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3.2.1 Methode und Durchführung

Als Methode für diesen Aussprache-Bewertungstest wurde eine Abwandlung des Experimentdesigns der Mispronunciation detection (wie in VAN DONSELAAR 1996 beschrieben) gewählt. Stimuli der gesprochenen Sprache werden dabei Hörer/-innen

präsentiert, die angewiesen werden, auf falsche Aussprachen in diesen Wörtern zu reagieren.

Üblicherweise werden die Falschaussprachen künstlich hergestellt durch

Phonemsubstitutionen in den Stimuli. Dies war in diesem Fall nicht nötig, weil aus der Produktionsstudie 2002 bereits entsprechendes natürlich produziertes Material vorlag. Des weiteren unterscheidet sich dieses Untersuchungsdesign von einem üblichen

Falschaussprache-Test dadurch, dass die Bedeutungen der präsentierten Wörter den Testpersonen gleichzeitig über Bilder vermittelt wurden.

Bei diesem kleinen Test, an dem im Jahr 2003 12 Personen aus der Stadt Bern teilnahmen, standen zwei Fragen im Zentrum:

(1) Inwiefern fällt es auf, wenn die „falsche“ Vokalqualität verwendet wird, d.h. wird die Vokalqualität in natürlich produziertem Sprachmaterial zur Identifizierung von Wörtern herangezogen?

(2) Gibt es bei der Beurteilung eine Vorliebe für eine Aussprache mit einer bestimmten Vokalqualität?

Im Test wurden den Testpersonen 8 Stimuli mit langem oder kurzem, gespanntem oder ungespanntem Hochzungenvokal über Kopfhörer vorgespielt. Drei dieser Wörter waren Teile eines Minimalpaares, d.h. die Wörter hatten je einen Partner mit unterschiedlicher Bedeutung, der sich nur über die Vokalqualität unterschied (vgl. Tab. 3.5, Nr. 1/2, Nr. 6/7, Nr. 8). Zwei Wörter hatten F1-/F2-Werte, die nicht kongruent waren: Füür und Muus. Die präsentierten Wörter stammten aus den Produktionen der jüngeren Frauen für die Wortliste aus dem Jahr 2002, die die Vokale z. T. anders als im Berndeutsch-Lexikon (V.GREYERZ/BIETENHARD

1997) angegeben produziert hatten. Die Testpersonen sollten anhand von Bildern entscheiden, ob das präsentierte Wort ihrer Meinung nach „richtig“ oder „falsch“ ausgesprochen wurde.

Für das letzte Wort war kein Bild angegeben; die Teilnehmer sollten selbst angeben, welche Bedeutung sie gehört hatten. Hierbei handelte es sich um ein Quasi-Homonym. Diesen kurzen Test absolvierten 7 ältere und 5 jüngere Frauen, die zuvor auch am Reaktionszeitexperiment teilgenommen hatten.

3.2.2 Ergebnisse und Diskussion

Nr. Stimulus: Bild: Bedeutung: Ältere: Jüngere: Summe:

1 St[i:]l Besenstiel Stil (frz.) 2/7 „falsch“ 3/5 „falsch“ 30%/60% „falsch“

2 St[ɪ:]l Besenstiel (Besen-)Stiel 0/7 „falsch“ 2/5 „falsch“ 0%/40% „falsch“

3 F[ʏ:]/[y:]r Feuer Feuer (Lexikon: [y:]) 0/5 „falsch“ 0/5 „falsch“ 0 % „falsch“

4 M[u:]/[ʊ:]s Maus Maus (Lexikon: [u:]) 3/7 „falsch“ 1/5 „falsch“ 33% „falsch“

5 B[i:]s Gebiss Gebiss (Lexikon: [ɪ:]) 5/7 „falsch“ 4/5 „falsch“ 75% „falsch“

6 Sch[ʊ]t Fuß, der Ball tritt

Abfall, Schutt 7/7 „falsch“ 5/5 „falsch“ 100% „falsch“

7 Sch[u]t Fuß, der Ball tritt

Schuss 0/7 „falsch“ 0/5 „falsch“ 0% „falsch“

8 F[ʏ]li - Fohlen, Füller 7/7 [ʏ] 5/5 [ʏ] 100% [ʏ] Tab. 3.5: Die Wörter im Aussprache-Bewertungstest und ihre Bewertungen durch ältere und jüngere Personen

