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Die Einstellungen der DDR-Bürger am Vorabend der deutschen Vereinigung von Frühjahr bis Sommer 1990 von Frühjahr bis Sommer 1990

I Deutschland 2014 – Ergebnisse der repräsentativen Bevölkerungsumfrage

3 Ausgangslage 1990 - Die Historisierung politischer und gesell- gesell-schaftlicher Einstellungen und das kulturelle Erbe der DDR im

3.1 Allgemeine Einordnung

3.2.7 Die Einstellungen der DDR-Bürger am Vorabend der deutschen Vereinigung von Frühjahr bis Sommer 1990 von Frühjahr bis Sommer 1990

3.2.7.1 Aufbruchsstimmung und hoffnungsfrohe Erwartungen – das Momentum des ost-deutschen Vormärz 1990

Hoffnung, Aufbruchsstimmung und Zuversicht kennzeichneten die Erwartungen, welche die große Mehrheit der Ostdeutschen im „Vormärz“ der deutschen Einheit hegte, in je-ner Zeitspanne also, während der sich die Wiedervereinigung als ein weiterreichender Horizont des fortschreitenden politischen Umbruchs in der DDR deutlich öffnete. Im Bild der Einstellungen der Bevölkerungen beider deutscher Staaten überwogen zu diesem

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Zeitpunkt die Gemeinsamkeiten. Das veranschaulicht eine repräsentative Bevölkerungs-umfrage, die im März 1990 von der Forschungsstelle für gesellschaftliche Entwicklung an der Universität Mannheim unter der Leitung von Rudolf Wildenmann in Ost und West durchgeführt worden ist (ZA-Nr. 1902).

Mehr als 90 Prozent der Ostdeutschen verbanden die bevorstehende Herstellung der deutschen Einheit mit einem Gefühl der Freude oder sogar sehr großen Freude (Abbildung 15). Spätestens zu diesem Zeitpunkt im Frühjahr 1990 sah folglich die große Mehrheit der Bewohner der DDR die in der politischen Öffentlichkeit ebenfalls disku-tierten Varianten einer von innen heraus reformierten, doch weiterhin staatlich selb-ständigen DDR bzw. einer Konföderation beider deutscher Staaten nicht mehr als anzu-strebende Lösungen an. Auch in Westdeutschland überwog seinerzeit mehrheitlich die emotionale Zustimmung zur Wiedervereinigung, allerdings auf einem um mehr als 20 Prozentpunkte niedrigeren Niveau. Etwa jeder vierte befragte Westdeutsche zeigte sich

„nicht erfreut“ oder „gleichgültig“.

Gefühl gegenüber der Herstellung der deutschen Einheit, Angaben in Prozent, Alte Abbildung 15

und neue Bundesländer, März 1990

Fragetext: „Unabhängig von den genauen Maßnahmen und Plänen ist die Herstellung der deutschen Ein-heit mehr oder weniger eine beschlossene Sache. Was fühlen Sie dabei? Sind Sie darüber sehr erfreut, erfreut, nicht erfreut oder ist es Ihnen gleichgültig?“

Quelle: Eigene Berechnungen auf der Basis des ZA 1902, Politische Einstellungen in Ost und West März 1990, Vergleichende Umfrage BRD ─ DDR, Wildenmann 1990.

Recht dicht beieinander lagen in Ost und West auch die Einschätzungen, welche Folgen die Wiedervereinigung für beide Teilstaaten mit sich brächte. Dabei nahmen Ostdeut-sche eventuell auftretende Probleme, salopp gesagt, auf die leichtere Schulter: Dass es beispielsweise schwierig werden würde, die sozialen Sicherungssysteme beider bisheri-ger Staaten anzugleichen, glaubten fast 84 Prozent der Westdeutschen und gut 76 Pro-zent der Ostdeutschen (Tabelle 7). Zwei von drei Ostdeutschen und sogar acht von zehn Westdeutschen gaben zu bedenken, Deutschland werde „auf Jahre hinaus mit seinen eigenen Problemen beschäftigt sein“. Bemerkenswerterweise zeigten sich fast gleich

18,9

55,2

11,9 13,9

40,9

50,1

5,6 3,3

0%

25%

50%

75%

100%

Sehr erfreut Erfreut Nicht erfreut Ist mir gleichgültig

Alte Bundesländer Neue Bundesländer

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viele in West (gut 70%) und Ost (annähernd 74%) zuversichtlich, dass zumindest „die Übergangsschwierigkeiten sehr schnell behoben sein“ würden.

