrechte, 152–160; WINZELER,Die politi-schen Rechte des Aktivbürgers, 36–41.

103 So zu Recht TSCHANNEN,Stimmrecht und politische Verständigung, N 24.

104 Diese Theorie wird insbesondere vertreten bei AFFOLTER,Die rechtliche Stellung des Volkes, 76–101; GIACOMETTI,Das Staatsrecht der schweizerischen Kantone, 206–211;

ferner DECURTINS,Die rechtliche Stellung der Behörde im Abstimmungskampf, 13.

105 Vgl. AUER,Les droits politiques dans les cantons suisses, 21 f.; TSCHANNEN, Stimm-recht und politische Verständigung, N 26.

106 GIACOMETTI,Das Staatsrecht der schweizerischen Kantone, 210; daran anschliessend AFFOLTER,Die rechtliche Stellung des Volkes, 104 und passim.

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ben wird, ohne dass diese hierdurch zu subjektiven öffentlichen Rechten oder In-dividualrechten verdichtet würden. Dieser im Hinblick auf den individuellen As-pekt nebulös bleibende Ansatz kontrastiert zur Vorstellung, dass die politischen Rechte auch individuelle Ansprüche zeitigen, was die organische Theorie bereits früh wirklichkeitsfern erscheinen liess.107

Dass das Stimmvolk als Staatsorgan handelt, erscheint mir zweifellos richtig. Die politischen Rechte sind als Organwalterkompetenzen aufzufassen; wer an einer Volksabstimmung mit seiner Stimme an der Beschlussfassung teilnimmt, handelt als Organwalter respektive nimmt Rechte wahr, die ihm das objektive Recht in seiner Funktion als Organwalter zuschreibt.108 Insoweit ist meiner Ansicht nach der organischen Theorie beizupflichten.

Was die organische Theorie hingegen nur unbefriedigend erfassen kann, ist die heute mit BV 34 ebenfalls unzweifelhaft vorhandene individuelle Dimension der politischen Rechte. Als Grundrechte vermitteln die politischen Rechte dem Indi-viduum ein Individualrecht darauf, dass sie als Organwalter des Stimmvolks aner-kannt werden – mit all den damit verbundenen Rechten und Pflichten. Die politi-schen Rechte dienen der Beschlussfassung des Stimmvolks als Staatsorgan und

107 Vgl. AUER,Les droits politiques dans les cantons suisses, 22; und TSCHANNEN, Stimm-recht und politische Verständigung, N 26. Es dürfte insbesondere das als Gegensatz gedachte Verhältnis zwischen Staat und Bürger sein, das der organischen Theorie ent-gegensteht (vgl. etwa TSCHANNEN, ibid.). Ein Gegensatz, der beim genossenschaftli-chen Demokratieverständnis (darauf verweist auch GIACOMETTI,Das Staatsrecht der schweizerischen Kantone, 209) oder beim rousseauistischen Staatsverständnis fehlt. In seiner rechtsvergleichenden Studie kommt NOWAK zum Schluss, dass die politische Freiheit im demokratischen Verfassungsstaat westlicher Prägung «prinzipiell subjek-tiviert und individualisiert» erscheine (NOWAK,Politische Grundrechte, 158). Auch wenn die Vorstellung der Bürger als «Teilorgane» heute angesichts individualistisch geprägten Denkens ungewohnt und etwas irritierend wirkt, so bleibt die organische Theorie für das Verständnis der Funktion der politischen Rechte im politischen System von Bedeutung. Wenn das Recht den Kreis der Stimmberechtigten festlegt und in Form politischer Rechte über Inhalt und Tiefe des Anrechts der Bürger auf Teilnahme an der staatlichen Entscheidfindung bestimmt, scheint es nicht abwegig, die kollektive Funk-tion der politischen Rechte im Vordergrund zu sehen. Ungeachtet der individualisti-schen Formulierung steht der Schutz einer korrekten kollektiven Entscheidfindung auch beim gerichtlich einklagbaren «Anspruch jedes Stimmberechtigten» im Vorder-grund, dass kein Wahl- oder Abstimmungsergebnis anerkannt wird, das nicht den freien Willen der Stimmberechtigten zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt.

108 Zum Begriff des Organwalters siehe unten N 123–125.

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kommen dessen Organwaltern zu. Die politischen Rechte als Grundrechte vermit-teln diese Organwalterrechte dem Individuum.109 Das Ineinandergreifen der poli-tischen Rechte als Individualrechte und als Organkompetenzen geht jedoch noch weiter, was meiner Ansicht nach in der bisherigen dogmatischen Behandlung zu wenig berücksichtigt wurde. BV 34 «individualisiert» die Organkompetenzen nicht nur, sondern vermittelt den Organwaltern auch Ansprüche darauf, wie die Organwalterrechte auszugestalten und auszuüben sind. So sind etwa der Anspruch auf Organwalterstellung und die Gleichheit der Rechte der Organwalter individu-elle Ansprüche, die das Individuum vom Staat einfordern kann und die heute von BV 34 als politische Rechte dem Individuum gewährleistet werden. Insofern ist eine individual- und grundrechtliche Dimension der politischen Rechte un-zweifelhaft.

Die von der organischen Theorie gegen die dualistischen Theorien eingewandten theoretischen Unzulänglichkeiten110 verkennen meiner Ansicht nach die eigentli-che Besonderheit der Organwalterstellung des Stimmberechtigten im Stimmvolk:

Der Stimmberechtigte kann bei der Ausübung der politischen Rechte seine eige-nen Interessen verfolgen und wird in seiner Handlungsfreiheit durch die Organ-stellung selbst bei der Ausübung seiner Organwalterrechte nicht eingeschränkt.

Die Organfunktion führt nicht dazu, dass der Stimmberechtigte ein von seinen In-teressen abweichendes Staatsinteresse zu verfolgen hätte, wie das üblicherweise bei der Wahrnehmung einer Organwalterfunktion der Fall ist. Vielmehr ist es ge-rade die Idee der Demokratie, dass die Stimmberechtigten mit ihrem freien indi-viduellen Willen als Organwalter gemeinsam Beschlüsse fassen, die das künftige Staatsinteresse festlegen. Aus diesem Grund ist es nicht zuletzt für den Stimmbe-rechtigten ohne Bedeutung, ob er die politischen Rechte als Organwalter oder als Individuum ausübt.111

109 Insoweit kann die grundrechtliche Absicherung ohnehin eingeräumter Rechte über-flüssig erscheinen.

110 Vgl. hierzu insbesondere die Ausführungen AFFOLTERs (AFFOLTER,Die rechtliche Stellung des Volkes, 121–126).

111 Zweifelhaft erscheint mir daher die Aussage GIACOMETTIs: «Auch der einzelne Stimm-berechtigte will in der Referendumsdemokratie mit seiner Stimmgebung nicht ein subjektives Recht ausüben, sondern zur Bildung des staatlichen Willens im Sinne der Erzeugung eines Gesamtaktes beitragen.» (GIACOMETTI,Das Staatsrecht der schwei-zerischen Kantone, 208).

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Im Gegensatz zur organischen Theorie hält TSCHANNEN die dualistische Konzep-tion gar für eine «theoretische Notwendigkeit», deren inneren Spannungen auszu-halten seien, denn diese Widersprüche spiegelten nur jene der funktionalen Diffe-renzierung von Staat und Gesellschaft als zweier Handlungszusammenhänge im Gemeinwesen.112 Diese Ansicht vermag angesichts des geltenden Rechts, der Übung der politischen Rechte und der dogmatischen Grundlagen am meisten zu überzeugen.113