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Staatsverantwortung oder Eigenverantwortung? – Die Nachwirkungen der

I Deutschland 2014 – Ergebnisse der repräsentativen Bevölkerungsumfrage

3 Ausgangslage 1990 - Die Historisierung politischer und gesell- gesell-schaftlicher Einstellungen und das kulturelle Erbe der DDR im

3.1 Allgemeine Einordnung

3.2.10 Staatsverantwortung oder Eigenverantwortung? – Die Nachwirkungen der

„Staatskultur“ bei Eintritt in die deutsche Einigung

Die subjektive Präferenzentscheidung, ob „mehr Staat“ oder „mehr Eigenverantwor-tung“ der Vorzug gegeben werden soll, ist eingebettet in gesellschaftliche Wertorientie-rungen, die auf unterschiedliche Vorstellungen von Sozialstaat verweisen (Roller 1997).

Dass sich in Westdeutschland seit Gründung der Bundesrepublik ein stabiler mehrheitli-cher Konsens für ein (in der Literatur so bezeichnetes) „konservatives“ Wohlfahrts-staatsmodell herausgebildet hatte (vgl. Esping-Andersen 1996), der nicht nur soziale Risiken (Einkommenssicherung bei Krankheit, Alter, Invalidität) absichert und für Chan-cengleichheit sorgt, sondern auch zugunsten von Vollbeschäftigung und Einkommens-gleichheit aktiv steuernd eingreift, ist durch die einschlägige Forschung belegt (mit nä-heren Angaben Roller 1997).

Beachtung verdient nun, ob sich durch den Beitritt Ostdeutschlands die sozialstaatlichen Wertorientierungen verändert haben. Diese Frage wurde von der sozialwissenschaftli-chen Forschung in den 1990er Jahren aufgegriffen und in die Annahme übersetzt, dass die Wiedervereinigung für die Entwicklung des Sozialstaats in der Wahrnehmung der Bürger einen „bedeutsamen Einschnitt“ darstelle: Zum einen seien die Bürger der neuen Bundesländer „in einem sozialistischen Wohlfahrtsstaat aufgewachsen, den sie mehr-heitlich dem bundesrepublikanischen Sozialstaat vorziehen“. Zum anderen seien diesel-ben Bürger wegen der Folgen der Transformation der Planwirtschaft in eine Marktwirt-schaft situationsbedingt in besonderem Maße von Sozialleistungen abhängig (Roller 1997: 229).

Inwieweit vor diesem Traditionshintergrund und/oder infolge aktueller Krisenerfah-rungen die Ostdeutschen ein Verständnis von Sozialstaatlichkeit entwickelt bzw. kon-serviert haben, das sie von ihren westdeutschen Landsleuten unterscheidet, hat Edeltraud Roller Mitte der 90er Jahre anhand ausgewählter Einstellungsgrößen unter-sucht. Hierfür wurden Freiheit und Gleichheit als zwei konträre „generelle Werte“ ge-messen, die gewünschte sozialstaatliche „Zielzustände festlegen“, d.h. einerseits sozio-ökonomische Sicherheit und Gleichheit und andererseits Freiheit, verstanden als indivi-duelle Autonomie (ebd.: 231). Freiheit umschließt dabei das Freisein von äußeren Ein-griffen ebenso wie Selbstentfaltung. Gleichheit meint sowohl Chancengleichheit als auch eine soziale Unterschiede einebnende Ergebnisgleichheit (ebd.: 234).

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Wichtigkeit von Freiheit oder Gleichheit, Angaben in Prozent, Alte und neue Bundes-Tabelle 21

länder, 1989/90 bis 1995

Alte Länder Neue Länder

1989 1992 1994 1995 1990 1992 1994 1995

Freiheit 63 58 53 56 46 33 29 36

Gleichheit 22 28 36 33 43 53 58 46

Unentschieden 15 14 11 11 11 14 13 18

Erläuterungen: „Hier unterhalten sich zwei, was letzten Endes wohl wichtiger ist, Freiheit oder möglichst große Gleichheit. Welcher von beiden sagt eher das, was auch Sie denken? 1. Ich finde Freiheit und mög-lichst große Gleichheit eigentlich beide gleich wichtig. Aber wenn ich mich für eines von beiden entschei-den müßte, wäre mir die persönliche Freiheit am wichtigsten, daß also jeder in Freiheit leben und sich ungehindert entfalten kann. 2. Sicher ist Freiheit und möglichst große Gleichheit gleich wichtig. Aber wenn ich mich für eines davon entscheiden müßte, fände ich eine möglichst große Gleichheit am wichtigs-ten, daß also niemand benachteiligt ist und die sozialen Unterschiede nicht so groß sind.“

