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Langzeitwirkungen der deutschen „Staatskultur“

I Deutschland 2014 – Ergebnisse der repräsentativen Bevölkerungsumfrage

3 Ausgangslage 1990 - Die Historisierung politischer und gesell- gesell-schaftlicher Einstellungen und das kulturelle Erbe der DDR im

3.1 Allgemeine Einordnung

3.1.3 Langzeitwirkungen der deutschen „Staatskultur“

Der Komplex der Staatskultur bündelt politische Einstellungen und Erwartungen von sehr langer Dauer. Dieses Kulturmuster ist ein hervorstechendes historisches Marken-zeichen der politischen Kultur Deutschlands und ein Beleg für ihre über mehrfache Sys-temwechsel hinweg reichenden Pfadabhängigkeit. Der Begriff selbst ist von Karl Rohe in den 1980er Jahren eingeführt worden als Ergebnis seiner kritischen Auseinanderset-zung mit dem Civic-Culture-Analysekonzept Almonds und Verbas (1963). Diese sahen die partizipative Qualität der westdeutschen Nachkriegsdemokratie vergleichsweise unterentwickelt und führten die von ihnen gemessenen Defizite an politisch aktiver

Bürgerlichkeit auf Nachwirkungen der „Untertanenkultur“ des Wilhelminischen Kaiser-reiches zurück (Holtmann 2013).

Dieser Interpretation setzte Rohe eine begriffliche Differenzierung entgegen: Er unter-schied „Teilhabekultur“, die sich in Deutschland historisch als „Staatskultur“ ausformte, und „Teilnahmekultur“, wie sie dem anglo-amerikanischen Kulturkreis mit seiner ver-gleichsweise gering entwickelten Staatstätigkeit vertraut ist. Als typisches Merkmal deutscher Staatskultur hat sich nach Rohe im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein auf öffentliche Leistungen setzendes, Output-zentriertes Politikverständnis ausgeformt, das Politik „in erster Linie als die Herstellung, Allokation und Verteilung von öffentlichen Gütern begreift“ (Rohe 1984: 35). Daraus sei eine „auf ´sachliche` Ergebnisse“ ausgerich-tete Erwartungshaltung erwachsen, die auf das Leistungsvermögen und die Leistungs-gerechtigkeit der staatlichen Organe setzt. In diesem Traditionshorizont der deutschen politischen Kultur war, so Rohe, „die Teilhabenorm, also das Recht eines jeden Einzelnen und jeder gesellschaftlichen Gruppe, einen entsprechenden Anteil an den politisch er-zeugten öffentlichen Gütern zu erhalten, weitaus stärker verankert als die Teilnahme-norm, also das Recht aller auf Teilhabe am politischen Prozess“ (ebd.: 39).

Zweifellos atmete diese Staatskultur noch bis mindestens 1918, von der herrschenden Staatsräson her betrachtet, einen obrigkeitsstaatlichen und sozial paternalistischen Geist. Dennoch wuchs im Gehäuse der Staatskultur eine Art der Beziehung zwischen Bürgern und Staat heran, die nicht auf eine Haltung autoritätshöriger Unterwerfung re-duziert werden darf. Denn zum einen waren nicht nur die sozialstaatlichen Segnungen als Rechtsanspruch gesetzlich garantiert, sondern rechtsstaatlich abgesichert war auch schon die allgemeine Rechtspersönlichkeit des Bürgers. Kein Zweifel: Die Monarchie war nicht demokratisch verfasst, aber sie war schon ein formaler Rechtsstaat (Böcken-förde 1969).

Zum anderen hatten sich nach 1890, im Zuge der praktischen Umsetzung der Bis-marck´schen Sozialversicherung, in Gestalt tripartistischer korporativer Vereinbarun-gen, welche Unternehmerverbände, Gewerkschaften und staatliche Bürokratie zusam-menführten, bereits ansatzweise Formen einer Mitwirkung der Gesellschaft entwickelt.

