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Die Vergleichsfolie: älteres Stadtberndeutsch und Standarddeutsch

2.2 Vokalqualität: Ergebnisse der Formantbestimmung

2.2.2 Das Vokalsystem

2.2.2.2 Die Vergleichsfolie: älteres Stadtberndeutsch und Standarddeutsch

In der einschlägigen soziolinguistischen Forschungsliteratur werden erwachsene Männer als konservativste Gruppe bei Lautwandelvorgängen identifiziert (vgl. LABOV 2001). Daher wird die Lautung zweier sprachkonservativer berndeutschen älteren Männer (zur Definition dieser soziolinguistischen Variable vgl. Kap. 2.4) als Vergleichsfolie konstruiert, um die Produktion der nicht sprachpflegerisch eingestellten älteren und der jüngeren Sprecher/-innen damit zu kontrastieren.

Um die Argumentationstiefe zu steigern, wird die Lautung dieser beiden älteren Männer mit sprachpflegerischer Einstellung mit der Lautproduktion zweier weiterer Männer konstrastiert:

Zum einen mit Eduard Stettler (Jahrgang 1888), einem Sprecher der sprachlich konservativen Oberschicht in der Stadt Bern. Die Aufnahme aus dem Jahr 1969 ist der CD „Der sprechende Atlas“ entnommen (PHONOGRAMMARCHIV DER UNIVERSITÄT ZÜRICH 2000). Die Aufnahme wurde genauso analysiert wie die Aufnahmen aus dem Jahr 2002. Als weitere Referenz dient die Lautproduktion eines erwachsenen Sprecher des Standarddeutschen. Hierfür werden die Daten von IIVONEN (1987) zugrunde gelegt, die durch LPC-Analyse gewonnen wurden. Der Vergleich soll im ersten Fall mögliche Verschiebungen in der Lautproduktion der heutigen

„älteren Generation“ mit der Lautung des Stadtberndeutschen zu einem früheren Zeitpunkt erbringen, um einen Anhaltspunkt dafür zu erhalten, wie „konservativ“ die Lautung der heutigen sprachpflegerisch eingestellten älteren Männer tatsächlich ist. Im zweiten Fall soll ein Vergleich mit dem Standarddeutschen ein Maß für mögliche Verschiebungen in den Lautungen der älteren Frauen und der Sprecher/-innen der jüngeren Generation bieten: Die Unterschiede können sich verringern (d.h., die Lautung wird Standard-näher), vergrößern (Standard-ferner) bzw. sich nicht verändern (Dialekt-konservativ). Dabei dürfen die Belege der Einzelsprecher nicht absolut gesetzt werden, sondern können nur eine Orientierung bieten.

Aus diesem Grund bleibt es bei einem qualitativen Vergleich der Formantwerte bzw. einer rein beschreibenden Darstellung der Unterschiede in der Produktion.

Für Abb. 2.11 wurden die Mittelwerte und Standardabweichungen der ersten beiden

Formanten des Sprechers Stettler sowie der zwei Gewährspersonen aus der Gruppe der älteren Männer in zwei Graphiken aufgetragen (die exakten Formantwerte finden sich in einer

Tabelle im Anhang). Bei gespannten Hochzungenvokalen gibt es keine Unterschiede in der Produktion. Ungespannte Hochzungenvokale und Mittelzungenvokale bilden aufgrund des ähnlichen F1 in beiden Fällen eine Reihe. Die Unterschiede zwischen der heutigen älteren Generation und der Gewährsperson Stettler liegen im Bereich der Standardabweichung. Die

mittleren und hinteren Reihen von [ʏ]/[œ] und [ʊ]/[ɔ] werden von den älteren Männern weiter hinten im Mundraum artikuliert, was die jeweils deutlich niedrigeren F2-Werten im Vergleich mit denen Stettlers zeigen. Darüber hinaus werden die Laute [æ], [ɑ] von den Älteren im Vergleich zu Stettler gehoben und weiter hinten gebildet.

Abb. 2.11: Vergleich der Vokalsysteme: Berner Sprecher Stettler (*1888) (li.) und ältere Berner Männer (re.).

Mittelwerte und Standardabweichung für 1. (F1) und 2. (F2) Formanten [Hz]

Ein Vergleich der Lautproduktion des standarddeutschen Sprechers in Abb. 2.12 mit der Produktion der älteren Berner Sprecher zeigt, dass sich die Mittelwerte von F1 und F2 bei Hochzungenvokalen in etwa entsprechen. Allerdings wird das [i] vom Standarddeutsch-Sprecher etwas geschlossener und weiter vorne im Mundraum artikuliert (vgl. den mittleren F2-Wert), und das [ʏ] der Berndeutsch-Sprecher wird weiter hinten im Mundraum artikuliert.