Quelle: Zitiert nach Noelle-Neumann/Piel (1983): 224; Noelle-Neumann/Köcher (1993): 573 u. ders.

(1997): 648. In: Roller (1999): 234

Im ersten Jahrfünft nach der Einigung wird in Westdeutschland weiterhin klar die Prio-rität bei dem Freiheitswert gesetzt, wenngleich mit leicht abnehmender Tendenz (Tabel-le 21) Auch in Ostdeutschland dominiert zwar 1990 (Tabel-leicht die Freiheitsoption. Doch kann dies als ein kurzlebiger Impuls von Aufbruchsstimmung gedeutet werden. „In einer

„Vereinigungseuphorie“, die sich auch bei einer Vielzahl anderer Orientierungen gezeigt hat (Gabriel 1997), haben die Bürger der neuen Länder dem gesamten „westlichen“

Wertepaket zugestimmt“ (Roller 1997: 238). Ab 1992 kehrt sich dann die Relation zu-gunsten der Gleichheit als Vorzugswert beständig um (Tabelle 21).

Befragt, wie die Bandbreite wohlfahrtsstaatlicher Leistungen konkret ausgestaltet sein solle, bevorzugt auch die übergroße Mehrheit der Westdeutschen „ganz offensichtlich kollektivistische und staatsbezogene Werte“ (Tabellen 22 und 23). Dabei fällt die Zu-stimmung für die staatliche Zuständigkeit in Risikofällen der Einkommenssicherung, die auch Arbeitslosigkeit einschließen, besonders hoch aus. Die Ost-West-Unterschiede sind eher gering.

Staats- oder Eigenverantwortung für Einkommenssicherung in Risikofällen, Angaben Tabelle 22

in Prozent, Alte und neue Bundesländer, 1990 bis 1995

Alte Bundesländer Neue Bundesländer

1990 1991 1992 1993 1995 1990 1991 1992 1993 1995

Staatsverantwortung 64 58 60 61 58 70 79 80 80 83

Eigenverantwortung 19 22 19 19 20 15 7 8 8 8

Unentschieden 17 20 21 20 22 15 14 12 12 9

Erläuterungen: In welcher Gesellschaft möchte Sie leben? Staatsverantwortung = „Eine Gesellschaft, in der eher der Staat die Vorsorge für Alter und Krankheit des einzelnen übernimmt.“ Eigenverantwortung =

„Eine Gesellschaft, in der der einzelne Bürger eher selbst für Alter und Krankheit vorsorgt.“

Quelle: Roller (1999): 235.

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Staatsverantwortung für Einkommenssicherung in Risikofällen, Angaben in Prozent, Tabelle 23

Alte und neue Bundesländer, 1991 bis 1994

Alte Bundesländer Neue Bundesländer

1991 1994 1991 1994

Staatsverantwortung ja 90 87 99 97

Staatsverantwortung nein 10 13 1 3

Erläuterungen: [Basis: Allbus 1991, 1994] Einkommenssicherung = „Der Staats muß dafür sorgen, daß man auch bei Krankheit, Not, Arbeitslosigkeit und im Alter ein gutes Auskommen hat.“ Antwortvorgaben:

Ja = gruppierte Daten aus „stimme voll zu“ und „stimme eher zu“ bzw. Nein = gruppierte Daten aus „stim-me eher nicht zu“ und „stim„stim-me überhaupt nicht zu“. Quelle: In: Roller (1999): 236.

Deuten diese Daten darauf hin, dass in Ost- und Westdeutschland nicht sehr stark unter-schiedliche Wohlfahrtsstaatsmodelle bevorzugt werden, so tritt die Diskrepanz schärfer zutage, wenn nach dem Ausmaß der gewünschten Staatsverantwortung in einzelnen Aufgabenfeldern gefragt wird (Tabellen 24 bis 27).

