• Keine Ergebnisse gefunden

4.2 Silbenstrukturen: Silbengewicht und Vokalqualität im Stadtberndeutschen

4.2.1 Silbifizierung

Aus Lexikon und Produktion lässt sich die Struktur von typischen und typischerweise realisierten bernd. Mono- und Disyllaben erschließen (vgl. auch Kap. 2.1). Diese Segmentfolgen kommen im Stadtberndeutschen vor:

Monosyllaben des Stadtberndeutschen: Guu (V: ist die Struktur des Silbenreims), Zuun (V:S), Zuug (V:C), Chind (VSC), Chraft (VC1C2), dumm (VS:), lugg (VC:), Gschiiss (V:C:), Angscht (VSC1C2), stumpf (VSC:), Tüürgg (V:SC) und liecht (V:C1C2).2 – Damit können alle möglichen Kombinationen von kurzen und langen Segmenten auftreten – bis auf eine: am Phrasenrand3 existieren keine CV-Monosyllaben. Auf diese *CV-Regel wird in der Literatur zum Bernd. und zu anderen schweizerd. Dialekten vielfach hingewiesen (vgl. Kap. 1.2.2); sie wird damit begründet, dass ein minimales Wort im Bernd. ein bestimmtes Silbengewicht benötigt (vgl. Abschnitt 4.2.2). Die Silbifizierung der Segmentfolgen findet sich in Tab. 4.1.

Disyllaben des Stadtberndeutschen: Chri.de (V.C ist die Struktur von Silbenreim und Onset), Fü.li (V.S), lue.ge (V:.C), zuu.ne (V:.S), grit.te (VC:), Sunne (VS:), Pfiif.fe (V:C:), Chisch.te (VC1.C2), fil.me (VS1.S2 ), Hüs.li (VC.S), Chel.ti (VS.C), Hüen.li (V:S1.S2), Mües.li (V:C.S), mers.si (VSC1.C2 ), Müür.gel (V:S.C), rumpfe (VSC:). – Die Silbifizierung dieser Segmentfolgen ist in Tab. 4.2 (s.u.) aufgetragen und wird dort im Anschluss in Einzelheiten diskutiert.

2 Diese Aufzählung übersteigt die Anzahl der Monosyllaben im Bernd., die HAM 2001, 67 angibt.

3 „Am Phrasenrand produziert“ bedeutet dabei, dass die Silbe am Ende der prosodischen Phrase vorkommt; es kann auch heißen, dass die Silbe als Monosyllabe isoliert steht.

Die möglichen bernd. Monosyllaben lassen sich in 6 prosodische Figuren zusammenfassen, vgl. Tab. 4.1. Wie Figur (1.1) zeigt, muss mindestens der Nukleus mit 2 X-Positionen (d.h., Zeiteinheiten auf der Skelettschicht, auf der die Segmentlänge repräsentiert ist) mit einem Langvokal oder einem Diphthong besetzt sein, um eine Monosyllabe am Phrasenrand zu konstituieren. Tritt ein Konsonant im Silbenreim hinzu, d.h. stehen 3 X-Positionen zur Auffüllung zur Verfügung, gibt es folgende Variation in der prosodischen Figur: Mono-syllaben wie Bruch werden am Phrasenrand mit der Struktur V:C (1.2) oder VC: (1.3)

produziert, d.h. entweder wird der Vokal gedehnt oder es wird der finale Konsonant geminiert (vgl. Kap. 2.3.1.1). Meist existiert nur eine Aussprachevariante eines Wortes, das entweder die Struktur V:C oder VC: hat. Welche Figur präferiert wird, hängt von der Folgekonsonanz ab: In Monosyllaben, die auf Kurzplosiv oder -frikativ enden, werden gespannte und

ungespannte Vokale gedehnt, s. Figur (1.2). Diese Vokale sind phonetisch der Kategorie der Langvokale zuzuordnen, d.h. ihre Dauer ist doppelt so lang wie die von Kurzvokalen bzw.

noch länger (überlang) (vgl. Kap. 2.3.1.1). Der Prozess, der für diese Dehnung verantwortlich ist, wird in Abschnitt 4.2.2.1 analysiert.

