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Gespanntheit, Vokalquantität und 3 Plosivkategorien

4.2 Silbenstrukturen: Silbengewicht und Vokalqualität im Stadtberndeutschen

4.2.3 Die Interaktion von Gespanntheit, Vokal- und Konsonantquantität

4.2.3.3 Gespanntheit, Vokalquantität und 3 Plosivkategorien

Im Folgenden wird dafür argumentiert, dass die Plosive des Berndeutschen im Gegensatz zu den anderen Konsonanten in 3 phonologische Kategorien fallen, die sich zum einen

segmental, zum anderen prosodisch unterscheiden. Phonetisch wird der Unterschied über 3 distinkte Längenunterschiede vermittelt, es tritt keine Stimmhaftigkeitsopposition auf, noch werden Plosive einer Kategorie durchgängig aspiriert.

Mit den Daten der Produktionsstudie in Kap. 2.3.2.1 konnte der Befund von HAM (2001) reproduziert werden, dass sich eine Kurzplosivkategorie von einer mittellangen Kategorie unterscheiden lässt, die sich wiederum von der Geminatenkategorie unterscheidet. Die mittellange Kategorie wird von Älteren und Jüngeren mit im Vergleich zur Kurzkategorie durchschnittlich doppelt so langer Verschlusszeit produziert, die Geminatenkategorie ist 3 Mal so lang wie die Kurzkategorie. Aus den Kategorien der kurzen und mittellangen Plosive rekrutieren sich die lexikalischen wortinitialen Plosive der Berndeutschen. Phrasenmedial und wortinitial kann auch die Geminatenkategorie durch einen Sandhiprozess vermittelt auftreten (z.B. d‘Tube > [t:]ube, ‚die Taube‘, vgl. Kap. 2.3.3.2). Die Konsonanten der kurzen und mittellangen Kategorien sind durch einen segmentalen Längenunterschied differenziert und nehmen jeweils 1 X-Position auf der Silbenebene ein (vgl. zu ihren distinktiven Merkmalen ausführlich Kap. 4.3). Sie werden nachfolgend als „Kurzkonsonanten“ bezeichnet und als solche in Tab. 4.7 zusammengefasst. Plosivgeminaten nehmen 2 X-Positionen ein, d.h. ihr Unterschied zur Kurzkategorie ist ein prosodischer. Kurzkonsonanten in der Folgesilbe bewirken, dass die vorhergehende Silbe offen ist.

In offener Silbe (vgl. /_ .C1 und /_ .C2) kontrastieren kurze ungespannte und gespannte Hochzungenvokale, d.h. die Reflexe der mhd. Kurzvokale, bei denen die Längung in offener Silbe ausgeblieben ist und die der mhd. Langvokale, deren Kürzung vor Plosiven im Bernd.

obligatorisch ist. Dass es sich bei dieser Kürzung um eine diachrone Kürzung und nicht um eine synchron wirkende Regel handelt, zeigen die bernd. Beispielwörter, die mit gespanntem Langvokal artikuliert werden. Allerdings ist ihre Anzahl gering, es handelt sich dabei vor allem um Ableitungen, vgl. z.B. bernd. N[i:]d > n[i:]disch (Neid; neidisch), n[y:]t > n[y:]tig (nichts; minderwertig) bzw. um Neuschöpfungen wie z.B. das bubensprachliche ziibe

(schlittern). Langvokale können aber auch vor den nicht geminierten Konsonanten in Form von Diphthongen oder Vokalen tieferer Stufen stehen (Brueder, Mueter, mööke).

/_ .C1 /_ .C2 /_ C2.C2

Vgesp S[ɪ]de ‚Seide‘ S[i]te ‚Seite‘, r[i]te ‚reiten‘ -

Vugsp s[ɪ]be ‚sieben‘ - gr[ɪ]tte ‚geritten‘, sch[ʏ]tte ‚schütten‘

V:gesp (n[i:]disch ‚neidisch‘) (n[y:]tig ‚minderwertig‘) - Diphthong Brueder ‚Bruder‘ Mueter ‚Mutter‘ -

Tab. 4.7: Wortbeispiele für die Interaktion von Vokalquantität, -qualität und Konsonantquantität vor Plosiven

In der Verteilung von Hochzungenvokalen besteht dabei folgende Asymmetrie: Vor mittellangen Konsonanten stehen keine ungespannten Hochzungenvokale, vor langen Konsonanten kommen nie gespannte Hochzungenvokale vor. Geminaten schließen die vorhergehende Silbe dadurch, dass sie die Silbengrenze überspannen, und (wie bei den Sonorantgeminaten) finden sich in dieser Position auch bei den Plosiven nur kurze Vokale, die ungespannt sind oder tieferen Vokalstufen angehören. Das heißt, die Figuren

„(gespannter) Kurzvokal vor Einfachplosiv“ (z.B. r[i]te) und „Diphthong vor Einfachplosiv“

(z.B. Mueter) stehen in komplementärer Verteilung zur Figur „(ungespannter) Kurzvokal vor Geminate“ (z.B. gr[ɪ]tte). Dies könnte die Reinterpretation ermöglichen, dass mehrfache Deckung in Monosyllaben mit einem ungespannten Vokal einhergeht.14

Aus diachronischer Sicht scheint diese Dreiteilung in den Plosiven begründet. Wie in Kap.