Abb. 2.12: Standarddeutscher Sprecher (nach IIVONEN 1987) Mittelwerte für 1. (F1) und 2. (F2) Formanten [Hz]

Im Standarddeutschen wird zwischen einer gespannten und einer ungespannten Mittelzungenreihe unterschieden, während im Berndeutschen nur eine Reihe von

(ungespannten) Mittelzungenvokalen existiert. In der Studie von IIVONEN (1987), aus der die LPC-Werte des Standarddeutschsprechers stammen, sind keine Standardabweichungen

angegeben. Daher kann keine Aussage darüber getroffen werden, inwiefern die Unterschiede zwischen der ungespannten Hochzungen- und der gespannten Mittelzungenvokalreihe

signifikant sind. Die identischen Formantwerte von [ʏ] und [ø:] deuten darauf hin, dass es sich hier womöglich nur um einen quantitativen Unterschied handelt. Ergebnisse aus einer

Perzeptionsstudie (vgl. WEISS 1976) unterstützen dies: gekürztes gespanntes [e] wird von Standardsprechern als [ɪ] wahrgenommen, gelängtes [ɪ] als [e:]. Die hohen F2-Werte bei den gespannten Mittelzungenvokalen [e] und [ø]im Vergleich zu [œ] und [ɛ] lassen. Die

Mittelzungenreihe der Berner Sprecher wird mit einem um 100 Hz deutlich niedrigerem mittleren F1 artikuliert als die ungespannte Reihe des Standardsprechers, während sich der F2 in etwa entspricht (außer bei [œ], das von den Berner Sprechern deutlich weiter hinten

artikuliert wird, aber vgl. den Sprecher der älteren Generation). Der Tiefzungenvokal <a>

wird mit der gleichen Höhe produziert (F1), er wird von den Berner Sprechern aber weiter hinten produziert (F2).

Nach dem Kriterium, dass die Mittelwerte um mehr als eine Standardabweichung

auseinanderliegen, lassen sich die Unterschiede zwischen den heutigen Berndeutschsprechern und der Gewährsperson Stettler zusammenfassen:

• Die gespannten Hochzungenvokale werden gleich produziert.

• Mittlere und hintere Reihen der tieferen Vokalstufen [ʏ]/[œ], [ʊ]/[ɔ] sowie [æ]/[ɑ] werden von den heutigen Sprechern vergleichsweise etwas weiter hinten im Mundraum artikuliert.

• Der Tiefzungenvokal [æ] wird gehobener ausgesprochen.

Die Unterschiede zwischen den heutigen Berndeutschsprechern und dem Sprecher des Standarddeutschen lassen sich wie folgt zusammenfassen:

• Die gespannten Hochzungenvokale [y] und [u] werden gleich produziert, [i] wird vom Standarddeutschsprecher weiter vorne im Mundraum gebildet (F2). Auch zwischen den Kategorien [y] und [ʏ] besteht ein Unterschied über F2, der bei den

Berndeutsch-Sprechern durch eine zentralisiertere Aussprache von [ʏ] zustande kommt.

• Die mittleren und hinteren Reihen der tieferen Vokalstufen werden von den heutigen Berndeutschsprechern weiter hinten im Mundraum gebildet, dies betrifft [ʏ]/[œ], [ʊ]/[ɔ] sowie [æ]/[ɑ]. Die Kategorien [ʏ], [œ] und [æ] erscheinen damit stärker zentralisiert als im Standarddeutschen, [ʊ], [ɔ] und [ɑ] als phonetisch hintere Vokale.

• Der mittlere 1. Formant der ungespannten Mittelzungenvokale der Berndeutschsprecher liegt im Vergleich zum Standarddeutschsprecher um 100 Hz niedriger, d.h. die

„berndeutschen“ Mittelzungenvokale liegen jeweils zwischen den Werten der gespannten

und ungespannten „standarddeutschen“ Mittelzungenreihe (Ausnahme: Bernd. [ɔ] entspricht std. [o]).

Um diese Tendenzen genauer beschreiben zu können, wird die Gruppe der älteren

Gewährspersonen im folgenden Abschnitt unterteilt: Unter den befragten älteren Männern sind zwei Personen mit besonders sprachbewusster und sprachpflegerischer Einstellung zum Stadtberndeutschen. Die anderen befragten Älteren haben eine weniger sprachkonservative Einstellung. Diese Einteilung entspricht dem Selbstverständnis der Gewährspersonen und wird bei der Untersuchung der soziolinguistisch relevanten sprachlichen Merkmale in Kap.