Dass die deutsche Einheit materielle Umverteilungen von West nach Ost im Gefolge ha-ben werde, erwarteten fast zwei Drittel der westdeutschen Bevölkerung, aber nur ca. 46 Prozent der Ostdeutschen. Aufgrund der eigenen langjährigen Erfahrungen mit den Mängeln der Planwirtschaft schätzten DDR-Bürger die Selbstheilungskräfte ihres Wirt-schaftssystems und dessen bleibende Spuren in der marktwirtschaftlichen Ordnung der Bundesrepublik realistischer als der Westen ein (Tabelle 7).

Einschätzung der Folgen der Wiedervereinigung, Angaben in Prozent, Alte und neue Tabelle 7

Bundesländer, März 1990

Alte Bundesländer Neue Bundesländer

Trifft Investitionsmöglich-keiten in der DDR schaffen neue Arbeitsplätze und

Fragetext: „Auf dieser Liste finden Sie eine Reihe von Aussagen darüber, welche Folgen die Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu einem einzigen Staat haben könnte. Sagen Sie mir bitte zu jeder Aussage, ob Sie der Ansicht nach voll und ganz zutrifft, eher zutrifft, eher nicht zutrifft oder überhaupt nicht zu-trifft?“

Quelle: Eigene Berechnungen auf der Basis des ZA 1902, Politische Einstellungen in Ost und West März 1990, Vergleichende Umfrage BRD ─ DDR, Wildenmann 1990.

Dass ´jeder seines Glückes Schmied ist`, bejahten am Vorabend der Einheit ungefähr gleichviele West- und Ostdeutsche. Dass das, was jemand im Leben erreiche, in erster Linie von den eigenen Leistungen und weniger von äußeren Einflüssen ab hänge – da-von waren fast drei Viertel der damaligen Bundesbürger, aber auch gut 70 Prozent ihrer ostdeutschen Landsleute überzeugt (Tabelle 8). Ebenso klare Mehrheiten beider Bevöl-kerungen hielten Ungleichheit in Einkommen und sozialem Status dann für

gerechtfer-104

tigt, wenn diese das Ergebnis individuell genutzter Chancen sei. Ersichtlich hatten sich zu diesem Zeitpunkt die meisten Ostdeutschen vom realsozialistischen Leitbild einer klassenlosen Gesellschaft bereits geistig verabschiedet und sich dem liberal-bürgerlichen, in die soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik überführten Aufstiegs-modell der gleichen Start- und Teilhabechancen (vgl. Dahrendorf 1974) innerlich zuge-wandt.

Einschätzung der Verhältnisse zwischen den Menschen und der Gesellschaft, Angaben Tabelle 8

in Prozent, Alte und neue Bundesländer, März 1990

Alte Bundesländer Neue Bundesländer

Trifft den Chancen, die man hatte, gemacht hat.

Was man im Leben erreicht, hängt in erster Linie von den eigenen Leistungen ab und weniger von äußeren Einflüssen.

26,9 46,1 21,7 5,3 15,0 55,3 25,7 4,1

Fragetext: „Hier haben Sie einige Aussagen über das Verhältnis zwischen dem einzelnen Menschen und der Gesellschaft. Sagen Sie mir bitte zu jeder Aussage, ob Sie Ihrer Ansicht nach voll und ganz, eher, eher nicht oder überhaupt nicht zutrifft?“

Quelle: Eigene Berechnungen auf der Basis des ZA 1902, Politische Einstellungen in Ost und West März 1990, Vergleichende Umfrage BRD ─ DDR, Wildenmann 1990.

Als Erklärung dafür, dass auch die meisten Ostdeutschen einem leistungsbezogenen ge-sellschaftlichen Differential beipflichteten, kommen zwei Überlegungen in Betracht. Zum einen dürfte den Bürgern der DDR nicht verborgen geblieben sein, dass es entgegen der offiziellen Lesart des Regimes in der Gesellschaft der DDR sehr wohl eine soziale Schich-tung gab, die Tendenzen der Erstarrung aufwies und die wichtigsten Machtpositionen vornehmlich einem „sozialistischen „Staatsadel“ aus privilegierten Familienmilieus mit hoher SED-Bindung“ vorbehielt (Best u.a. 2012: 83). Zum anderen wurde vor dem Er-fahrungshintergrund, dass DDR-Eliten eine hohe soziale Schließung aufwiesen und dass Parteiloyalität eine notwendige Eintrittsbedingung für berufliche Karriere war, die bun-desdeutsche Leistungsgesellschaft offenbar als ein befreiendes Gegenmodell angesehen.

