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Einschätzung der Lebensbedingungen im Systemvergleich DDR/BRD

I Deutschland 2014 – Ergebnisse der repräsentativen Bevölkerungsumfrage

3 Ausgangslage 1990 - Die Historisierung politischer und gesell- gesell-schaftlicher Einstellungen und das kulturelle Erbe der DDR im

3.1 Allgemeine Einordnung

3.2.5 Einschätzung der Lebensbedingungen im Systemvergleich DDR/BRD

Neben der Beurteilung der Glaubwürdigkeit und Leistungsfähigkeit („Performanz“) ih-rer politischen Institutionen und Akteure hängen die Unterstützung einer staatlichen Ordnung und die Identifikation mit dieser nicht minder davon ab, wie die allgemeinen und persönlichen Lebensbedingungen subjektiv bewertet werden. Zumindest seit 1968, dem Start der Stellvertreterforschung, hat stets nur eine Minderheit der Ostdeutschen die allgemeinen Lebensbedingungen in ihrem Land als gut oder sehr gut empfunden.

Ungefähr ebenso viele Bürger beurteilten die Bedingungen ihres Alltags als ausgespro-chen schlecht (Abbildung 7). Die große Mehrheit entschied sich regelmäßig für eine mit-telmäßige Einstufung. „Der Vergleichsmaßstab, der für den DDR-Bürger wirklich zählte, war grundsätzlich die Bundesrepublik. Diese vergrößerte aus deren Sicht auf nahezu allen Gebieten ständig ihren Vorsprung gegenüber der DDR“ (Köhler 1994: 25).

1988 und 1989 stieg die Zahl der Kritiker signifikant an. Die rapide wachsende Unzu-friedenheit basierte, so die Einschätzung der Forscher, „weniger auf einer unbefriedi-genden Konsumgüterversorgung, sondern vielmehr auf Frust über politische Pression und fehlende Zukunftsperspektiven“ (ebd.).

Beurteilung der allgemeinen Lebensbedingungen in der DDR 1968 bis 1989, Angaben in Prozent Abbildung 7

Quelle: Infratest Kommunikationsforschung 01/1994; eigene grafische Darstellung.

13 19

13 16 15 16 14 13 14 14 16

28 33 30 32 35

26 29

24 21 27 37 58 52 61

51 55 56 58 59 57 58 57

54 47 53 51 54

53 54

54 58 53 49 29 28 25

32 30 27 27 28 29 27 26

18 20 16 17 11

21 16

21 20 20 14

0%

25%

50%

75%

100%

1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989

Sehr gut/gut Mittelmäßig Schlecht

93

Konsumgüterangebot aus der Sicht der DDR-Besucher 1975 bis 1989, Abbildung 8

Angaben in Prozent

Erläuterungen: Angabe für 1989 = Mittelwert aus 1. und 2. Quartal.

Quelle: Infratest Kommunikationsforschung 01/1994; eigene grafische Darstellung.

Wie die Wellenbewegung im Balkendiagramm der Abbildung 8 oben zeigt, war die Zu-friedenheit mit dem Angebot an Konsumgütern starken Schwankungen unterworfen. Als besonders heikel wurde die Versorgungslage zwischen 1979 und 1983 empfunden.

Auch bei der Einschätzung der Konsumchancen stieg der kritische Wert im Jahr 1989 deutlich an. „Während aber 1989 mehr als zwei Drittel der DDR-Besucher eine zuneh-mende Regimeverdrossenheit registrierten, stellten nur 32 % eine Verschlechterung des Konsumgüterangebots fest“ (ebd.: 29). Nicht vorrangig eine ökonomische Mangellage war es folglich, so Anne Köhler, welche die Massenproteste auslösten, „sondern eine nicht mehr zu steigernde Unzufriedenheit mit dem politischen Regime und den in der DDR gegebenen gesamten Umfeldbedingungen“ (ebd.). Die unten in Abbildung 9 abge-tragene Wahrnehmung, ob sich die wirtschaftliche Lage verbessert oder verschlechtert hat, stützt diese Einschätzung. Auch dann, wenn konkreter nach materiellen wie imma-teriellen Lebensbedingungen und Lebenschancen gefragt wurde, schnitt die Bundesre-publik im Vergleich der Systeme aus Sicht der DDR-Bürger ausnahmslos besser ab.

63 56 53

1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 Ist schlechter geworden. Hat sich nicht verändert. Hat sich verbessert.

94

Meinung über die wirtschaftliche Lage des DDR-Bürgers 1978 bis 1988, Abbildung 9

Angaben in Prozent

Erläuterungen: Als Basis dienten DDR-Bewohner ab 14 Jahren (Person X), die sich zu diesem Thema ge-äußert haben.