Staatsverantwortung für Chancengleichheit 1990 bis 1996, Angaben in Prozent, Alte Tabelle 24

und neue Bundesländer

Alte Bundesländer Neue Bundesländer

1990 1996 1990 1996

Staatsverantwortung ja 86 87 96 94

Staatsverantwortung nein 14 13 4 6

Erläuterungen: [Basis: Allbus 1990, 1996] Chancengleichheit = „Finanzielle Unterstützung für Studenten aus einkommensschwachen Familien.“ Antwortvorgaben: Staatsverantwortung: Ja = gruppierte Daten aus

„Der Staat sollte dafür auf jeden Fall verantwortlich sein/verantwortlich sein.“ bzw. Nein = gruppierte Daten aus „Der Staat sollte dafür nicht verantwortlich sein/auf keinen Fall verantwortlich sein.“

Quelle: Roller (1999): 240.

Staatsverantwortung für Vollbeschäftigung 1990 bis 1996, Angaben in Prozent, Alte Tabelle 25

und neue Bundesländer

Alte Bundesländer Neue Bundesländer

1990 1991 1996 1990 1991 1996

Staatsverantwortung ja 74 78 74 95 98 92

Staatsverantwortung nein 26 22 26 5 2 8

Erläuterungen: [Basis Allbus 1990, 1991, 1996] Vollbeschäftigung = „Einen Arbeitsplatz für jeden bereit-zustellen, der arbeiten will.“ Antwortvorgaben: Staatsverantwortung: Ja = gruppierte Daten aus „Der Staat sollte dafür auf jeden Fall verantwortlich sein/verantwortlich sein.“ bzw. Nein = gruppierte Daten aus

„Der Staat sollte dafür nicht verantwortlich sein/auf keinen Fall verantwortlich sein.“

Quelle: Roller (1999): 240.

Staatsverantwortung für Einkommensgleichheit 1990 bis 1996, Angaben in Prozent, Tabelle 26

Alte und neue Bundesländer,

Alte Bundesländer Neue Bundesländer

1990 1991 1996 1990 1991 1996

Staatsverantwortung ja 64 67 62 84 91 84

Staatsverantwortung nein 36 33 38 16 9 16

Erläuterungen: [Basis: Allbus 1990, 1991, 1996] Einkommensgleichheit = Einkommensunterschiede zwi-schen Arm und Reich abbauen. Antwortvorgaben: Staatsverantwortung: Ja = gruppierte Daten aus „Der Staat sollte dafür auf jeden Fall verantwortlich sein/verantwortlich sein.“ bzw. Nein = gruppierte Daten aus „Der Staat sollte dafür nicht verantwortlich sein/auf keinen Fall verantwortlich sein.“

Quelle: Roller (1999): 240.

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Staatsverantwortung im Bereich der gesetzlichen Kontrolle der Löhne und Gehälter Tabelle 27

1990 bis 1996, Angaben in Prozent, Alte und neue Bundesländer,

Alte Bundesländer Neue Bundesländer

1990 1996 1990 1996

Staatsverantwortung ja 31 27 79 68

Staatsverantwortung nein 46 50 12 15

Unentschieden 23 23 9 17

Erläuterungen: [Basis: Allbus 1990, 1996] Antwortvorgaben: Staatsverantwortung: Ja = gruppierte Daten aus „Der Staat sollte dafür auf jeden Fall verantwortlich sein/verantwortlich sein.“ bzw. Nein = gruppierte Daten aus „Der Staat sollte dafür nicht verantwortlich sein/auf keinen Fall verantwortlich sein.“

Quelle: Roller (1999): 240.