1.3.2 dargestellt, lässt sich eine diachrone Schließung von Silben feststellen, vgl. mhd.

geriten, krate > bernd. gritte, Chrotte (geritten; Kröte). Und zwar längten die Konsonanten, deren Dauer nach Kurzvokal phonologisch relevant war, etwa /t, tt/, /m, mm/.

14 Womöglich erklärt dies die historische Reanalyse von bernd. Fr[ʏ]nd, h[ʏ]tt (‚Freund, heute‘). Denn auch sonst finden sich bei Mehrfachdeckung (Hund, trin.kxe) vor allem ungespannte Hochzungenvokale, vgl. aber d[u]s.le, chn[y]b.le, N[i]d.le.

Die „neuen“ silbenschließenden Geminaten gruppierten sich zu den „alten“ Plosivgeminaten nach (ungespanntem) Kurzvokal wie z.B. in mhd. rippe, bitten und ecke (diese sind die Reflexe der westgermanischen stimmhaften Geminaten bb, dd, gg, vgl. Kap. 1.2.2). Nach einem mhd. Langvokal wurden solche Schließungen nicht durchgeführt, hier blieb der

einfache Konsonant erhalten, z.B. mhd. rîten. Dies bedeutet, dass die Kürzung der gespannten Hochzungenvokale (mhd. rîten > bernd. rite, ‚reiten‘) im Bernd. erst nach der diachronischen Schließung der Silben auftrat – weil sonst auch nach gespannten Kurzvokalen Geminaten zu finden wären.

Für den Fall der Plosive kann folglich die in der klassischen Dialektologie vorgenommene Unterteilung in die 3 Kategorien Lenis, Fortis und Geminate im Bernd. bestätigt werden. Die für das Std. typische Silbenstruktur „(gespannter) Langvokal in offener Silbe“ findet sich vor Plosiven praktisch nicht,15 hier alternieren der Typ „(gespannter/ungespannter) Kurzvokal in offener Silbe“ mit dem Typ „(ungespannter) Kurzvokal in geschlossener Silbe“. Der

Unterschied zwischen den Frikativen und Plosiven besteht darin, dass in der Reihe der

Frikative nur ein Segmenttyp existiert, der Unterschied zwischen Kurz- und Langkonsonanten ist ein prosodischer, kein segmentaler. Innerhalb der Plosive können je 2 Segmenttypen unterschieden werden, ein prosodischer Unterschied, der zwischen Einfachkonsonant und Geminate, kommt hinzu. Das bernd. Beibehalten der Länge in den Reflexen der mhd.

Langvokale vor Langfrikativen könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Kondition

„geschlossene Silbe“ eine Kürzungsregel von Monophthongen in offener Silbe blockierte.

• Zur Distribution der Gespanntheit im Bernd. lässt sich zusammenfassen: Ungespannte Hochzungenvokale sind kurz, es sei denn, sie werden wegen phonologischer Prozesse am Phrasenrand (bzw. z.T. vor /r/) gedehnt (s. Kap. 4.2.2.1). Ungespannte kurze Hochzungen-vokale kommen in offener und geschlossener Silbe vor, weil im Bernd. kein Prozess des Quantitätsausgleichs wie im Std. wirksam wurde (vgl. Kap. 1.3.1). Vor allen Geminaten treten kurze, ungespannte Hochzungenvokale auf – nur vor Frikativgeminaten stehen auch lange, gespannte Hochzungenvokale. Der Schluss, dass kurze Vokale immer ungespannt sind, ist nicht korrekt: Gespannte Vokale können kurz oder lang sein. Sie können in offenen wie in geschlossenen Silben vorkommen: kurze gespannte Hochzungenvokale sind auch vor Mehrfachkonsonanz, d.h. in geschlossener Silbe gespannt. Lange gespannte Langvokale in geschlossener Silbe finden sich nur vor Frikativgeminaten.

15 Bzw. nur in der Form „Diphthong in offener Silbe“. Dies ist, diatopisch gesehen, die korrekte Entsprechung:

Mhd. Diphthonge wurden in der Entwicklung zum Std. monophthongiert. Diese Monophthonge sind eine Quelle für die std. Kategorie der Langvokale in offener Silbe. Die bernd. Reflexe blieben diphthongiert und trugen somit nichts zur gespannten Langvokalkategorie bei.

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