2.4 genauer beschrieben, argumentativ untermauert und angewendet. In der Produktion sind Unterschiede zwischen sprachkonservativen und nicht sprachkonservativen Älteren (s. auch F1/F2-Grafiken im Anhang) hauptsächlich in den Mittel- und Tiefzungenvokalen zu finden:

[æ] wird weiter hinten ausgesprochen, hier unterscheiden sich die Mittelwerte der

Verteilungen um mehr als eine Standardabweichung. Des weiteren ist eine größere Varianz bei den nicht Sprachkonservativen in den Kategorien [œ] und [ɛ] zu beobachten. Im Vergleich mit den Sprachkonservativen wird [œ] signifikant gehoben, [ɛ] erscheint teilweise gesenkt.

Die Verschiebungsvorgänge, die aus den F1/F2-Grafiken abgelesen werden konnten, werden wie folgt zusammenfassend dargestellt: Die relevanten horizontalen Verschiebungen im Mundraum, d.h. die über die Höhe des 2. Formanten kontrollierten Verschiebungen nach vorn („fronting“) und Verschiebungen nach hinten („backing“) finden sich in Tab. 2.5. Tab. 2.6 zeigt wichtige vertikalen Verschiebungen im Mundraum, d.h. Hebungen und Senkungen, die über die Höhe des 1. Formanten manipuliert werden. Vor der Vergleichsfolie der Lautung des älteren Stadtberndeutsch-Sprechers Stettler und der älteren, sprachlich konservativen Männer, die in Abb. 2.11 dargestellt ist, und im Vergleich mit der Lautproduktion des deutschen Standardsprechers (Abb. 2.12), werden die horizontalen und vertikalen Verschiebungen der Lage der Lautkategorien in der Produktion der anderen Gruppen dokumentiert.

Front [i] Front [y] Back [ɛ] Back [æ] Back [ɑ]

Stettler *1888 (×) ×

Ältere

sprachkonservativ

(×) ×

n. sprachkonservativ – × ×

Jüngere × × × × ×

Tab. 2.5: Verschiebungen im Vokalsystem nach Untergruppen; „front“: Verschiebung im Mundraum nach vorne, „back“: Verschiebung nach hinten (× = stark ausgeprägt; = trifft nicht zu; (×) = schwach ausgeprägt)

Verschiebungen der gespannten Hochzungenvokale nach vorne werden demnach vor allem von der jüngeren Generation durchgeführt ([i]-fronting, [y]-fronting). Die Unterscheidung der gespannten Vokalkategorie von der ungespannten Nachbarkategorie zusätzlich über F2 neben F1 ist auch ein Merkmal der deutschen Standardsprache (vgl. Abb. 2.12). Insofern erscheint die Sprechweise der Jüngeren in dieser Hinsicht standardnäher. Die Velarisierung („backing“) der vorderen Vokale [æ] und [ɛ] ist ebenfalls ein Merkmal in der Artikulation von sprachlich nicht konservativen Gewährspersonen. Der ältere Berndeutsch-Sprecher Stettler zeigte in seiner Lautung diese Velarisierungen nicht. Die velare Aussprache des Tiefzungenvokals [æ] findet sich bei den sprachlich konservativen Gewährspersonen erst ansatzweise, eine

Velarisierung und Senkung des [ɛ] (s. Tab. 2.6) wird von den gepflegt Stadtberndeutsch sprechenden Älteren nicht vorgenommen. Eine solche Lautung erscheint standardferner, aber nicht unbedingt sprachkonservativ im Sinne des „klassischen“ Stadtberndeutsch. Der

Tiefzungenvokal [ɑ] wird von allen Gewährspersonen weit hinten im Mundraum produziert und erscheint damit „klassisch“ Stadtberndeutsch. Veränderungen in der Reihe der hinteren Vokale können aufgrund der hohen Standardabweichungen leider nicht verglichen werden.

Hebung [ɛ] Hebung [æ] Hebung [œ] Hebung [ɔ]

Stettler *1888 ×

Ältere

sprachkonservativ

× × (×)

n. sprachkonservativ z.T. gesenkt große Varianz (×) × Jüngere gesenkt große Varianz × ×

Tab. 2.6: Verschiebungsvorgänge im Vokalsystem nach Untergruppen: Hebungen und Senkungen (× = stark ausgeprägt; - = trifft nicht zu; (×) = schwach ausgeprägt)

Von vertikalen Verschiebungsvorgängen, die über den 1. Formanten gesteuert werden, sind vor allem die Mittelzungenvokale und der vordere tiefe Vokal [æ] betroffen, s. Tab. 2.6. Als Referenz für die Veränderungsrichtung dient wiederum der Berndeutsch-Sprecher Stettler, der bis auf den gehobenen vorderen Mittelzungenvokal [ɛ] keine weiteren Hebungen in seiner Produktion aufweist (vgl. Abb. 2.11).