Zusammenfassend ist festzuhalten: Zum Zeitpunkt des Eintritts in das geeinte Deutsch-land und noch in den Jahren danach haben in Ost und West teils übereinstimmende, teils unterschiedliche Vorstellungen von Sozialstaatlichkeit existiert. Die Diskrepanz lässt sich, angelehnt an die Befunde Rollers, wie folgt beschreiben: (1) Fast alle Ost- und Westdeutschen befürworten staatliche Verantwortung bei der Sicherung des Einkom-mens in Risikofällen und für die Gewährleistung von Chancengleichheit – beides Kern-punkte, die den Typus des „konservativen“ Wohlfahrtsstaates kennzeichnen. (2) Ferner wird ebenfalls mehrheitlich in Ost und West, jedoch von deutlich weniger Westdeut-schen, eine Staatsintervention zur Sicherung von Vollbeschäftigung und Angleichung der Einkommen gewünscht – was dem „sozialdemokratischen“ Wohlfahrtsstaatstypus ent-spricht. (3) Darüber hinaus spricht sich eine Dreiviertelmehrheit in Ostdeutschland, aber lediglich ein reichliches Viertel in Westdeutschland (im Schnitt 29%) für gesetzli-che Kontrolle der Löhne und Gehälter aus – was ein Merkmal von Staatssozialismus er-füllt. Dieses Einstellungsgefälle zeigt im Feld der Wahrnehmung der Wohlfahrts- bzw.

Sozialstaatsverpflichtungen den Tatbestand einer gespaltenen Kultur. Ersichtlich präfe-rieren in den 1990er Jahren, so Roller, „die Westdeutschen eher einen sozialdemokrati-schen und die Ostdeutsozialdemokrati-schen eher einen sozialistisozialdemokrati-schen Wohlfahrtsstaat“ (ebd.: 239).

3.2.11 Konvergenz oder Divergenz, oder: was blieb und was kam? – ein Zwischen-fazit

Dieses Kapitel 3 mündet in zwei Fragen. Erstens: Welches Gewicht hatte, rückblickend betrachtet, die im Einigungsjahr 1990 auftretende Divergenz der Teilkulturen im Hin-blick auf die Herausbildung einer gesamtdeutschen politischen Kultur? - Und zweitens:

Ließ sich bereits absehen, ob sich die Unterschiede im Laufe der Zeit verfestigen oder - rascher bzw. langsamer - abbauen würden?

Um diese Fragen zu beantworten, ist die im letzten Abschnitt behandelte Wohlfahrts-staatsorientierung ein geeigneter Ansatzpunkt. Denn diese Thematik führt nicht nur in das Zentrum der zu DDR-Zeiten entwickelten und gesellschaftlich tonangebenden Staatskultur zurück, sondern verweist ebenso auf einen gewachsenen Teil bundesdeut-scher Identität. Zu klären ist, welche Bedingungen es waren, die das von Ostdeutschen in der Transformationsphase bevorzugte Wohlfahrtsstaatsmodell ursächlich herbeigeführt haben: War dafür eher die im sozialistischen Wohlfahrtsstaat der DDR erfahrene

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sation ausschlaggebend oder sind vorrangig die prekären wirtschaftlichen und sozialen Umstände der Umbruchszeit prägend gewesen?

Einstellungsanalysen deuten eher auf die Schlüssigkeit der Sozialisationsthese hin.

Demzufolge spielten situative Effekte der wirtschaftlichen Transformationskrise für die sozialpolitische Erwartungshaltung der Ostdeutschen nur eine untergeordnete Rolle.

Für zumindest einen der auch hier mit einbezogenen Indikatoren von Staatstätigkeit, nämlich die Einkommenssicherung in Risikofällen (siehe oben), konnte Roller nachwei-sen, dass dieser Indikator „nur wenig mit der ökonomischen Lage variiert“ (ebd.: 239;

Roller 1997). Dieser Befund spricht gegen einen Effekt kurzfristiger Änderungen, die in der persönlichen Situation den Menschen eintraten. Er bestätigt vielmehr die allgemeine Beobachtung, dass Grundeinstellungen, die über lange Zeit verinnerlicht wurden, in ho-hem Maße änderungsfest sind.