Für diese Deutung spricht auch, dass Fleiß, Ehrgeiz, Kreativität und Phantasie als per-sönliche Ideale in Ostdeutschland im Frühjahr 1990 genauso hoch oder sogar noch hö-her rangierten als in der Bundesrepublik (Tabelle 9).

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Auffällig ist, dass sehr viel mehr Ost- als Westdeutsche zum Zeitpunkt der Befragung im Frühjahr 1990 Die Überzeugung äußerten, man könne sich „heutzutage auf keinen ande-ren Menschen verlassen“ (Tabelle 8). Bestätigt wird damit der Befund sozialwissen-schaftlicher Studien, dass „trust“, also ein generalisierter Vertrauensvorschuss, der als eine wichtige Bestimmungsgröße für Sozialkapital betrachtet werden muss (Gabriel u.a.

2002, Gabriel/Zmerli 2006), unter Bedingungen von Unfreiheit und Diktatur geringer entwickelt ist (vgl. Merkel 1999: 167ff.).

Mit dem Befund, dass im März 1990 unter Ostdeutschen soziales Misstrauen weiter ver-breitet war als im Westen, korrespondiert auf der Einstellungsebene eine Grundhaltung, die als Hebel für persönliche Entfaltung häufiger auf eine Ellenbogenmentalität setzt, also sozialdarwinistisch unterlegt ist. Nur 29 Prozent der Westdeutschen, aber fast 43 Prozent der Ostdeutschen sahen es als wichtig an, „sich und seine eigenen Bedürfnisse besser gegen die anderen durchzusetzen“ (Tabelle 9).

Wichtigkeit ausgewählter Aspekte der persönlichen Entfaltung, Alte und neue Bundes-Tabelle 9

länder von 1 „überhaupt nicht wichtig“ bis 7 „außerordentlich wichtig“, März 1990, Angaben in Prozent,

Alte Bundesländer Neue Bundesländer

1 2 3 4 5 6 7 1 2 3 4 5 6 7 Kärtchen stehenden Aussagen für Sie persönlich? Benutzen Sie für die Antwort die auf dem Kärtchen ab-gedruckte Skala. Der Wert 1 bedeutet, die Aussage ist für Sie „überhaupt nicht wichtig“, der Wert 7, die Aussage ist für Sie „außerordentlich wichtig“. Mit den Werten dazwischen können Sie Ihre Meinung

abge-stuft wiedergeben.“

Quelle: Eigene Berechnungen auf der Basis des ZA 1902, Politische Einstellungen in Ost und West März 1990, Vergleichende Umfrage BRD ─ DDR, Wildenmann 1990.

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Umgekehrt war soziale Solidarität - außerhalb geschlossener Kollektive wie der Be-triebsgemeinschaften - geringer ausgeprägt. Gegen 35 Prozent im Westen, jedoch ledig-lich 22 Prozent im Osten hielten es für ziemledig-lich bzw. außerordentledig-lich wichtig, sozial Be-nachteiligten und gesellschaftlichen Randgruppen zu helfen. Das tatsächliche Erschei-nungsbild des demokratischen Systems der Bundesrepublik bewerteten die Bürger der DDR im März 1990 mehrheitlich außerordentlich skeptisch. Über 60 Prozent zeigten sich mit der bundesdeutschen Demokratie nur etwas bzw. gar nicht zufrieden (Abbildung 16). Im klaren Gegensatz dazu äußerten gut 85 Prozent der Westdeutschen, mit der in ihrem Land bestehenden Demokratie ziemlich oder sehr zufrieden zu sein.

Zufriedenheit mit der bundesdeutschen Demokratie, Angaben in Prozent, Alte und Abbildung 16

neue Bundesländer, März 1990

Fragetext: „Wie zufrieden sind Sie – alles in allem gesehen – mit der Demokratie, so wie sie in der Bundes-republik besteht?“

Quelle: Eigene Berechnungen auf der Basis des ZA 1902, Politische Einstellungen in Ost und West März 1990, Vergleichende Umfrage BRD ─ DDR, Wildenmann 1990.