2 X-Positionen im Reim: 3 X-Positionen im Reim: 4 X-Positionen im Reim:

(1.1) G[u:], W[i:], d[ʊ:],

Tab. 4.1: Silbenstrukturen berndeutscher Monosyllaben mit Wortbeispielen

Die prosodische Alternative, eine Dehnung der Endkonsonanten im Auslaut vorzunehmen, d.h. Figur (1.3), lässt sich ebenfalls in den Ergebnissen der Produktionsstudie finden: Nach kurzen gespannten und ungespannten Vokalen produzieren Gewährspersonen im Auslaut

mittellange und lange Konsonanten als Geminaten (vgl. Kap. 2.3.3.4). Nur selten wird in dieser Stellung der kurze Vokal gedehnt (vgl. 2.3.1.1). Die Dehnung der mittellangen Konsonanten [p, t, k] in Monosyllaben hängt ebenfalls mit der Konstitution des minimalen Worts zusammen. Denn wie ein Vergleich mit der Produktion des Pluralmarkers -ed in Kap.

2.3.3.4 zeigt, wird dieser in Disyllaben am Phrasenrand mit mittellangem Plosiv produziert, d.h. gedehnt, aber nicht geminiert. Insofern reproduziert sich auch am Phrasenrand unter bestimmten Umständen der phonetische 3-fach-Kontrast der Plosive. Auch die 2-fache Unterteilung in Kurz- und Langfrikative bleibt am Phrasenrand laut Kap. 2.3.3.4 bestehen.

Bei den langen Konsonanten, die 2 X-Positionen über eine Silbengrenze hinweg einnehmen, können die prosodischen Figuren (1.3), (1.5), und (1.6) auftreten, d.h. die Silbenstrukturen VC:, V:C: und VSC: (vgl. Kap. 2.3.3.4; Affrikaten entsprechen Frikativ-Geminaten, s. Kap.

2.3.2.2, ebenso: MARTI 1985). Was die Verteilung von Gespanntheit angeht, so stehen in VC:-Silben gespannte und ungespannte Kurzvokale, ein Langvokal vor Frikativgeminate ist immer gespannt, ein Kurzvokal mit Folgekonsonanz Sonorant und Geminate immer ungespannt.

Sonoranten nehmen insofern eine besondere Stellung ein, als sie (wie im Silbenmodell in Kap. 1.1.2 vorgestellt) nicht nur im Reim, sondern auch in der 2. Nukleusposition silbifiziert werden können. Allerdings konstituiert ein Silbenreim mit Kurzvokal und Sonorant noch kein minimales Wort am Phrasenrand wie nach Figur (1.1) zu erwarten wäre: Monosyllaben, die auf Kurzsonorant enden – wie etwa Z[u:]n (‚Zaun‘), S[ʊ:]n (‚Sohn‘) –, werden mit

gespanntem oder ungespanntem Langvokal produziert und folgen Figur (1.2). Die Figuren (1.4) und (1.6) markieren, dass ein präkonsonantischer Sonorant im Nukleus silbifiziert wird.

In dieser Stellung kann der Sonorant je nach Lautumgebung typischen Lautveränderungen unterworfen werden, die ihn vokalischer machen: Prozessen der l-Vokalisierung, des Ausfalls bzw. der Vokalisierung des /n/ vor Reibelaut („Staubsches Gesetz“, vgl. SDS II 125; MARTI

1985, 48) oder der Velarisierung des /n/ vor homorganem Plosiv zu [ŋ]. Alle drei Prozesse sind im Stadtberndeutschen soziolinguistisch markiert (s.u., Abschnitt 4.2.1.2). Ein möglicher Grund für diese Vokalisierungen ist, dass der Nukleus – als Silbenposition mit der höchsten Sonorität in der Silbe – über die Erhöhung der Sonorität von der konsonantisch besetzten Silbencoda klarer abgesetzt wird. Die Durchführung der identischen Prozesse in den Figuren (1.4) und (1.6) spricht dafür, dass die Sonoranten in beiden Silbenstrukturen analog in der 2.

Nukleusposition silbifiziert werden, auch wenn sich Figur (1.6) von (1.4) darin unterscheidet, dass sie über eine weitere X-Position im Appendix einen zusätzlichen Konsonanten integriert.

Eine Vokal-Sonorant-Sequenz wie in Figur (1.6) bzw. Langvokale oder Diphthonge wie in Figur (1.5) können auch vor einem Konsonantcluster am Wortrand auftreten. Das heißt, im

Silbenreim einer Monosyllabe werden insgesamt 4 X-Positionen zur Auffüllung benötigt.

Eine Besetzung von 4 X-Positionen ist nur in Silben am Phrasenrand möglich, wenn eine zusätzliche Position als Appendix bereitsteht, die der Phrasenebene zugeordnet ist und die ein silbenstruktureller Ausdruck der Dehnungsfähigkeit der phrasenfinalen Silbe ist (bzw. der Konsonant-Extrametrizität am Phrasenrand, vgl. Kap. 4.2.2.1). Diese Repräsentation tut auch der silbenphonologischen Forderung Genüge, dass eine Geminate ein ambisilbisches Element sein muss (um Sonoritätsplateaus zu verhindern). Auch die dritte X-Position der Geminate in Figur (1.3) wird daher dem Phrasenrand zugerechnet.

