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Standardisierung von Vokallänge und –qualität

1.3 Prosodischer Wandel

1.3.1 Standardisierung von Vokallänge und –qualität

Die ‚Dehnung in offener (Ton-)Silbe’ (Open syllable lengthening, OSL) hat sich in der Entwicklung hin zum Standard durchgesetzt. Dieser Prozess führte dazu, dass im Nhd. eine Abhängigkeit von Vokallänge (und -qualität) und Silbentyp (offen/geschlossen; s. Kap. 1.1) herrscht; die distinktive Vokalquantität verliert ihren phonemischen Status.

In manchen oberd. Mundarten ist die Vokalquantität dagegen bis heute frei geblieben – ein archaischer Zustand, der auch im heutigen Berndeutschen zu finden ist. OSL wird von einigen Forschern, die zum Oberdeutschen (Obd.) gearbeitet haben, zeitlich nach der ‚Dehnung in geschlossener Silbe’ (Closed syllable lengthening, CSL) verortet. Die Reihenfolge ist dabei wie folgt: (1) Dehnung von Monosyllaben vor Lenes (CSL) in den Etappen: (a) Dehnung von tiefen Vokalen, Dehnung vor <r, l, n, m>; später: Dehnung vor Frikativen; (b) Dehnung von hohen Vokalen, Dehnung vor Verschlusslauten; (2) Dehnung in offener Silbe (OSL) in der Abfolge (a), (b) (NAIDITSCH 1997, 262; KUSMENKO 1995, 84ff.; vgl. PAGE 2001, der

„Hesselmans Gesetz“ zum Nordgermanischen auf das Obd. anwendet).37

37 Diese Analyse wendet sich gegen die von PAUL 1883 vorgebrachte Deutung von OSL als kompensatorischer Dehnung. Die Lehrmeinung für die Entwicklung des Standards ist, dass CSL eine analogische Restrukturierung darstellt, um die Lang-Kurz-Alternation im Paradigma aufzulösen, die durch das Wirken von OSL entstanden war (vgl. WIESINGER 1983a). Das Auftreten von OSL wird wiederum zurückgeführt auf seine Funktion als kompensatorisches Ausgleichsphänomen für die Endsilbenreduktion vom Ahd. zum Mhd. (PAUL) bzw. als Ausgleich für das Wirken der Auslautneutralisierung (AUER 1989a). AUER 1989a argumentiert (nach WIESINGER

1983), dass sich Standard und Dialekt deshalb unterschiedlich entwickelt haben, weil nur der Standard Lenis und Fortis im Wortauslaut nicht mehr unterscheidet. Der Standard unterscheidet danach zwei mhd. Silbentypen: 3-morige Einsilbler vs. 3- oder 4-3-morige Zwei- oder Dreisilbler (bzw. nach anderer Art der Morenzuweisung: 2-morige Monosyllaben sowie 2- und 3-2-morige Polysyllaben). OSL beseitigt dieses Ungleichgewicht in den Polysyllaben des Standards durch Hinzufügen einer weiteren More („Morenaddition“). In Folge kommt es zum analogischen Ausgleich im Paradigma (T[a:]ge ~ T[a:]g) – zur Entwicklung im Alemannischen vgl. Fußnote 41.

Für eine alternative Begründung von OSL, der Maximierung des germanischen Fußes, s. LAHIRI/DRESHER 1999.

Am Bernd. kann gezeigt werden, dass diese Prozesse bis zu einem bestimmten Punkt in dieser Reihenfolge durchgeführt wurden: Die Dehnung der Vokale vor Lenis (d.h. (1) (a) und (b)) findet sich synchron ausnahmslos, vgl. bernd. B[ɑ:]d, H[u:]s; S[ɪ:]b (Bad; Haus; Sieb). Dies wird standardmäßig erklärt mit der Regel, dass ein Wort minimal bimoraisch sein muss.

Dehnung in offener Silbe tritt im Bernd. nur sporadisch auf, hauptsächlich in tiefen Vokalen (vgl. SDS II, 87, 88: sägen, tragen) und unregelmäßig vor <r, l, n> (z.B. SDS II 30: Beere).