Die recht gehobene Aussprache von des vorderen Mittelzungenvokals [ɛ], die in der Lautung des älteren Berndeutsch-Sprechers Stettler und bei den älteren sprachkonservativen Männern auffällt, wird bei den nicht sprachpflegerisch eingestellten Älteren und den Jüngeren nicht beibehalten. Hier finden wir eine große Varianz bzw. viele gesenkte Aussprachen, was auf eine eher landberndeutsch konnotierte ungespannte Lautung hinweist. In ähnlicher Weise

wird die vordere Tiefzungenvokalkategorie [æ] von den nicht sprachkonservativen Älteren und den Jüngeren gesenkt bzw. mit großer Varianz artikuliert. Es fällt auf, dass die

sprachkonservativen Älteren [æ] wie auch [ɛ] heben. Fast identisch sind die Kandidaten bei der Hebung des Mittelzungenvokals [œ] (ältere Frauen und die meisten Jüngeren). Der

hintere, gerundete Mittelzungenvokal [ɔ] wird von den heutigen Sprecher/-innen oft gehoben, so dass diese Kategorie zum Teil mit [ʊ] überlappt.

2.2.2.3 Fazit

Wie anhand von quantitativen Untersuchungen in diesem Kapitel gezeigt werden konnte, ist ein Zusammenfall von gespannten und ungespannten Hochzungenvokalen bei älteren und jüngeren Gewährspersonen nicht zu beobachten. Dennoch lassen sich in den verschiedenen Gruppen Varianten und Verschiebungstendenzen in der Vokalproduktion feststellen, die vor der Vergleichsfolie des „älteren Berndeutschen“ und des Std. so bestimmt werden können:

• In den gespannten Hochzungenvokalen lässt sich in der Produktion eine Entwicklung hin zu mehr Standardnähe nachweisen: Alle jüngeren Gewährspersonen und die progressive ältere Frau FM unterscheiden den gespannten vorderen Hochzungenvokal ebenso wie der Standarddeutschsprecher zusätzlich über den 2. Formanten („[i]-fronting“). 6 der 8 jüngeren Gewährspersonen zeigen dieses Phänomen zumindest teilweise auch beim gerundeten gespannten Hochzungenvokal („[y]-fronting“).

• Alle Gewährspersonen sprechen den dorsalen Tiefzungenvokal [ɑ] sehr weit hinten im Mundraum aus. Dies erscheint als „klassisches“ stadtberndeutsches Merkmal. Hinzu kommt bei fast allen Älteren eine velare Aussprache („backing“) des vorderen Tiefzungenvokals [æ], der von den jüngeren und nicht sprachkonservativen älteren

Gewährspersonen zusätzlich gesenkt wird. Die velare Artikulation von [ɛ] ist hingegen ein Merkmal in der Produktion der jüngeren Gewährspersonen, die den Vokal auch oft

gesenkt aussprechen. Möglicherweise stehen diese Beobachtungen in einen

Zusammenhang mit anderen Velarisierungsprozessen des Bernd., die sich vor allem in der nicht-sprachkonservativen älteren und in der jüngeren Generation durchgesetzt haben (z.B. die Velarisierung der Endung -nd, vgl. Kap. 2.4 und Kap. 4.3.2.4).

• Die Mittelzungenvokale sind Hebungen und Senkungen unterworfen: In beiden Altersgruppen ist eine Hebung des hinteren gerundeten Mittelzungenvokals [ɔ] zu beobachten. Eine solche Artikulation ist standardnäher (in einigen Fällen führt dies auch

zu einem Zusammenfall der Kategorien [ɔ, ʊ], s. Tab. 2.2 in Kap. 2.2.1). – Bei den nicht sprachkonservativen Älteren sowie ganz klar bei den Jüngeren ist eine Hebung von [œ] im Vergleich zu den sprachkonservativeren Älteren auszumachen. Möglicherweise können diese Beobachtungen, die sich nur auf die hinteren und mittleren runden Vokale beziehen, in eine Beziehung mit dem Hebungsprozessen in dem aktuellen l-Vokalisierungsprozess des Bernd. (vgl. Kap. 2.4 und Kap. 4.3.2.3) gesetzt werden. Die vorderen mittleren bzw.

tiefen Vokale [ɛ] und [œ] sind einer gewissen Variation in die andere Richtung unterworfen: Nicht sprachkonservative Ältere und Jüngere benutzen eine gesenkte Aussprache, was keine „klassische“ Stadtberndeutsche, sondern wohl eher eine typisch landberndeutsche Lautung darstellt, die klar als standardferner anzusehen ist. Hierzu passt, dass die sprachkonservativen Stadtberner wie auch die noch ältere Berner Gewährsperson Stettler die ungespannten Mittelzungenvokale nicht zu offen artikulieren, sondern mit einem F1, der jeweils zwischen den Werten der gespannten und ungespannten

standarddeutschen Mittelzungenreihe liegt.