Die Beobachtung, dass Ost und West sich mit teilweise voneinander abweichenden Vor-stellungen von Staatswohlfahrt auf den Einigungspfad begaben, darf rückblickend als Zeugnis für ´spaltbares kulturelles Material` nicht überbewertet werden. Hier fällt weni-ger ins Gewicht, dass sich die für Ostdeutschland festgestellte „sozialistische Komponen-te“ der sozialpolitischen Erwartungshaltung bereits Mitte der 1990er Jahre etwas abge-schwächt hatte (Roller 1999: 239). Schwerer wog wohl von Anfang an die Tatsache, dass Ost- wie Westdeutsche in ihrer grundsätzlichen Sozialstaatsorientierung ungeachtet aller Systemunterschiede einen gemeinsamen ideellen Vereinigungspunkt besaßen. Diese nationale Gemeinsamkeit war zwar während der Periode der Existenz zweier deutscher Staaten und des Wettstreits der Systeme abgedunkelt worden, sie wurde aber nach 1990, ohne dass es förmlicher Deklarationen bedurft hätte, wieder wirksam. Während der Transformationskrise, die das erste gesamtdeutsche Jahrzehnt begleitete, hat sich das deutsch-deutsche sozialstaatliche Grundeinverständnis als ein äußerst wichtiges Wirkelement gesamtgesellschaftlicher Kohäsion bewährt, weil es unausgesprochen und unverzüglich praktiziert wurde.

In der alten Bundesrepublik hatten in den vier Jahrzehnten seit ihrer Gründung das So-zialstaatspostulat und die Maxime der Eigenverantwortung zu einer Koexistenz gefun-den, die sozialpflichtiges Staatshandeln und individuelle Initiative alles in allem aus-kömmlich ausbalanciert. Dieses Element des „Modell Deutschland“ ließ sich am Tag der Einigung nicht eins zu eins auf Ostdeutschland übertragen. Dagegen sprachen sowohl die Größenordnung der Situationen plötzlich einbrechender Unsicherheit, die historisch ohne Beispiel waren, als auch das Beharrungsvermögen hergebrachter ostdeutscher Erwartungsroutinen, die in eben diesen Situationen orientierende Hilfe boten. Dabei kam es zu einer bezeichnenden Wechselwirkung: Je länger aktuell hereinbrechende Un-sicherheiten anhielten und sich zu schwer zu bewältigenden Dauerzuständen auswuch-sen, desto häufiger erhielten vertraute Wahrheiten der alten Zeit neuerlich Auftrieb.

Dank dem Mechanismus, dass bei plötzlich und unvermutet auftretenden situativen Herausforderungen Zuflucht bei „bewährten“ Erklärungshilfen gesucht wird, haben die

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alten Leitbilder der staatssozialistisch deformierten deutschen Staatskultur, die im kol-lektiven Langzeitgedächtnis Ostdeutschlands abgespeichert waren, noch lange nachge-wirkt. Die Staatsdoktrin der DDR hatte den Vorrang der Staatshilfe verfochten und An-triebe zur Eigeninitiative verkümmern lassen. Dies macht sich beispielsweise bis heute darin bemerkbar, dass in ostdeutschen Regionen, wo der Arbeitsmarkt besonders ange-spannt blieb, die verminderte individuelle „Selbstwirksamkeit“, d.h. dass man sich selbst für verantwortlich und als fähig ansieht, Herausforderungen zu bewältigen, vergleichs-weise häufig auftritt (Silbereisen u.a. 2012).

Für die Ausgangssituation des Jahres 1990 zeichnete sich im Spiegel der hier ausgewer-teten Umfragedaten folgender Entwicklungsverlauf ab: Einerseits würde in den neuen Bundesländern der Prozess einer nachholenden Freisetzung von Eigenleistung und In-dividualität, und damit die Möglichkeit, in einem zentralen Punkt kultureller Moderni-sierung zum Westen aufzuschließen, seine Zeit brauchen. Andererseits barg das Gehäu-se des Sozialstaats auch in Gehäu-seiner umgestalteten Form eine gesamtdeutsche Gemein-samkeit, die sich als eine wichtige Ressource für das Zusammenwachsen unter schwieri-gen Randbedingunschwieri-gen bewähren sollte.