Werden Wörter, die mit dem im Lexikon angegebenen gespannten Vokal artikuliert wurden, vorgespielt (vgl. die Fälle 7, 3, 4 in Tab. 3.5), so wird dies von allen Teilnehmerinnen im Fall von Schut als korrekt bewertet. In den Fällen 3 und 4, wo sich F1 und F2 in den Werten für Gespanntheit unterscheiden, ist das Urteil geteilt. Der Stimulus Füür, in dem der 1. Formant ungespannt, der 2. Formant hingegen gespannt artikuliert wurde,7 wird von allen als korrekt beurteilt. Im Fall von Muus, wo der 1. Formant gespannt und der 2. Formant ungespannt artikuliert wurde, beurteilen dies 1/3 der jüngeren und älteren Teilnehmerinnen als falsche Aussprache. In den Wörtern, deren Lexikonaussprache mit ungespanntem Hochzungenvokal angeben ist und die mit ungespanntem Vokal präsentiert wurden (vgl. die Fälle 2 und 8), beurteilen Ältere dies bei Stiil als korrekt, Jüngere dies z. T. als falsch (40 %). Der Teil eines Minimalpaares, das sich nur in der Gespanntheit des Vokals unterscheidet, hier: mit

ungespanntem Vokal präsentiert, wird von allen Teilnehmerinnen entsprechend der Bedeutung Fohlen, Füllhalter erkannt, der der Artikulation mit ungespanntem Vokal entspricht und nicht mit der Bedeutung Faulheit des Teils mit dem gespannten Vokal (hier wurde kein Bild vorgelegt). Wird ein Wort mit gespanntem Vokal ungespannt artikuliert, wie in Fall 6, so wird dies von allen Teilnehmerinnen als Falschaussprache abgelehnt. Im

gegenteiligen Fall, der Aussprache eines ungespannten Vokals mit Gespanntheit (Fälle 1 und 5), bewerten dies 1/3 bis 3/4 der Teilnehmerinnen als falsch. Im Fall von Biis lehnen 3/4 der Jüngeren und Älteren diese Aussprache ab, während dies bei Stiil (mit vokalisiertem [l]

ausgesprochen) nur 1/3 der Älteren bzw. 2/3 der Jüngeren ablehnen.

7 Verglichen mit den mittleren Formantwerten, die für die jüngeren Frauen in der Produktionsstudie aus dem Jahr 2002 gemessen wurden, vgl. Kap. 2.3.2 bzw. die entsprechende Tabelle im Anhang.

3.2.3 Fazit

Personen aus der Stadt Bern fällt es auf, wenn ihnen die „falsche“ Vokalqualität in

berndeutschen Wörtern vorgespielt wird, die von natürlichen Sprechern des Berndeutschen produziert wurden, und wenn sie diese beurteilen sollen. Teilnehmerinnen aus der älteren als auch der jüngeren Generation bewerteten Gespanntheit/Ungespanntheit in

Hochzungenvokalen an falscher Stelle, d.h. wenn ein gespannter Vokal ungespannt artikuliert wird und umgekehrt, ganz klar als „falsche Artikulation“.

Vor allem die fehlende Gespanntheit scheint perzeptiv auffällig zu sein, die, wie es scheint, (zumindest bei den vorderen und gerundeten Vokalen) hauptsächlich über den 2. Formanten vermittelt wird. Bei der Bewertung als „Falschaussprache“ wird z.B. ein ungespannt

ausgesprochener Kurzvokal, der üblicherweise gespannt ist, eindeutig abgelehnt. Hier greift offenbar nicht die standarddeutsche Regel, dass Kurzvokale ungespannt artikuliert werden, auch nicht bei den Jüngeren. Die gespannte Artikulation ungespannter Wörter in Langvokalen wird nicht ebenso stark abgelehnt, für die Älteren sind in einem Fall beide Artikulationen möglich, während sich die Jüngeren hier für eine der beiden Artikulationen entscheiden (und knapp die ungespannte Version favorisieren). In einem anderen Fall ist für 1/4 der Jüngeren und Älteren eine klar gespannte Artikulation korrekt.

