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Schneller Anschluss an die Gesellschaftskultur der Demokratie: Verbands- Verbands-bindungen in Ostdeutschland im Jahr der Einigung Verbands-bindungen in Ostdeutschland im Jahr der Einigung

I Deutschland 2014 – Ergebnisse der repräsentativen Bevölkerungsumfrage

3 Ausgangslage 1990 - Die Historisierung politischer und gesell- gesell-schaftlicher Einstellungen und das kulturelle Erbe der DDR im

3.1 Allgemeine Einordnung

3.2.9 Schneller Anschluss an die Gesellschaftskultur der Demokratie: Verbands- Verbands-bindungen in Ostdeutschland im Jahr der Einigung Verbands-bindungen in Ostdeutschland im Jahr der Einigung

Im obigen Teil (vgl. Kapitel 3.1.5) haben wir das neokorporatistische Modell kollektiver wirtschaftlicher Interessenvertretung, das auf der Mitgliederstärke und hierarchisierten Verhandlungsfähigkeit großer Organisationen beruht, als ein modernes Systemmerkmal der Bundesrepublik vorgestellt, das in der historischen Kontinuität deutscher „Staats-kultur“ steht. Wir haben ferner darauf verwiesen, dass der verbandliche Korporatismus als ein tragendes Teil der bundesdeutschen demokratischen „Gesellschaftskultur“ ange-sehen werden kann. Die Übertragung von Organisationsstrukturen und Handlungsmus-tern des auf den Grundsätzen freiwilliger Mitgliedschaft und innerverbandlicher Mitbe-stimmung gründendes westdeutschen Verbändesystems nach Ostdeutschland war Teil des Institutionentransfers, der im Prozess der Einigung stattgefunden hat.

Ein automatisches Anerkennen als eine autorisierte neue Interessenvertretung ging mit dem Westexport des Verbändesektors indessen seitens der Ostdeutschen nicht einher.

Die DGB-Gewerkschaften orientierten sich bei der Ausdehnung ihrer Branchenorganisa-tionen in die neuen Bundesländer an dem Übernahmemodell „Auflösung der DDR-Gewerkschaften und Übertritt der Mitglieder“ (Fichter/Reister 1996: 310). Die Mitglied-schaft in einer GewerkMitglied-schaft entsprang also freiwilliger individueller Entscheidung. So war es, mit den Worten des Verbändeforschers Bernhard Weßels, „angesichts des Re-präsentationsbedarfs nach über 50 Jahren nicht vorhandener Selbstorganisation in Ost-deutschland […] eine zentrale Frage, ob sich die Bürger von Organisationen mit ihren Interessen vertreten fühlen“ (Weßels 1992: 6).

Mit Blick auf diese Ausgangssituation war der alsbaldige Zustrom zu den freien Gewerk-schaften beeindruckend. Im Jahr 1990 zählten die DGB-GewerkGewerk-schaften im Osten

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Deutschlands mehr als 3,6 Millionen Mitglieder und im Jahr darauf knapp 4,2 Millionen.

Der Organisationsgrad stieg im gleichen Zeitraum von 39,4 Prozent auf 42,2 Prozent der Arbeitnehmer und lag damit um rund 10 Prozentpunkte höher als in Westdeutschland (Fichter/Reister 1996: 313).

Zwar gingen die Mitgliedszahlen im Organisationsbereich des DGB-Ost danach bis 1994 auf knapp 2,6 Millionen – per Saldo ein Verlust von gut einem Drittel – zurück (ebd.:

315). Der massive Mitgliederverlust ist jedoch nicht zu deuten als Ausdruck eines kol-lektiven Misstrauensvotums an die Adresse der Verbandspolitik. Er war vielmehr die Folge der De-Industrialisierung Ostdeutschlands, die den Abbau von Millionen von Ar-beitsplätzen mit sich brachte.

Der hohe formale Organisationsgrad, den die freien Gewerkschaften 1990 im Osten vorweisen konnten, hat folglich bereits als solcher eine gewisse Aussagekraft, was die selbstbestimmte Organisationsbindung ostdeutscher Arbeitnehmer betrifft. Bernhard Weßels hat auf der Basis repräsentativer Umfragen von Oktober und November 1990 die Organisationspräferenzen der Bürger sowie ihre gefühlte „Vertretenheit durch Or-ganisationen“ in Ost- und Westdeutschland vergleichend untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass sich Ende 1990 zwar mehr Ostdeutsche durch Umweltgruppen als von Ge-werkschaften vertreten fühlten, gleichzeitig aber die Arbeitnehmerverbände als mit Ab-stand persönlich „wichtigste Organisation“ betrachteten (Tabelle 18). „Im Gegensatz zur generellen Vertretenheit“, folgerte Weßels, „stehen nach persönlicher Wichtigkeit in Ostdeutschland also nicht Organisationen der ´Neuen Politik` an der Spitze, sondern Or-ganisationen der ´Alten Politik`“ (Weßels 1992: 7).