Quelle: Infratest Kommunikationsforschung 01/1994: 76 eigenen grafische Darstellung.

Wie zeigt, schätzte zwischen 1978 und 1988 eine zuletzt wachsende Mehrheit der DDR-Bürger die Aussicht auf bessere Lebensbedingungen im eigenen Staat pessimistisch ein.

Augenscheinlich wurde „die seitens der SED propagierte Hoffnung, irgendwann ein mit der Bundesrepublik vergleichbares Lebensniveau zu erreichen, von der eigenen Bevöl-kerung zunehmend weniger geteilt“ (Infratest 1988/4: 69). Aber: Es „werden die Ver-hältnisse in der Bundesrepublik keineswegs positiv überzeichnet“. Wie der Verlauf der unteren Linie in Abbildung 10 veranschaulicht, schwächte sich in der Bevölkerung der DDR der Eindruck ab, im Westen seien die Einkommen gerechter verteilt als im eigenen Land. Die seinerzeit in der Bundesrepublik existierenden Probleme, beispielsweise Ar-beitslosigkeit, wurden der Datenlage zufolge „offenkundig durchaus registriert. Dies verdeutlicht die Tatsache, dass eine breite Mehrheit von 82 Prozent die Arbeitsplatzsi-cherheit eher in der DDR für garantiert hält“ (ebd.: 85).

27

13 16 12 14 16 19 20 16

41

26

29 35

40 32 34 35

32 23

24

25 29

29 40 37 38

37 9

37 29 24 16 11 9 7

14

0%

25%

50%

75%

100%

1978 1980 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988

Die wirtschaftliche Lage hat sich für den DDR-Bürger in den letzten Jahren insgesamt eher verschlechtert.

Die wirtschaftliche Lage hat sich für den DDR-Bürger in den letzten Jahren kaum oder gar nicht geändert.

Die wirtschaftliche Lage hat sich für den DDR-Bürger in den letzten Jahren auf manchen Gebieten verbessert, auf anderen Gebieten hat es jedoch Rückschläge gegeben.

Die wirtschaftliche Lage hat sich für den DDR-Bürger in den letzten Jahren insgesamt gebessert.

95

Systemvergleich: Bundesrepublik ─ DDR, 1978 bis 1988 Abbildung 10

Erläuterungen: Als Basis dienten alle DDR-Bewohner (Person X), die sich zum jeweiligen Thema geäußert haben. +10 würde bedeuten: Alle Gesprächspartner in der DDR sind der Ansicht, die jeweilige Gegeben-heit treffe eher auf die Bundesrepublik zu. -10 würde bedeuten: Alle Gesprächspartner in der DDR sind der Ansicht, die jeweilige Gegebenheit treffe eher auf die DDR zu.

Quelle: Infratest Kommunikationsforschung 01/1994: 84; eigene grafische Darstellung.

Auch gemessen am Maßstab weiterer ausgewählter Lebensbedingungen, wie wirtschaft-liche und soziale Sicherheit, Chancengleichheit und eine bessere Zukunft, war die Bun-desrepublik der DDR nach Ansicht des weit überwiegenden Teils der ostdeutschen Be-völkerung klar überlegen. Hingegen wurden der DDR schon seit den 1970er Jahren Sys-temvorteile in den Bereichen „Schutz vor Kriminalität“ und „Hilfsbereitschaft der Men-schen untereinander“ zugesprochen. Später kam als ein wahrgenommener Heimvorteil der DDR noch die „Sicherheit des Arbeitsplatzes“ hinzu (Köhler 1994: 31).

2,70 3,10

5,10

2,60

1,10

0,50 0,90

4,90

6,60

4,50

4,80 4,80

5,40 5,80

0 2 4 6 8 10

1978 1980 1982 1984 1986 1987 1988

"Gerechte Verteilung der Einkommen" "Aussichten auf bessere Lebensbedingungen"

96

Wirtschaftliche und soziale Sicherheit für die Bürger 1973 bis 1989 Abbildung 11

Quelle: Infratest Kommunikationsforschung 01/1994; eigene grafische Darstellung.

Chancengleichheit für die Bürger 1978 bis 1989 Abbildung 12

Quelle: Infratest Kommunikationsforschung 01/1994; eigene grafische Darstellung.

13,00 15,00

18,00 19,00

21,00

62,00 46,00

51,00 51,00

54,00

25,00

39,00 30,00

28,00 25,00

0% 25% 50% 75% 100%

1989 1988 1983 1978 1973

Eher in der DDR Eher in der Bundesrepublik Kein Unterschied

13,00 15,00

21,00 25,00

74,00 63,00

60,00 57,00

14,00 22,00 18,00 16,00

0% 25% 50% 75% 100%

1989 1988 1983 1978

Eher in der DDR Eher in der Bundesrepublik Kein Unterschied

97

Aussichten auf bessere Lebensbedingungen in der Zukunft 1973 bis 1989 Abbildung 13

Quelle: Infratest Kommunikationsforschung 01/1994; eigene grafische Darstellung.