Diese Mitsprache war zwar noch weit entfernt von basisdemokratischen Möglichkeiten individueller Einflussnahme, sie machte aber doch die organisierten Interessen breiter Bevölkerungsschichten geltend. Die Staatspraxis im Deutschen Reich wurde so schon während der Kaiserzeit aus den systemoppositionellen Sozialmilieus der sozialistischen Arbeiterbewegung und des katholischen Zentrums heraus über Kanäle verbandlich ge-steuerter kollektiver Beteiligung beeinflusst. Unbeschadet ihrer repressiven und vor-demokratischen Züge, wurde Staatlichkeit daher weithin wahrgenommen als „eine Vor-bedingung für ein angenehmes und bürgerliches Leben“. Verbreitet war schon damals

„ein Grundvertrauen in den deutschen Staat, in seine Leistungsfähigkeit, seine Fairness und seine rechtlichen Bürgschaften“ (Rohe 1993: 221).

Zu diesen rechtlichen Bürgschaften zählte eine im Großen und Ganzen unabhängige Jus-tiz. Rechtsprechung und Verwaltung unterlagen dem Legalitätsprinzip, d.h. sie waren an

Geist und Buchstaben der vom Reichstag verabschiedeten Gesetze gebunden. Individuel-ler Rechtsschutz war prinzipiell einklagbar. Die in Preußen gegen Ende des 18. Jahrhun-derts geschaffene Institution der Verwaltungsgerichtsbarkeit eröffnet seither Bürgern, die von Entscheidungen der Verwaltungsbehörden betroffen sind, die Möglichkeit, einen besonderen Rechtsschutz gegenüber der Exekutive einzuklagen.

Vor dem historischen Erfahrungshintergrund überrascht nicht, dass Almond und Verba in ihrer monumentalen Civic-Culture Studie Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre auf Seiten der Bürger eine hohe „administrative Kompetenz“ als Merkmal der politi-schen Kultur der Bundesrepublik feststellten. Dieses individuelle Ausstattungsmerkmal verweist auf ein ausgeprägtes, auf der Kenntnis eigener Rechtsgarantien beruhendes Selbstbewusstsein im Umgang mit Behörden (Almond/Verba 1963: 214f., 429). Fälschli-cherweise deuteten Almond und Verba diese Befähigung als ein Symptom des Nachwir-kens der Verhaltensgestalt eines „kompetenten Untertanen“ (ebd.: 227). Tatsächlich spiegelt das selbstbewusste Auftreten gegenüber der Verwaltung wohl eher die Erfah-rung wider, dass persönliche Freiheitsrechte und sozialpolitische Leistungsansprüche staatlich verbrieft sind. Daher ist man willens, diese Rechte und Ansprüche gegenüber dem Staat und seinen Organen auch individuell geltend zu machen.

3.1.4 „Gemeinschaftskultur“ und „Gesellschaftskultur“ als komplementäre Strän-ge neben der „Staatskultur“

Obwohl die Staatskultur historisch zum beherrschenden Strang der deutschen politi-schen Kultur wurde, entfaltet sich der etatistische Grundzug, der diesem Kulturmuster innewohnt, schon im Wilhelminischen Deutschland nicht ungehemmt. Die Staatskultur wurde vielmehr früh flankiert – und in ihren autoritären Anwandlungen tendenziell ein-gegrenzt – durch zwei weitere kulturelle Traditionsstränge, die Karl Rohe mit den Be-griffen Gemeinschaftskultur und Gesellschaftskultur belegt hat. In dieser Begriffsbildung wird die sprachlich anverwandte Gegenüberstellung Gemeinschaft versus Gesellschaft, die von dem Soziologen Ferdinand Tönnies in den 1930er Jahren eingeführt wurde, er-kennbar wieder aufgenommen. Tönnies verstand unter Gemeinschaft einen Typus sozia-ler Verbundenheit, dessen Grundformen die im „Zusammenwohnen und Zusammenwir-ken begründeten innerlichen Verhältnisse der Verwandtschaft, Nachbarschaft und Freundschaft bzw. die in Familie, Gemeinde und Genossenschaft sich äußernden Bedin-gungen“ darstellen (Specht 1965: 329). Im Stile der Zeit wurde Gemeinschaft zur „ur-sprünglichen“ Lebensform romantisch verklärt. Demgegenüber erschien die „auf Ratio-nalität, Technisierung und Ökonomisierung hintreibende“ Gesellschaft des industriellen Zeitalters als ein künstlich geschaffenes Gegenbild (ebd.: 330).