Dass die Ostdeutschen die westdeutsche Demokratie deutlich kritischer bewerteten, ist umso überraschender, als beide Bevölkerungen in der Einschätzung von Grundwerten und Verfahrensgarantien, die den Kern von Demokratie ausmachen, weitgehend über-einstimmten (Tabelle 10). Im Osten brachen die Menschen häufiger eine Lanze für die Durchsetzung gesellschaftlicher Interessen, und sie äußerten sich außerdem eine Nuan-ce distanzierter gegenüber der Räson von Staat und Regierung. Dass DDR-Bürger das Demonstrationsrecht und die Meinungsfreiheit noch nachdrücklicher als Westdeutsche hochhielten, erklärt sich aus den Montagsdemonstrationen und weiteren Massenprotes-ten, die zu diesem Zeitpunkt im Bewusstsein noch frisch gegenwärtig waren, sowie mit der aus DDR-Zeiten gewohnten, gebotenen Vorsicht mit öffentlichen politischen Äuße-rungen.

27,2

58,1

13,0 5,2 1,7

33,1

47,7

13,9

0%

25%

50%

75%

100%

Sehr zufrieden Ziemlich zufrieden Etwas zufrieden Überhaupt nicht zufrieden

Alte Bundesländer Neue Bundesländer

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Einstellung zu Politik, Staat und Gesellschaft, von -3 „völlige Ablehnung“ bis +3 „völlige Tabelle 10

Übereinstimmung“ Angaben in Prozent, Alte und neue Bundesländer, März 1990

Alte Bundesländer Neue Bundesländer

-3 -2 -1 1 2 3 -3 -2 -1 1 2 3

Die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Interessengruppen in unserer Gesellschaft und ihre Forde-rungen an die Regierung schaden dem Allgemeinwohl.

12,5 14,9 20,0 24,1 19,4 9,1 24,6 24,6 23,3 11,4 11,9 2,5

Jeder Bürger hat das Recht, notfalls für seine Überzeugung auf die Straße zu gehen.

1,9 2,2 5,8 20,9 27,6 41,4 0,5 3,0 6,9 14,0 22,8 52,8 Der Bürger verliert das Recht

zu Streiks und Demonstratio-nen, wenn er damit die öffent-liche Ordnung gefährdet.

6,9 7,2 13,6 23,9 20,3 28,3 6,3 14,2 29,3 26,9 11,6 11,6

In jeder demokratischen Gesellschaft gibt es bestimmte Regie-rung zu kritisieren, sondern sie in ihrer Arbeit zu unter-stützen.

12,4 11,6 15,0 24,0 20,4 16,6 17,8 15,9 18,8 23,0 17,3 7,1

Eine lebensfähige Demokratie ist ohne politische Opposition nicht denkbar.

0,7 2,1 4,7 15,3 26,9 50,4 0,1 2,1 3,0 12,4 27,9 54,5 Jede demokratische Partei

sollte grundsätzlich die Chan-ce haben, an die Regierung zu kommen.

1,4 2,7 4,9 18,9 28,4 43,7 2,0 1,9 7,7 14,3 36,4 37,8

Die Interessen des ganzen Volkes sollten immer über den Sonderinteressen des einzel-nen stehen.

1,9 2,6 6,9 23,3 30,2 35,2 2,5 3,7 9,0 19,3 27,9 37,5

Fragetext: „Hier auf diesen Kärtchen stehen unterschiedliche Aussagen zu Politik, Staat und Gesellschaft.

Wir möchten Sie bitten, uns Ihre Stellungnahme zu jeder Behauptung wie folgt zu sagen. Der Wert -3 be-deutet, dass Sie die Aussage völlig ablehnen, der Wert +3, dass Sie der Aussage voll und ganz zustimmen.

Mit den Werten dazwischen können sie Ihre Meinung abgestuft wiedergeben.“

Quelle: Eigene Berechnungen auf der Basis des ZA 1902, Politische Einstellungen in Ost und West März 1990, Vergleichende Umfrage BRD ─ DDR, Wildenmann 1990.