Es lässt sich zusammenfassen, dass eine bernd. Monosyllabe minimal 2 X-Positionen hat, die von einem einzigen langen vokalischen Segment besetzt sein müssen (einem Diphthong oder Langvokal, z.B. ein gedehnter ungespannter Hochzungenvokal, z.B. d[ʊ:], betont: ‚du‘, nicht jedoch ein Kurzvokal mit Sonorant). Sie hat maximal 4 X-Positionen.4 Zur Frage, wie die Besetzung der X-Positionen mit dem Silbengewicht zusammengeht, vgl. Abschnitt 4.2.2.

Betrachtet man nun die Silbenstrukturen von mehrsilbigen Wörtern (oder von Monosyllaben innerhalb der prosodischen Phrase) in Tab. 4.2, so lässt sich die Abfolge von zwei offenen Silben mit je einer besetzten Reimposition als eine typische bernd. Struktur bezeichnen, vgl.

Figur (2.1). In der CV-Silbe folgt ein Einfachkonsonant (Sonorant, Frikativ, kurzer oder mittellanger Plosiv) auf einen gespannten oder ungespannten Kurzvokal. Nach dem Prinzip der Onset-Maximierung5 wird der Konsonant im Onset der Folgesilbe silbifiziert. Die CV-Abfolge ist die typische phrasenmediale unbetonte Silbenstruktur (mehr dazu in Kap. 4.2.1.1).

In Di- und Polysyllaben können Segmente an der Silbengrenze auf zwei Silben verteilt werden. In der möglichen Besetzung von je 3 X-Positionen über Silbenreim und Onset der Folgesilbe hinweg repräsentieren die Figuren (2.2) und (2.3) Varianten in der Silbifizierung der Segmente in Silbenreim mit verzweigendem Nukleus (CV:.C) bzw. mit verzweigendem Reim und ambisilbischer Geminate (CVC:). Sie vergleichen sich insofern auch mit den Einsilbler-Figuren (1.2) und (1.3) aus Tab. 4.1, die alle Elemente in eine Silbe aufnehmen.

Die Silbifizierung in Disyllaben unterscheidet sich von der in Monosyllaben also nur darin, dass im Silbenreim der ersten Silbe von Disyllaben nur 2 X-Positionen besetzt werden statt 3

4 Nicht einbezogen wurde hier die Diskussion um die längende Wirkung von /r/ auf den vorangehenden Vokal, die im Bernd. uneinheitlich ist (in der Produktionsstudie gab es hier von Wort zu Wort uneinheitliche Urteile) und z.B. im Fall von Tüürgg (Türke; aufwändiges Fest) dazu führt, dass auf den Langvokal ein Sonorant und ein mittellanger Konsonant folgen. In der Produktionsstudie wurde der finale Plosiv von einigen Personen als Geminate produziert, d.h. als V:SC: – was mit den hier vorgestellten Silbenstrukturen nicht zu fassen ist.

(Wenige) weitere Wörter wie Obscht fordern ebenfalls 3 X-Positionen für die Konsonanten im Silbenreim.

5 Auch als „Silbenanlautgesetz“ bekannt, z.B. in der Formulierung von HALL 2001, 213. Seine zwei Teile sind:

(1) σ[KV ist weniger markiert als σ[V, (2) σ[KnV ist weniger markiert als σ[Kn+1V.

X-Positionen, während der Folgekonsonant bzw. der zweite Teil der Geminate in der 2. Silbe der Disyllabe silbifiziert wird. Damit repräsentiert Figur (2.2) eine offene Silbe, Figur (2.3) eine geschlossene Silbe. Die Verteilung der Gespanntheit entspricht der Situation im

Standarddeutschen: In Figur (2.2) stehen gespannte Langvokale (und Diphthonge) in offener Silbe, in Figur (2.3) ungespannte Kurzvokale in geschlossener Silbe. Im Unterschied zum Std.

handelt es sich bei den die vorangehende Silbe schließenden ambisilbischen Konsonanten im Bernd. tatsächlich um phonetisch lange Konsonanten (vgl. Kap. 2.3.2).

1 X-Position im Reim: 2 X-Positionen im Reim: 3 X-Positionen im Reim:

(2.1) R[ɪ].sel, B[i].schu, ist diese Silbenstruktur mit Figur (2.2 li.) identisch)

σ

Tab. 4.2: Silbenstrukturen berndeutscher Disyllaben mit Wortbeispielen

Figur (2.6) unterscheidet sich von (2.3) dadurch, dass im Silbenreim 3 statt 2 X-Positionen zu Verfügung stehen. Diese prosodische Figur ist nötig, um zu repräsentieren, dass den

Frikativgeminaten lange gespannte Vokale vorausgehen können (vgl. Kap. 2.3.1 und 2.3.2.2).