Einschränkend muss hinzugefügt werden, dass dieser Test mit nur wenigen Teilnehmerinnen und mit einer geringen Stimuluszahl durchgeführt wurde – die vorgestellten Ergebnisse haben daher einen qualitativ-explorativen Charakter und müssten anhand von größeren Fallzahlen quantitativ erhärtet werden. Die Eindeutigkeit des Ergebnisses lässt jedoch den Schluss zu, dass Vokalqualität für Berndeutsch-Sprecher/-innen aus der Stadt Bern ein perzeptiv auffälliges Merkmal ist, aufgrund dessen Urteile über Wortbedeutungen gefällt werden.

4_Phonologische Schlussfolgerungen

Die Themenkomplexe, die in diesem Kapitel mit Hilfe der phonetischen Daten aus Kap. 2 und 3 unter phonologischen Gesichtspunkten behandelt werden, sind:

(1) Wie lässt sich die Distribution der Gespanntheit und der Vokalquantität in den verschiedenen Silbenstrukturen der Mundart in der Stadt Bern beschreiben? Von welchen Bedingungen und Prozessen hängt das Auftreten der vokalischen

Gespanntheit ab? Diese Klärung ist die Voraussetzung für die Repräsentation der Vokalqualität durch ein distinktives Merkmal bzw. eine prosodische Figur. Daran schließt sich die Frage an, inwiefern diese Repräsentation über die Generationen hinweg stabil ist.

(2) Die Segmentlänge wird in der Silbenstruktur-Darstellung auf der Skelettschicht repräsentiert. Ein kurzer Vokal bzw. Einfachkonsonant nimmt 1 X-Position ein, ein Langvokal bzw. eine Geminate 2 X-Positionen. Dies lässt sich mit den phonetischen Ergebnissen der Produktionsstudie aus Kap. 2 gut in Einklang bringen – bis auf die Frage, wie die mittellangen Plosive [p, t, k] repräsentiert sind, denn in den Plosiven existiert ein phonetischer 3-fach-Kontrast. Die „mittellangen“ Plosive unterscheiden sich z.B. insofern von anderen Kurzkonsonanten, als dass sie in Monosyllaben zu Geminaten längen. Welche phonologische Repräsentation haben sie?

(3) In Kap. 1 wurden Argumente dafür zusammengetragen, dass die prosodische Domäne des Berndeutschen die Silbe bzw. die Phrase ist. Welche Prozesse unterstützen die Präferenz für CV-Silben innerhalb der prosodischen Phrase auf der phonetischen und phonologischen Ebene? Inwiefern haben diese Prozesse eine soziolinguistische Relevanz? – Hier werden die Daten zur Längenvariation im Phrasenkontext und zu silbenbezogenen Prozessen, die eine Zunahme der Sonorität im Silbenkern zur Folge haben, unter dem Aspekt der CV-Optimierung interpretiert.

In diesem Kapitel werden diese Fragestellungen schrittweise entwickelt und „abgearbeitet“:

In Abschnitt 4.2 werden die kombinatorisch möglichen und realisierten Silbenstrukturen des Berndeutschen aufgestellt und mit den Ergebnissen aus der phonetischen Analyse und mit Überlegungen zum Silbengewicht hinterfüttert, bevor die Frage nach der vokalischen

Gespanntheit und ihrer Stabilität beantwortet wird, die ein Ausgangspunkt dieser Studie war.

Mit 4.3 folgt ein Abschnitt zu den distinktiven Merkmalen, über die Segmente des bernd.

Lautsystems charakterisiert sind. Abschnitt 4.4 diskutiert die phonetische Variation in der Produktion, aktuelle Wandeltendenzen und die Bedeutung soziolinguistischer Merkmale.