Damit schlagen wir einen gedanklichen Bogen zurück zu den allgemeinen Überlegungen, die am Anfang dieses Kapitels stehen. Unsere eingangs vorgestellte These lautete, dass die politische Kultur des geeinten Deutschland eine Pfadabhängigkeit aufweist, die in ihren Traditionslinien bis in das 19. Jahrhundert zurückführt und kulturelle Eigenheiten der vor 1990 in Ost und West getrennt verlaufenen deutschen Sonderwege in sich auf-genommen hat. Wie historisch „vorbelastet“ die gesamtdeutsche politische Kultur in ihrer Formationsphase war (und bis heute geblieben ist), bestätigt beispielhaft die un-unterbrochene Sozialstaatspräferenz, die auch den jüngsten Systemwechsel in Deutsch-land überdauert hat und als ein Kernbestandteil der historisch gewachsenen deutschen Staatskultur angesehen werden kann.

Aus dieser Perspektive erscheint die prinzipiell zutreffende Einschätzung, nachwirkende Sozialisationseffekte des untergegangenen SED-Regimes hätten sich „als Hemmschuh für die kulturelle Integration der beiden Teile des vereinigten Deutschlands“ erwiesen und überdies seien die meisten Ostdeutschen auf die Wiedervereinigung „mental nicht vorbereitet“ gewesen (Gabriel/Neller 2010: 74, 76), in einem neuen Licht. Der Integrati-on förderlich war immerhin der den Ost- und Westdeutschen historisch eingeschriebene gemeinsame sozialstaatliche Nenner, ungeachtet der unterschiedlichen Leistungsni-veaus und gegensätzlichen gesellschaftspolitischen Leitbilder, die während der Zeit der Zweistaatlichkeit gegeben waren. Der Institutionentransfer, der 1990 im Bereich sozia-ler Sicherung und Vorsorge erfolgt ist, hat sich als eine wesentliche Stabilisierungshilfe im Einigungsprozess bewährt. Er federte nicht nur materielle Risiken ab, sondern trug auch mit dazu bei, dass das in Ostdeutschland neu eingeführte System der Demokratie dort die Unterstützung fand, die es fand.

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Als hemmend erwies sich dasselbe kulturelle Erbgut infolge seiner DDR-Verschalung jedoch ebenfalls: einmal wegen der eingebauten Autonomieblockaden und zum anderen aufgrund der mit ihm eng verbundenen alternativlosen Fixierung auf Staatshilfe, die ge-paart war mit der Erwartung eines staatlich garantierten Wohlbefindens. Diese Erwar-tungshaltung griff über den Sektor der Sozialpolitik hinaus und bezog, auch darin dem aus DDR-Zeiten gewohnten Leitbild einer allumfassenden Staatsverantwortung folgend, allgemein Wirtschaft, Konsum und Lebensbedingungen mit ein. „Der Übergang von 1990“, schrieb der Soziologe M. Rainer Lepsius im Jahr 1994, „wurde getragen von gro-ßen Erwartungen materieller und ideeller Art“. Anders als in der Nachkriegszeit, be-stünden jetzt „andere Kriterien für die Erwartungen, für die Bereitschaft, die Bedürfnis-befriedigung zu vertagen, die Anspruchshöhe an die Leistungsfähigkeit der neuen Ord-nung anzupassen“. Die Legitimität der neuen OrdOrd-nung unterlag in Ostdeutschland „Effi-zienzkriterien, die höher sind, als es 1949 der Fall war“ (Lepsius 1995: 32f.). Diese Deu-tung beschreibt recht genau, weshalb das in Ostdeutschland neu eingeführte System der Demokratie nicht mehr Unterstützung fand als die, die es zunächst fand.

Mit dem zeitlichen Abstand von 25 Jahren wird deutlich: Unter den damals gegebenen Bedingungen ist ein unaufhaltsamer und furioser „Siegeszug der Demokratie“, der in einem linear aufsteigenden Zuwachs an Zufriedenheit mit den Lebensbedingungen und an Unterstützung des neuen politischen Systems seinen Niederschlag gefunden hätte, nicht zu erwarten gewesen. In dem Maße, wie im Zuge der Privatisierung der Unter-nehmen massenhaft Arbeitskräfte freigesetzt wurden, wie mit der Auflösung der großen Kombinate komplette Betreuungs- und Versorgungsangebote wegbrachen, wie Human-kapital in Form erworbener Qualifikationen und etablierter Berufsbilder seine Gültigkeit verlor, wie persönliche Entwicklungsguthaben an Statusgarantien und Karrierechancen entwertet wurden und wie trotz einer äußerst hohen Anpassungsflexibilität an neue Produktionsformate und Arbeitsabläufe der Verlust des Arbeitsplatzes nicht verhindert werden konnte, schlugen hochgespannte Erwartungen in Enttäuschung um.