Auch wenn man die zeitbedingten Romantizismen und völkischen Anklänge beiseite lässt, sind die beiden sozialen Formationen Gemeinschaft und Gesellschaft in ihren kul-turellen Eigenheiten nicht so ohne weiteres klar unterscheidbar. Zweipolige Zuordnun-gen wie etwa egoistisch/altruistisch oder organisiert/unorganisiert oder expressiv/

introvertiert versagen als sprachliche Trennwände. Als ein Unterscheidungsmerkmal

geeignet erscheint das Eigenschaftspaar öffentlich/privat: „Gemeinschaft“ beschreibt eine elementare soziale Form persönlicher und informeller Beziehungen, die in der pri-vaten Sphäre angesiedelt sind und als unpolitisch angesehen werden. Gemeinschaftskul-tur bezieht ihren Sinn aus persönlicher Selbstverwirklichung mittels Sport, Spiel, KulGemeinschaftskul-tur, innerer Einkehr oder Geselligkeit. „Gesellschaft“ steht demgegenüber im modernen Ver-ständnis strukturell für eine Anordnung sozialer Schichtung und gestufter Statuszuwei-sungen, sowie kulturell, Max Webers klassischer Definition zufolge, für einen wert- oder zweckrational geleiteten Markt der Interessen bzw. eine ebenso motivierte Interessen-verbindung (Weber 1976: 21). Gesellschaftskultur wird getragen von absichtsvoller Einwirkung auf die Definition, Erzeugung, Erfüllung und Verteilung öffentlicher Güter und Aufgaben; dafür sucht sie die Wirkung im öffentlichen Raum.

Historisch beschreibt Rohe als typisch für das Kaiserreich und noch für die Weimarer Republik eine kulturelle Paarung, die neben der beherrschenden Staatskultur eine gleichfalls starke Tradition von Gemeinschaftskultur aufweist. Eine Gesellschaftskultur im Sinne einer selbstbewussten und auf aktive politische Beteiligung orientierten Bür-gerkultur, wie sie Almond und Verba im Civic-Culture-Konzept normativ modelliert ha-ben, sei hingegen nur relativ schwach entwickelt gewesen (Rohe 1993: 223). Zugleich warnt Rohe jedoch davor, die Input-Gewichtung des Civic-Culture-Modells zu verallge-meinern. Dies berge die Gefahr, die Eigenart einer Staatskultur und die in ihr in Deutsch-land seinerzeit auch schon vorhandenen partizipativen Ansätze zu unterschätzen. In der Sicht der Civic Culture, die vorrangig auf individuelle zivile Einmischung und Aktivität abhebt, bleibe bei der Beurteilung der deutschen Tradition unbeachtet, was im sozial-korporatistischen Modus des Interessenausgleichs als „kollektive Partizipation“ bereits damals wirksam war, nämlich das Aushandeln von Entscheidungen in Spitzengesprä-chen der kollektiven Akteure von Arbeit, Kapital und Staat. Diese Partizipation sei kei-neswegs rein instrumentell ausgelegt, sondern auch in Werthaltungen begründet gewe-sen (ebd.: 222). In jedem Fall handelte es sich um gesellschaftliche Beteiligung und so-mit um eine Ausprägung von Gesellschaftskultur.

Unsere aus dem Gedanken der Historisierung entwickelte These ist die folgende: In die gesamtdeutsche politische Kultur fanden nach 1990 „Legate“ (legacies) der DDR Ein-gang, in denen ein spezifisches kulturelles Erbe der DDR fortlebt und die ihrerseits auf sehr viel ältere deutsche kulturelle Traditionen zurückverweisen. Diese ältere Traditi-onslinie, die vor allem das Leitbild der Staatskultur transportiert, hatte sich nach Grün-dung der Nachkriegsdemokratie auch in die westdeutsche Bundesrepublik hinein ver-längert. Die Staatskultur stellt folglich eine deutsch-deutsche Gemeinsamkeit dar, die in ihrer spezifischen DDR-Prägung als kulturelle Mitgift Ostdeutschlands in die Wiederver-einigung eingebracht und dort mit ihrem westdeutschen Zwilling, der zwischenzeitlich andere Wege gegangen war, wieder zusammengeführt worden ist.