Vertretenheit durch Organisationen, Angaben in Prozent, alte und neue Bundesländer, Tabelle 18

Oktober/November 1990

Alte Bundesländer Neue Bundesländer

Fühle mich

ver-treten. Ist eine wichtige

Organisation. Fühle mich

ver-treten. Ist eine wichtige Organisation.

Arbeitgeberorganisationen 25,1 1,0 (8) 16,0 1,0 (8)

Bauernverbände 24,4 0,9 (9) 16,5 1,0 (9)

Fragetext: „Sagen Sie mir bitte für jede dieser Gruppen und Organisationen – egal, ob Sie darin Mitglied sind oder nicht – ob sie Ihrer Meinung nach Ihre Interessen vertritt oder Ihren Interessen entgegensteht.“;

„Welche eine von diesen Gruppen und Organisationen ist für Sie persönlich am wichtigsten?“ Quelle:

Weßels 1992: S. 7.

Im Hinblick auf die hier besonders interessierende Frage nach dem transformationsbe-dingten Wandel der DDR-eigenen „Gesellschaftskultur“, die ein weitgehend

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stimmter Ausleger des autoritären Staatsmodells war, und ihrer Anschlussfähigkeit an das westdeutsche Gegenmodell ist Weßels´ Befund in mehrfacher Hinsicht aufschluss-reich. Zum einen hatte die besondere Wertschätzung von Umweltschutzgruppen vor allem situationsbedingte Beweggründe: Diese Gruppierungen genossen Ansehen als Teil der oppositionellen Bürgerbewegung, die den Sturz des alten Regimes maßgeblich mit herbeigeführt hatte. Außerdem war das Ausmaß der Umweltschäden gleichsam hautnah spürbar, und die Beseitigung ökologischer Schäden besaß daher in den Augen der Bür-ger eine hohe aktuelle Dringlichkeit. Zum anderen hatte die Vertretung von Themen der sogenannten Neuen Politik, zu welchen neben Umweltfragen auch Selbstverwirklichung und Partizipation zählen, unter dem Regime der DDR keinerlei Spielraum gehabt, mit der Folge, dass sich in der ostdeutschen Gesellschaft keine entsprechende kulturelle Konfliktlinie hatte ausbilden können. Erfahrungen, wie sie die Westdeutschen seit den späten 1960er Jahren gemacht hatten, als im Gefolge des Wertewandels Bürgerinitiati-ven und Neue Soziale Bewegungen auftraten, hatten die Ostdeutschen gezwungenerma-ßen „ausgelassen“ (so Weßels 1992: 8).

So gesehen, gab es zum Zeitpunkt der Einigung im Osten Deutschlands keine wirkliche Wahlmöglichkeit zwischen den Werten der Alten und der Neuen Politik. Drittens wäre eine breite Hinwendung zu postmaterialistischen Werten auch schon deshalb wenig wahrscheinlich gewesen, weil in der gegebenen Situation des ökonomischen und gesell-schaftlichen Umbruchs materielle Bedürfnisse wie z.B. gesicherte Arbeitsplätze und Ein-kommen eindeutig Vorrang hatten (vgl. Tabelle 19).

Persönlich wichtigste Organisation nach Problembereich (Verbände/Institutionen), Tabelle 19

Angaben in Prozent, alte und neue Bundesländer, Oktober/November 1990

Problembereiche: Alte Bundesländer Neue Bundesländer

Wirtschaft und Arbeit 15,9 37,1

Soziales 7,2 4,9

Religion 11,7 7,2

„Neue Politik“ 32,3 17,7

Quelle: Weßels 1992: S. 8.

Aus diesen Gründen erwies sich die „alte“, neokorporatistisch organisierte Seite west-deutscher Gesellschaftskultur für ostdeutsche Arbeitnehmer als anschlussfähig. Es fiel vergleichsweise leicht, die eigenen individuellen Interessen in das westliche Modell ver-bandlich organisierter Interessenvertretung zu übertragen. Die Hinwendung der Ost-deutschen im Einigungsjahr 1990 zu den verbandlich organisierten Sachwaltern der Alten Politik (vgl. Tabelle 20) geschah sowohl aus traditionaler Gewohnheit wie aus zweckrationalen Erwägungen: Man handelte mit dem Beitritt zum jetzt demokratisch erneuerten Verband „pfadabhängig“, d.h. blieb dort, wo man von der Interessenlage her auch zu DDR-Zeiten schon gewesen war. Zudem verband sich mit der erneuerten Orga-nisationsbindung subjektiv die „Erwartungssicherheit“ (Weßels), die eigenen Interessen unter veränderten Bedingungen des Konfliktaustrags weiterhin vertreten zu sehen.

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Die Gewerkschaften vertreten persönliche Interessen (Zustimmung), Angaben in Pro-Tabelle 20

zent, alte und neue Bundesländer, Oktober/November 1990

Alte Bundesländer Neue Bundesländer

Insgesamt 48,4 68,8

Nicht-Gewerkschaftsmitglieder 38,3 51,2

Gewerkschaftsmitglieder 88,3 82,6

Mitglieder im Bereich Dienstleistungen 90,0 85,3

Mitglieder im Bereich Industrie 89,2 81,4

Quelle: Weßels 1992: S. 13.

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