3.2.7.2 Vor und kurz nach der Wirtschafts- und Währungsunion: optimistische Sicht in die Zukunft

Zum 1. Juli 1990 trat die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion (WWSU) beider deut-scher Staaten in Kraft. Damit wurden vertragliche Voraussetzungen geschaffen, um die Grundsätze der sozialen Marktwirtschaft nach Ostdeutschland zu übertragen. Ebenso wurde mit diesem Tag das Geldwesen auf die D-Mark-Währung umgestellt. Laufende Zahlungen, wie beispielsweise Löhne, und private Sparguthaben bis 4000 Mark bei Erwachsenen und bis 2000 Mark bei Kindern, wurden im Verhältnis eins zu eins umge-tauscht. Der Wechselkurs war politisch motiviert: „Es sollten soziale Spannungen und eine Massenabwanderung in den Westen Deutschlands vermieden werden“ (IWH 2014: 51).

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Insbesondere die Währungsreform bedeutete für das tägliche Leben der DDR-Bevölkerung eine tiefe Zäsur. Dieser Einschnitt sowie die vorausgehenden Erwartungen und anschließenden Eindrücke und Erfahrungen haben die Stimmungen und Einstellun-gen der ostdeutschen Bürger wesentlich geprägt. Das Meinungsbild, das zwischen Mai und August 1990 erhoben wurde, stellt zeitlich die unmittelbare Vorstufe vor dem for-mellen Eintritt der Bevölkerung der DDR in eine gesamtdeutsche politische Kultur dar.

Die Kommunikationsforschung von Infratest hat die verdichtete Stimmungslage dieser Monate mit gesonderten Umfragen begleitet. Dabei konnte die DDR-Bevölkerung erst-mals direkt repräsentativ erfasst werden.1

Demnach war das Stimmungsbild in der DDR mehrheitlich „durchgängig von Mai bis August von längerfristig optimistischen Zukunftserwartungen geprägt, fast alle Befrag-ten waren entschlossen, auf jeden Fall im Gebiet der DDR zu bleiben“ (Infratest 1990:

97). Von März bis Juni 1990 blickten mehr als zwei Drittel (68%) der Bürger der DDR zuversichtlich in die Zukunft, nur jede(r) fünfte äußerte sich pessimistisch. Im August war die Zahl der Optimisten leicht rückläufig (64%). Die positiv in die Zukunft gerichtete Grundstimmung schloss vor dem 1. Juli alle Bevölkerungsgruppen ein, unabhängig von Alter, Geschlecht, Bildungsstand, Beruf oder Einkommen. Unterdurchschnittlich optimis-tisch zeigten sich Anhänger der PDS (ebd.: 6f.).

Zwiespältiger stellte sich die Stimmungslage hinsichtlich der Auswirkungen dar, die durch die bevorstehende WWSU unmittelbar zu erwarten waren: Knapp die Hälfte (49%) war optimistisch, darunter insbesondere die mittleren Altersgruppen und die Bevölkerung im ländlichen Raum. Nicht viel weniger, nämlich 44 Prozent, blickten den kommenden Veränderungen „eher mit Sorge“ entgegen (ebd.: 8f.).

Über die Hälfte der Ostdeutschen (52%) - und etwas weniger als die Hälfte der West-deutschen (47%) - befürwortete im Juni 1990 die Wiedervereinigung ohne Wenn und Aber. Die andere knappe Hälfte (42% im Osten, 44% im Westen) hatte Vorbehalte vor allem gegen einen (zu) frühen Zeitpunkt. Als Gegner der Einheit erklärte sich, wie schon im März des Jahres, nur eine sehr kleine Minderheit (3% im Osten und 7% im Westen).

Nach der WWSU wurde in der DDR der Einigungswunsch noch nachdrücklicher laut: Bei der Julibefragung 1990 stieg die Zahl der bedingungslosen Einigungsbefürworter in Ostdeutschland auf 58 Prozent (ebd.: 14, 18).

Vor dem Stichtag der WWSU sorgten sich DDR-Bürger vor allem um den weiteren Be-stand sozialer „Errungenschaften und Leistungen der DDR“ (Tabelle 11). Als erhaltens-wert wurde spontan am meisten die Kinderbetreuung genannt. Vergleichsweise wenige (9%) nannten zu diesem Zeitpunkt im Mai/Juni 1990, da die mit der Privatisierung der Unternehmen einhergehenden Entlassungsrisiken noch nicht konkret erfahrbar gewor-den waren, als schützenswerte Institution der DDR das Recht auf Arbeit. „Menschliche

1 Es gab insgesamt 3 Befragungswellen: im Mai/Juni eine Repräsentativerhebung (mündlich-persönlich), Anfang Juli eine Blitzbefragung in insgesamt 15 Bezirksstädten sowie Ende Juli/August wiederum eine repräsentative Befragung. Ver-gleichsdaten wurden im Juni in der Bundesrepublik erhoben (Infratest 1990/ Analyseband).