Dennoch ist inzwischen, zweieinhalb Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung, ein be-achtlicher Fundus an Gemeinsamkeiten der politischen Kultur entstanden. Die im an-schließenden Kapitel 4 dokumentierten Zeitreihen der Einstellungsdaten zeigen bemer-kenswerte „Fortschritte im Prozess der Herstellung der inneren Einheit an, die den 1990 vollzogenen Institutionentransfer erst verhaltenswirksam werden lassen“ (Gabriel/ Nel-ler 2010: 77). Divergenz, d.h. eine sich öffnende Schere der Einstellungen in Ost und West, ist nicht kulturprägend geworden. Kein Zweifel: Im Spiegel dieser Daten werden andererseits nicht ausschließlich Tendenzen einer Konvergenz, sondern ebenso einer fortbestehenden Differenz der Einstellungen von Ost- und Westdeutschen erkennbar.

Dass sich, wie im Folgenden aufgezeigt wird, Abstände im Niveau etlicher Einstellungen und Einschätzungen gehalten haben, verweist auf nach wie vor bestehende Besonder-heiten und Unterschiede, d.h. nicht zuletzt auch auf immer noch unterschiedlich intensiv auftretende Problemlagen zwischen west- und ostdeutschen Regionen, wobei die ge-schilderten historischen Pfadabhängigkeiten auf je eigene Weise wirksam werden.

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Es gibt vor allem zwei Gründe dafür, dass der Institutionenwandel, der ein Herzstück des 1990 vollzogenen Systemwechsels zu Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft darstellt, in Ostdeutschland erst „verspätet“ kulturelle Wirkung entfalten konnte. Zum einen haben hier, wie die wie selbstverständlich eingeforderte Staatsverantwortung für soziale Sicherheit, Beschäftigung und wirtschaftliche Prosperität beispielhaft zeigt, prä-gende Sozialisationseffekte der formell beseitigten Institutionen des Vorgängerregimes noch länger nachgewirkt. Neben diesem „Regimeeffekt der DDR“ (Roller 1999: 244) ha-ben die ökonomische Transformationskrise und die daraus erwachsenen sozialen Ver-werfungen verhindert, dass sich in Ostdeutschland eine stabile demokratische politische Kultur zügiger aufbauen konnte.

Jedoch: So wie es Zeit braucht, bis die Bindekraft beseitigter alter Institutionen nach-lässt, so arbeitet die Zeit wiederum auch für eine allmähliche Aneignung der neuen Insti-tutionen. Dieser Hoffnung hatte Karl Rohe vor nunmehr gut 20 Jahren Ausdruck gege-ben, als er vorsichtig optimistisch schrieb, die Tatsache, dass das bundesdeutsche Insti-tutionengefüge 1990 nach Ostdeutschland exportiert worden war, sei „eventuell geeig-net, den Prozess der kulturellen Einigung Deutschlands voranzubringen“ (Rohe 1993:

231). Tatsächlich enthalten die nachfolgend dargestellten Daten-Zeitreihen in ihrer Längsschnittperspektive unübersehbare Belege dafür, dass Ost und West sich im Feld der politischen Kultur deutlich einander angenähert haben. Störanfällig blieb der Pro-zess allemal. So waren und sind die nachwachsenden Generationen keineswegs automa-tisch ´geborene` Garanten der Demokratie. Auch Jüngere bewerten, wie Umfragen bestä-tigen, Politik und Wirtschaft nach Leistungskriterien und bemessen ihre Unterstützung des Systems danach, ob dieses ihnen Räume öffnet für persönliche Entfaltung, für ange-messene Lebensbedingungen und für hoffnungsvolle Zukunftsperspektiven.

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4 Die Entwicklung der gesellschaftlichen und politischen Kultur im

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