Dies gleicht der entsprechenden Figur (1.5) bei den Monosyllaben. In den durch Langfrikativ geschlossene Silben alternieren daher kurze ungespannte Vokale (Figur (2.3)) mit langen gespannten Vokalen.

Die Figuren (2.4) und (2.5) repräsentieren Silbenstrukturen mit Kurzvokalen in der ersten Silbe, die von 2 Konsonanten (Obstruenten bzw. Sonoranten) gedeckt sind, wobei der zweite

Konsonant im Onset der Folgesilbe silbifiziert wird. In (2.4) stehen gespannte und

ungespannte Kurzvokale vor einem Obstruent, der Sonorant bildet den Onset der Folgesilbe.6 In Figur (2.5), wo der Sonorant dem Obstruenten vorausgeht, wird angenommen, dass der Sonorant die Silbe schließt. Ein Prozess wie die l-Vokalisierung führt dazu, dass das

vokalisierte /l/ in den Nukleus rückt und dass eine offene Silbe entsteht, deren Silbenstruktur Figur (2.2) entspricht. Die Figuren (2.7) und (2.8) besetzen 3 X-Positionen im Silbenreim, was die Maximalzahl von Positionen phrasenmedial darstellt. Diesen Figuren ist ein verzweigender Nukleus gemeinsam. Im Fall von (2.7) wird der Nukleus mit vokalischen Elementen besetzt (Diphthongen, gedehnten ungespannten Vokalen vor /r/ sowie langen Tiefzungenvokalen). In Figur (2.8) rückt der Sonorant in die 2. Nukleusposition und wird oft vokalischer (vgl. die l-Vokalisierung in hälffe). In diesem Fall ist eine Dehnung des

(ungespannten oder Tiefzungen-)Vokals nicht möglich (auch nicht vor /r/, vgl. W[ʏ]rk.xig,

‚Wirkung‘‚ mers.si im Vergleich zu Ch[ɪ:]r.si, ‚Kirsche’, M[ʏ:]r.ggel, ‚Brotanschnitt‘).

In (stadt-)bernd. Di- und Polysyllaben, lässt sich zusammenfassen, stehen im Silbenreim der Vorgängersilbe 1 bis 3 X-Positionen zur Verfügung, d.h. jeweils eine Position weniger als in einer Monosyllabe am Phrasenrand. In einer offenen Silbe in Mehrsilblern können 1 oder 2 Nukleuspositionen besetzt werden. Wenn nur eine Position besetzt wird, kann dies durch einen ungespannten oder einen gespannten Vokal geschehen. Verzweigt sich der Nukleus, d.h. stehen 2 Positionen zur Verfügung, so treten dort wie im Std. nur gespannte Vokale und Diphthonge auf.7

Die tatsächlich vorkommenden Silbenstrukturen in Mono- und Polysyllaben belegen, dass im Bernd. offensichtlich wie im Mhd. die 4 Silbentypen offene Silbe mit Kurzvokal, offene Silbe mit Langvokal, geschlossene Silbe mit Kurzvokal sowie geschlossene Silbe mit Langvokal vorkommen, außerdem existieren echte Geminaten.

6 In der Produktion wird die Disyllabe von einigen Gewährspersonen durch Einfügung eines Schwas zur Tri-syllabe mit CV-Struktur erweitert (z.B. Tröch.ni > Trö.che.ni), oft dann, wenn die zweite Silbe nicht auf Schwa, sondern auf einen Vollvokal endet – alternativ wird die Konsonantfolge vereinfacht, so dass eine CV-Silbe entsteht: Hüsli > Hüsi.

7 Eine Ausnahme stellt die Dehnung vor /r/ dar: Vor /r/ werden auch ungespannte Vokale gedehnt, z.B. in T[ʏ:]rgg (Türke; aufwändiges Fest). Eine Dehnung in offener Silbe scheint allerdings zur Aussprache mit geschlossenem Langvokal zu führen: Gfr[ʏ:].ri (Gefriertruhe, alt: Frost) mit ungespanntem Langvokal wird von den Gewährspersonen (mit Ausnahme der 2 sprachkonservativen Sprecher) mit gespanntem Langvokal

ausgesprochen (analog zu fr[y:].re, ‚frieren‘) – ein Hinweis auf einen möglichen analogischen Ausgleich.