Für den Nachweis dieser These erweist sich die von Rohe eingeführte Unterscheidung nach Staats-, Gemeinschafts- und Gesellschaftskultur als hilfreich. Zu beachten ist aller-dings, dass die Bedeutung und die Bandbreite dieser drei kulturellen Sphären, die

analy-tisch als Einstellungskomplexe erfasst werden können, abhängig sind vom Charakter des Systems. Nach der deutschen Einigung haben sich hier in Ostdeutschland die Gewichte verschoben. Während der Bereich der Staatskultur in der DDR sehr viel weiter ausge-griffen und im Grunde nur eine staatlich abgeleitete Gesellschaftskultur zugelassen hat-te, konnte sich letztere in der Bundesrepublik eigenständiger entwickeln. Entsprechend offen bleibt daher im empirischen Teil dieses Projektberichts die Zuordnung der einzel-nen Einstellungsvariablen zu den drei genannten Kulturmustern.

Die anschließenden Teile dieses Kapitels 3 bauen inhaltlich wie folgt aufeinander auf: In den nächsten beiden Abschnitten 3.1.5 und 3.1.6 wird anhand der Literatur verglei-chend herausgearbeitet, wie sich bestimmte Traditionslinien der deutschen politischen Kultur in beide deutsche Teilstaaten nach 1945 bzw. 1949 hinein verlängert haben. Da-bei wird den historischen Spuren der Staatskultur besonderes Augenmerk zuteil. An-schließend werden im Kapitelteil 3.2, das die Empirie des Scharnierkapitels enthält, zu-nächst bisher kaum bekannte Umfragedaten ausgewertet, die Auskunft geben über das politische und gesellschaftliche Bewusstsein der Bevölkerung zu Zeiten der DDR. Hier-über liegen Trendmessungen vor, die zurückreichen bis Ende der 1960er Jahre und auf-steigend bis zum historischen Scheiteljahr 1990 durchlaufend erhalten sind.

Sodann wird anhand weiterer empirischer Daten dokumentiert, wie sich innerhalb des Einigungsjahres 1990 und des ersten Jahres danach, also noch während der Kernzeit von Transition und Transformation, Stimmungslagen ausgeformt und verändert haben.

Dabei wird sichtbar, dass der Euphorie, die in Ostdeutschland den Systemwechsel be-gleitete, bald die psychologische Transformationskrise auf dem Fuße gefolgt ist.

In den beiden letzten Abschnitten des empirischen Teils des zweiten Kapitels gehen wir auf den Stand der Dinge in dem Bereich der Staatskultur und einem ausgewählten Seg-ment der Gesellschaftskultur bei Eintritt in das vereinte Deutschland ein. Dabei wird zum einen deutlich, dass der Übergang von der fremdbestimmten zur selbstbestimmten Form verbandlich organisierter Vertretung wirtschaftlicher Interessen sehr zügig erfolg-te. Ostdeutschland hat demnach bemerkenswert unkompliziert Anschluss gefunden an das korporatistische Traditionselement der deutschen Gesellschaftskultur in seiner westdeutschen Prägung. Zum anderen wird erkennbar, wie lebendig das staatskulturelle Vermächtnis der DDR in Einstellungen der Ostdeutschen zum Zeitpunkt des System-wechsels gewesen ist und in welchem Maße es die Bereitschaft, das neue System zu un-terstützen, beeinflusst hat. Die vergleichende Auswertung der Daten zeigt zudem, dass die grundsätzliche Erwartungshaltung, die auf Staatsleistungen setzt, im Einigungsjahr auch für Westdeutschland nachweisbar ist, wenngleich in geringerem Ausmaß.

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