Typischerweise sind sowohl die Kürze als auch die Vokalqualität bewahrt, z.B. in bernd.

s[ɪ]be, T[ʏ]ri, Bäse (sieben; Türe; Besen). Alternativ wurde der nachfolgende Konsonant gelängt. Dies war vor allem bei <m> und <t> der Fall, vgl. Wätter, Chrotte (s. Daten in Abschnitt 1.2.2). Ost- und nordschweizerd. Dialekte können OSL weitergehend durchgeführt haben (vgl. KRAEHENMANN 2003a; 2003b).

In vielen Analysen, die nicht notwendigerweise diese Abfolge von CSL und OSL vertreten, wird als Grund für CSL bzw. OSL die Standardisierung des Silbengewichts genannt. Wie gestaltet sich das Morenzählen vor und nach diesen Prozessen? KUSMENKO (1995) beschreibt, wie skandinavische und oberd. Reliktmundarten ebenso wie die altgermanische Sprache die Moren im Silbenreim zählen. Prosodisch äquivalent – und mit je 2 Moren assoziiert – sind CV: ~ CVC(C) ~ CV.CV (z.B. aisl. bí.ta, kas.ta, ta.la, d.h. /bi:-/, /kas-/ und /tala/ sind prosodisch gleichwertig, die Wörter bíta, kasta sind ingesamt 3-morig).38 Die Einsilbler-dehnung (CSL), die von der Silbenstruktur CVC zu CV:C oder CVC: führt, stellt für KUSMENKO (1995, 83ff.) eine erste Quantitätsverschiebung hin zu bimoraischen

Mono-syllaben dar. OSL, die darauffolgende 2. Quantitätsverschiebung, hat die Standardisierung der Quantität in der betonten Wurzelsilbe von Disyllaben der Struktur CV.CV zur Folge. Dies wird durch die Dehnung von Vokal oder Konsonant in der Wurzelsilbe erreicht, die danach stets 2-morig ist. Die Standardisierung der Quantität („Isochronie“) führt zur Abschaffung der alten Vokal- und Konsonantquantitäten. Ehemals quantitative Unterschiede werden zu

qualitativen, KUSMENKO zeigt dies am westnorweg. Vokalismus: /vita/ > /vi:ta/, /bi:ta/ >

/beita/ (vgl. ebenso das Nhd.). Die neugermanische Quantitätsverschiebung führt schließlich zu CVC-Formen mit festem Anschluss (d.h. zum Übergang von Isochronie zur Anschluss-korrelation). Dies führte z.B. zur typischen nhd. Korrelation von Vokalqualität und -länge in offener/geschlossener Tonsilbe bzw. in Tonsilben mit losem/festen Anschluss (s. Fußnote 45).

38 Die Silbengliederung sollte bei der Morenzuweisung beachtet werden: KUSMENKO (1995) kritisiert, dass in Analysen alle intervokalischen Konsonanten mit Moren assoziiert werden (z.B. in WIESINGER 1983, AUER

1989), weil so bestimmte silbengewichtsbezogene Umstrukturierungen nicht gefasst werden können:

„Typologisch gleiche morenzählende Apokope der dritten Mora war auch im Altenglischen und

Althochdeutschen charakteristisch (vgl. aengl. scipu, aber word und wīf, ahd. wini, sunu, aber gast).“ (81)

Ein weiteres Argument für diese Abfolge von CSL vor OSL bringt PAGE (2001) vor: Das Moraic Preservation Principle (vgl. den Begriff der Morenkonstanz in AUER 1989a39) besagt, dass Dehnungsprozesse die Morenzahl konstant halten sollten. CSL verletzt nun dieses Prinzip zunächst nicht, weil die Monosyllabe vor und nach Durchführung des Prozesses unter Einführung des Prinzips der Konsonant-Extrametrizität als bimoraisch konstruiert wird.40 So hat dieser Prozess keine Auswirkungen auf die prosodische Figur. Erst OSL hat demnach eine Quantitätsverschiebung zur Folge, weil hier der Silbe eine More hinzugefügt wird. Warum findet OSL überhaupt statt? – Nach CSL sind alle betonten Kurzvokale von langen

Konsonanten gedeckt, betonte Kurzvokale vor Einfachkonsonant existieren nur noch in offener Silbe. Der Grund für OSL (und damit für die Veränderung der prosodischen Figur) ist nach PAGE die darauffolgende Reinterpretation der Kurzvokale in offenen Silben als lang.