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Solidarität“ (3%) und „Gleichberechtigung der Frau“ galten offenbar als so selbstver-ständlich, dass ihre Bewahrung nicht eigens reklamiert wurde.

Erhaltenswerte Errungenschaften der DDR aus Sicht der DDR-Bürger im Mai/Juni Tabelle 11

1990 (Angaben in Prozent, Mehrfachnennungen möglich)

Frage: „Zur Zeit verhandeln ja die Regierungen der DDR und der Bundesrepublik über die konkreten Be-dingungen der Vereinigung. Unter anderem geht es auch darum, inwieweit Gegebenheiten der DDR erhal-ten bleiben sollen. Gibt es aus Ihrer Sicht Errungenschaferhal-ten der DDR, die auf jeden Fall bewahrt werden sollten, und wenn ja, welche?“ (keine Antwortvorgaben)

Errungenschaften der DDR genannt

Kindereinrichtungen 41

Soziale Errungenschaften (allgemein) 26

Hortbetreuung, Schulspeisung 20

Recht auf Schwangerschaftsabbruch 14

Sicherung des Arbeitsplatzes 10

Recht auf Arbeit 9

DDR-Gesundheitswesen 9

Unterstützung junger Mütter und kinderreicher Familien 9 Lehrstellen für alle Schüler/ Aus- und Weiterbildungssystem 8

Niedrige Preise (z.B. Verkehr) 7

Förderung von Kultur und Sport 6

Alten- und Behindertenbetreuung 6

Kündigungsschutz für Wohnungen 5

Erhalt des Haushaltstages 3

Menschliche Solidarität 3

Betriebsessen/ Pausenversorgung 2

Gleichberechtigung der Frau 2

Nein, keine 15

Kein Urteil 2

Quelle: Infratest Kommunikationsforschung 1990

Darüber, was als dringlichste politische Aufgaben anzusehen war, waren sich im Mai/Juni 1990 die Bewohner der DDR quer durch alle Bevölkerungsschichten weitge-hend einig. „Auf der Prioritätenliste der DDR-Bürger stehen vor allem wirtschafts- und sozialpolitische Themen mit Bezug zur eigenen Lebenssituation“ (ebd.: 27). Nahezu oh-ne Ausnahme wurden die Beseitigung der Umweltschäden, die Sanierung der Wirtschaft und eine leistungsgerechte Entlohnung genannt (Tabelle 12). Dass höhere Renten, ein verbessertes Gesundheitswesen und fortgeltende soziale Leistungen der DDR so häufig als vordringlich angesehen wurden, hingegen nicht unbedingt die Privatisierung der Wirtschaft, weist nach der damaligen Analyse von Infratest „zum einen auf wahrge-nommene Mängel des alten Systems, aber auch auf die Verunsicherung der DDR-Bürger angesichts der neuen marktwirtschaftlichen Bedingungen hin“ (ebd.).

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Vorrangige politische Aufgabenbereiche in der DDR 1990, Angaben in Prozent Tabelle 12

Politische Aufgabenbereiche Sehr dringlich

Verbesserung des Umweltschutzes 89

Sanierung der Wirtschaft in der DDR 88

Leistungsgerechte Entlohnung 81

Erhöhung der Renten 78

Sicherung der sozialen Leistungen in der DDR 77

Verbesserung des Gesundheitssystems 74

Umstellung der Mark der DDR in DM 70

Verbesserung der Versorgungslage der Bevölkerung 66

Anerkennung der jetzigen Westgrenze Polens 62

Klärung der Verantwortlichkeit für Fehler des alten Systems und juristische

Verfolgung der Schuldigen 54

Privatisierung von Unternehmen in der DDR 31

Beitritt der DDR zur EG 23

Abbau von Subventionen 16

Quelle: Befragungszeitraum: Mai/Juni 1990; Infratest Kommunikationsforschung 1990.