Einschätzung der künftigen Entwicklung der eigenen wirtschaftlichen Lage 1978 Abbildung 14

bis 1988, Angaben in Prozent,

Erläuterungen: Als Basis dienten DDR-Bewohner ab 14 Jahren (Person X), die sich zu diesem Thema ge-äußert haben. Quelle: Infratest Kommunikationsforschung 01/1994: 80; eigene grafische Darstellung.

So wie eine große Mehrheit der DDR-Bürger die Aussicht auf allgemein bessere Lebens-bedingungen im eigenen Land in der Zukunft wenig hoffnungsvoll sah (Abbildung 13), wurde auch die künftige Entwicklung der eigenen wirtschaftlichen Lage überwiegend skeptisch eingeschätzt. Um die 60 Prozent erwarteten hier keine wirkliche Änderung (Abbildung 14). Diese Befürchtung wurde „vorwiegend von den berufsaktiven Jahrgän-gen der 30- bis 49-JähriJahrgän-gen geteilt“ (Infratest 1988/4: 81).

8%

Eher in der DDR Eher in der Bundesrepublik Kein Unterschied

29 22 21 18 21 26 27 32 29

1978 1980 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988

Wird sich verschlechtern. Keine Änderung. Wird sich bessern.

98

Die retrospektive Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse, welche die Infratest Kommunikationsforschung im Jahr 1994 erstellte, ist auch aus heutiger Sicht noch auf-schlussreich, um wesentliche Grundzüge der politischen Kultur der DDR zu erkennen und den sich seit längerem ankündigenden schleichenden Legitimationsverfall des SED-Regimes zu verstehen:

 „Eine echte Stabilisierung der DDR und ihres Systems hat auf breiter Bevölkerungs-grundlage de facto nie wirklich stattgefunden.

 Ursache ist die über die Jahrzehnte hinweg vergleichsweise geringe Identifizierung der DDR-Bürger mit dem System.

 Insbesondere versagte das DDR-System aus der Sicht seiner Bürger in so entschei-denden Bereichen wie denen der persönlichen Freiheitsrechte, der Lebensqualität und der Zukunftsperspektiven. […]

 Demgegenüber gewann die Bundesrepublik über die Jahrzehnte hinweg für die DDR-Bürger noch deutlich an Attraktivität bzw. Faszination: Sie gab den Vergleichsmaß-stab ab, der wirklich zählte. [..]

 So arrangierte sich die Mehrheit der DDR-Bürger notgedrungen mehr oder weniger gut mit den gegebenen Bedingungen. Allerdings wuchs daneben der Kreis der Kritiker bzw. der verdeckten oder offenen Gegner seit Ende der 70er Jahre stetig an. Er übertraf dann in den 80er Jahren durchgehend den der Anhänger. […]

(Köhler 1994: 19)

Nimmt man an diesem Punkt wieder die Perspektive des theoretischen Erklärungsmo-dells der Staatskultur ein, so wird deutlich, dass der Staat der DDR seine Legitimations-krise selbst erzeugt hat, indem er die Erwartungen seiner Bürger in sehr hohem Maße auf sich selbst lenkte. Da das staatssozialistische Modell mit einem schier allumfassen-den Regelungs-, Betreuungs- und Versorgungsanspruch auftrat und auch die Wirtschaft sowie weite Bereiche des gesellschaftlichen Lebens dem Primat zentraler politischer Lenkung, Planung und Aufsicht unterordnete, unterwarf der Staat der DDR sein eigenes Handeln faktisch einem totalisierten Leistungsprinzip.

Aufgrund der systembedingten Beschränkungen, die sowohl in der Sphäre politischer Freiheit als auch im Bereich materiellen Wohlstands auftraten, konnte das SED-Regime die selbst geweckten Erwartungen nicht einlösen. Damit war der Weg in den versagen-den Staat, in einen failing state, was moralische Glaubwürdigkeit und wirtschaftliche Wohlfahrt betrifft, vorgezeichnet. Um diese Abwärtsentwicklung analytisch einzuord-nen, bietet das Erklärungsmodell der Staatskultur eine strukturierende Hilfe. Für die DDR bündelt dieses Kulturmuster nicht nur die im engeren Sinne politischen Orientie-rungen, sondern es deckt auch ostdeutsche Lebenssichten und wirtschaftsbezogene Ein-stellungen in ihrer schließlich immer staatskritischer werdenden Zuspitzung ab.

99

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