Die Mundarten des westlichen Berner Mittellands und Oberlands haben diese Reinterpretation und Restrukturierung nicht in dieser Weise vollzogen wie das Nhd.: die kurzen Vokale in offener Silbe bleiben größtenteils kurz (vgl. mhd. sibe, ‚sieben‘ > bernd. s[ɪ]be, nhd. s[i:]ben).

Nach PAGE (2001) stellt CSL keine Änderung im Quantitätssystem einer Sprache dar, wenn man annimmt, dass der letzte Konsonant extrametrisch ist. Aus diesem Grund kann das Bernd. in der Entwicklung an dieser Stelle „stehen bleiben“ und dennoch die prosodische Äquivalenz von CV:, CVC(C) und CV.CV bewahren.

Entgegen der Entwicklung im Std. entstanden zusätzliche Kurzvokale in offenen Silben im Bernd. durch die Kürzung von mhd. langen Hochzungenvokalen, standardmäßig vor Plosiven sowie teilweise vor Frikativen und dem Liquid [l] in Ein- und Mehrsilblern, z.B. mhd. sîde >

bernd. s[i]de, nhd. Seide. Ebenso: bernd. Z[i]t, r[i]te, H[y]ser, f[u]le (Zeit; reiten; Häuser;

39 In seiner Untersuchung der Dehnung im Konstanzer Stadtdialekt verfolgte AUER 1989a bereits denselben Grundgedanken wie PAGE 2001: CSL und ausbleibendes OSL deuten darauf hin, dass der Morenausgleich im Alemannischen nicht in der Silbe, sondern im phonologischen Wort stattfindet: g[e:]b und g[e]be haben danach jeweils 3 Moren (bzw. nach anderer Zählweise 2 Moren, vgl. KUSMENKOs Kritik in Fußnote 38). Dehnung im Einsilbler und bewahrte Kürze im Mehrsilbler halten die Gesamtzahl der Moren im Paradigma konstant, während sie im Ahd. die Morenzahl vermehren: „Das rhythmische Prinzip, das im Alemannischen gilt, ist also nicht das der Morenaddition, sondern das der Morenkonstanz“ (AUER 1989a, 55).

40 Die Silbe ist und bleibt bimoraisch (PAGE 2001, 246): bernd. b[ɪ]s (Biss, Gebiss; Vokal und Coda-Konsonant tragen je 1 Mora) > b[ɪ:]s (Langvokal mit 2 Moren, Coda-Konsonant ist extrametrisch), alternativ: b[ɪs:] (der Coda-Konsonant wird gelängt und der erste Teil der Geminate trägt 1 Mora bei) (vgl. ebenso die synchrone Analyse von KRAEHENMANN in Kap. 1.2, Fußnote 25 bzw. Kap. 4.2.2 in dieser Arbeit).

μ μ

(verändert nach AUER 1989a)

faulen; vgl. KELLER 1961, 94, bzw. die Darstellung in Kap. 1.1). G[i:]ge, z[i:]be und n[i:]disch (Geige; schlittern; neidisch) sind drei der wenigen Beispiele mit Langvokal vor Plosiv, die im Berndeutsch-Wörterbuch von V.GREYERZ/BIETENHARD (1997) gefunden wurden. Vor Liquid [R] herrscht oft Länge. Auch vor anderen Sonoranten wie auch vor Frikativen steht oft der Reflex des mhd. langen Vokals, z.B. mhd. dûme > bernd. d[u:]me (Daumen); mhd. snûfen > bernd. schn[u:]fe (schnaufen).