In den turbulenten Zeiten des voranschreitenden Systemumbruchs können Messungen der Zufriedenheit mit der Regierung ein nur bedingt aussagekräftiger und kein eigentlich

„fairer“ Indikator der tatsächlichen gouvernementalen Leistungsfähigkeit sein. Die Ein-stellungsdaten geben dann mindestens ebenso sehr indirekt Aufschluss über die erin-nerte Kritik an den alten Zuständen und über die Unpopularität des abgetretenen Füh-rungspersonals. Das gilt auch für die Bewertung der Regierungspolitik des seit dem 12.

April 1990 amtierenden Kabinetts Lothar de Maizière: „Die erste demokratisch legiti-mierte Regierung in der DDR hatte einen schweren Stand. Einerseits wurden sehr hohe Erfolgserwartungen an sie gerichtet, andererseits musste sie das Erbe von rund vierzig Jahren SED-Herrschaft sowie zahlreicher noch kurz zuvor getroffener und zum Teil weitreichender Verordnungen und Gesetze der Übergangsregierung Modrow antreten“

(Infratest 1990: 33).

Unter den herrschenden schwierigen Bedingungen gewährten die DDR-Bürger der neu-en Regierung gleichwohl einneu-en Vertrauneu-ensvorschuss: Im Mai/Juni 1990 zeigtneu-en sich 51 Prozent mit der Regierungspolitik sehr zufrieden bis zufrieden. Wenig zufrieden oder unzufrieden äußerte sich gut ein Viertel (26%). Ein weiteres knappes Viertel (23%) mochte noch kein klares Urteil abgeben (ebd.: 32). Indes war der Regierungsbonus nicht unbefristet vergeben worden: Einen Monat später, nach Einführung der WWSU, war der Anteil der Zufriedenen um acht Prozentpunkte gesunken; umgekehrt hatte sich die Zahl der Unzufriedenen um 15 Prozentpunkte erhöht. „Die Meinungsbildung über die Regie-rung festigte sich, der Anteil der Unentschlossenen ging deutlich zurück“ (ebd.: 35).

Dass trotz gewachsener Unsicherheit über die Folgen, die von den bevorstehenden Ver-änderungen der Wirtschaftsstruktur zu erwarten waren, das Regierungsvertrauen ein recht ansehnliches Niveau hielt, hatte seine Ursache im Erinnerungsvermögen der DDR-Bevölkerung. Den Menschen war noch frisch gewärtig, wie trostlos die ökonomische Situation in den Jahren zuvor gewesen und aktuell immer noch war. Rückblickend sahen im Mai/Juni 1990 rund 90 Prozent der Ostdeutschen die Zustände der Wirtschaft des Landes durch Versorgungsengpässe und sich verschlechternde Entwicklungstendenzen

111

gekennzeichnet. Die anhaltend kritische Einschätzung, die in der Vergangenheit vorge-herrscht hatte, überdauerte die Wende. Dies erklärt, weshalb die Aussagen über die Zu-kunft der ostdeutschen Wirtschaft überwiegend optimistisch ausfielen: Von März bis Juni 1990 rechneten knapp 60 Prozent der Befragten damit, dass sich in einem Jahr die Lage verbessert haben werde (Abbildung 17). Auch nach der WWSU glaubte immer noch die Hälfte der Bevölkerung an eine wirtschaftliche Erholung. Darunter waren vor allem Arbeiter, aber auch Freiberufliche und Selbständige (Infratest 1990: 61).

Beurteilung der wirtschaftlichen Lage der DDR in einem Jahr, von Februar/März Abbildung 17

bis Juli/August 1990, Angaben in Prozent

Quelle: DDR-Befragungswelle 1990, Infratest Kommunikationsforschung 1990; eigene grafische Darstel-lung.

Getragen wurde der Optimismus von einem demoskopischen Plebiszit für das System der Marktwirtschaft: 46 Prozent hielten es für „ganz sicher“ und weitere 44 Prozent für

„wahrscheinlich“, dass mit Einführung des freien Marktes der wirtschaftliche Auf-schwung bevorstehe. „Nach 40 Jahren Planwirtschaft und deren Zusammenbruch ist fast

„wahrscheinlich“, dass mit Einführung des freien Marktes der wirtschaftliche Auf-schwung bevorstehe. „Nach 40 Jahren Planwirtschaft und deren Zusammenbruch ist fast

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