Die sporadische Durchführung von OSL im Bernd. vor allem in tieferen Vokalstufen und die Kürzung von mhd. langen Hochzungenvokalen, die vor Plosiven obligatorisch ist, spiegeln universale phonetische Tendenzen wieder (MADDIESON 1997, 623f.), vgl. WIESINGER 1983:

„So hat man festgestellt, daß die absolute Quantität im Vokalismus von den Hoch- über die Mittel- zu den Tiefzungenvokalen und im Konsonantismus von den Dentalen über die Velare zu den Labialen zunimmt, wobei Plosive vor Frikativen und Lenes vor Fortes gehen. Aus der Kombination ergibt sich, daß die Hochzungenvokale i – ü – u vor dem dentalen Fortisplosiv t am stärksten und im Vergleich zum Tiefzungenvokal a vor allen Plosiven und Frikativen insgesamt zur Kürze tendieren, während a seinerseits zur Länge neigt.“ (1090)

Eine etwas andere Erklärung, warum die Kürzung der mhd. langen Hochzungenvokale im Bernd. und in anderen Dialekten durchgeführt wird, liefert LIBERMAN (2002), indem er sie als eine Möglichkeit unter vielen begreift. Er stellt den Wandel der Hochzungenvokale in einen Zusammenhang mit der Restrukturierung des Morenzählens im Mhd. Nach LIBERMAN waren Langvokale im Germanischen und bis ins Mhd. hinein bimoraisch und teilbar, Hochzungen-vokale hatten Diphthongcharakter. Die Kürzung des Vokals im Mhd. war eine Möglichkeit, die Monophthong-Identität des Vokals zu bewahren. Andere Möglichkeiten waren die

Umwandlung in einen „echten“ Langvokal, Diphthongierung sowie Gutturalisierung, d.h. der Umwandlung des zweiten vokalischen Elements in einen Obstruenten. Alle Möglichkeiten finden sich in deutschen Dialekten: mhd. zît (Zeit) ~ ostschwd. z[i:]t, bernd. z[i]t, std. z[ai]t („nhd. Diphthongierung“) sowie Ripuarisch, Fränkisch z[ik]t. Diese Darstellung ist insofern eindrucksvoll als sie zeigt, dass alle Kombinationen der Möglichkeiten in verschiedenen Dialekten realisiert wurden. Sie bleibt aber notgedrungen die Begründung schuldig, aus welchen Gründen die Kürzung der Hochzungenvokale vor Plosiv im Berndeutschen eintrat, während sie im Ostschweizerdeutschen ausblieb.

Synchron existieren im Stadtbernd. ebenso wie in den Mundarten des westlichen Mittellandes und des Oberlandes weiterhin kurze und lange Vokale in offener Silbe, was z.T. auch im Konjugationsparadigma festgelegt ist, z.B. bernd. bl[i]be (bleiben, Präs.) und pl[ɪ]be (geblieben, Part. Perf.). Dies ist begründet im weitgehenden Ausbleiben von OSL sowie in den Kürzungen von mhd. langen Hochzungenvokalen vor Verschlusslauten und vor

Kurzfrikativen. Die bernd. Vokalqualität bewahrt den mhd. Lautstand,41 auch in den alten Diphthongen. Entsprechend finden sich hier nicht bzw. nur selten die prosodischen Figuren des Std. mit ihrer Standardisierung von Silbe, Vokallänge und Vokalqualität. Zwar sind ungespannte Hochzungenvokale wie im Std. in Mehrsilblern kurz, sie können aber in offener wie auch in geschlossener Silbe auftreten. In Mehrsilblern sind gespannte Hochzungenvokale kurz oder lang, in Abhängigkeit von der Folgekonsonanz: vor Plosiven und vor kurzen Frikativen herrscht überwiegend Kürze, vor langen Frikativen findet sich fast keine, vor Sonoranten nur teilweise Vokalkürze in den gespannten Vokalen.