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Das Jahr der Einigung 1990 als Scheiteljahr zwischen Vergangenheit und Zukunft – zur zeitlichen Verortung des historischen Geschehens Zukunft – zur zeitlichen Verortung des historischen Geschehens

I Deutschland 2014 – Ergebnisse der repräsentativen Bevölkerungsumfrage

3 Ausgangslage 1990 - Die Historisierung politischer und gesell- gesell-schaftlicher Einstellungen und das kulturelle Erbe der DDR im

3.1 Allgemeine Einordnung

3.1.1 Das Jahr der Einigung 1990 als Scheiteljahr zwischen Vergangenheit und Zukunft – zur zeitlichen Verortung des historischen Geschehens Zukunft – zur zeitlichen Verortung des historischen Geschehens

Diesem Kapitel liegt die Ausgangsüberlegung zugrunde, dass die politischen und gesell-schaftlichen Einstellungen, die während der deutschen Einigung und in den zweieinhalb Jahrzehnten danach gemessen wurden, eine eigene Vorgeschichte haben. Dabei interes-siert insbesondere das ostdeutsche Kapitel dieser Vorgeschichte: Welche besonderen Einschätzungen und Erfahrungswerte haben die Bewohner der neuen Bundesländer in das vereinigte Deutschland eingebracht? – Erst in Kenntnis dieser ostdeutschen Vorge-schichte der deutschen Einheit erschließt sich das Verständnis der gemeinsamen Zeit seither besser: In welchem Ausmaß wirkt das kulturelle Erbe Ostdeutschlands nach 1990 noch weiter nach und verkörpert dort Kontinuität ebenso wie Differenz? Schließ-lich: Inwieweit wurde dieses Legat der DDR seitdem in einem gesamtdeutschen Politik- und Gesellschaftsverständnis eingeschmolzen?

Die entscheidenden innerdeutschen Anstöße für den demokratischen Systemwechsel in der DDR und für die Wiedervereinigung sind bekanntlich von den Ostdeutschen ausge-gangen, unbeschadet des aktiven Beitrags der damaligen Bundesregierung und des Bundestages. Im Zuge des Beitritts zur Bundesrepublik – und teilweise im Wege intensi-vierter zwischenstaatlicher und interkommunaler Austauschbeziehungen schon wäh-rend der Monate davor - wurden die Basisinstitutionen der politischen Ordnung West-deutschlands auf den Osten Deutschlands übertragen. Während die Menschen dort nicht nur mit diesem Institutionentransfer neue Erfahrungen machten, sondern auch ein-schneidende Veränderungen in ihren Arbeits- und Lebensbedingungen bewältigen mussten und sich folglich enormen Anforderungen kultureller Verarbeitung ausgesetzt sahen, blieben die Änderungserfahrungen und der Anpassungsdruck für den westlichen Teil der Republik im Alltag vergleichsweise überschaubar. Diese ungleichmäßige Vertei-lung der historischen Ausgangsbedingungen begründet es, der ostdeutschen Entwick-lungslinie vor und nach dem Datum der Einheit besondere Aufmerksamkeit zu teil wer-den zu lassen. Gesamtdeutsch ist die Perspektive der folgenden Darstellung gleichwohl, denn für die empirische Dokumentation des politischen und gesellschaftlichen Bewusst-seins ab 1990 wurden ausschließlich solche Daten herangezogen, die einen deutsch-deutschen Vergleich im Längsschnitt ermöglichen.

Um Antworten auf die oben gestellten Fragen zu finden, ist erst einmal der Zeithorizont der Entstehungsbedingungen zu vermessen, in dem das ostdeutsche politische Bewusst-sein geformt worden ist. Dem Historiker Gerd Krumeich zufolge, stellt sich bei dem Ver-such, epochale Ereignisse in ihren Ursprüngen zu erklären, „immer das Problem: wo anfangen?“ Je nachdem, wo man den Einstieg suche, werde „schon vieles vorbestimmt“,

gerade auch, was die an sich vernünftige Unterscheidung zwischen längeren und kurz-fristigen Entwicklungen betreffe (SZ vom 01. März 2014). Krumeichs bedenkenswerter Einwurf bezieht sich konkret auf die Vorgeschichte des Kriegsausbruchs von 1914. Die Schwierigkeit, ein vielschichtiges historisches Geschehen so zu dechiffrieren, dass die Entstehungszeiten von auslösenden ´Zündfunken`, von kurzfristig getroffenen Entschei-dungen sowie von sich länger anbahnenden Ursachen und später eintretenden Langzeit-folgen festgelegt bzw. eingegrenzt werden können, ist indes ein generelles Problem der historischen Politik- und Sozialforschung.

Die Herausforderung, Zeitpunkte zu markieren, wo Entwicklungen ihren Anfang ge-nommen haben, besteht auch für die hier vorgelegte Studie. Die Analyse zielt darauf ab, Konvergenzen und Divergenzen, also Tendenzen der Annäherung und der Auseinan-derentwicklung herauszuarbeiten, die sich während zweieinhalb Jahrzehnten seit der Wiedervereinigung in den Einstellungen der Bevölkerung herausgeschält haben. Die Messlatte für ein Herangehen an den Gegenstand der Untersuchung, die den oben for-mulierten erkenntnisleitenden Fragen Rechnung trägt, liegt dabei recht hoch. Denn mit dem Vorhaben, eine kommentierte Bestandsaufnahme der Entwicklungslinien des poli-tischen und gesellschaftlichen Bewusstseins im geeinten Deutschland zu erstellen, geht der Vorsatz einher, die „langen Wege“, welche im politischen Seelenleben der Deutschen seit 1990 ihre Spuren hinterlassen haben, in weiter ausgreifende historische Entste-hungszusammenhänge einzuordnen. Erst mittels einer solchen Historisierung, davon sind wir überzeugt, lassen sich die vielschichtigen, teils gegenläufigen Voraussetzungen und Folgen des Geschehens, dass vormals getrennte nationale politische Psychologien im Zeitpunkt der Wiedervereinigung aufeinander treffen sowie anschließend in einem gesamtdeutschen Einstellungs- und Erwartungshorizont verschmelzen, angemessen deutend verstehen.

Um den Einstieg in eine solche Historisierung zu finden, geht es, Krumeichs Einlassung beherzigend, zunächst darum, die Zeitschiene zu bestimmen, entlang derer die hier do-kumentierten Einstellungen und Kulturmuster entwicklungsgeschichtlich eingeordnet werden können. Wie weit reicht ihr historischer Vorlauf in die Vergangenheit zurück? - Unstrittig ist: So wie das kulturelle Erbe der DDR nach der Abwicklung ihrer Staatlich-keit bis heute nachwirkt, so geschah auch die Wiedervereinigung selbst nicht historisch voraussetzungslos. Schwierig ist es aber, Zeitpunkte anzugeben, wo genau Entwicklun-gen beginnen, und wo sich Zwischenergebnisse verdichten.

Immerhin: Nicht nur der formelle Vollzug der Einheit am 3. Oktober 1990, sondern auch Ereignisse und Ereignisketten, die vor diesem Datum liegen und die Dynamik des vorre-volutionären Prozesses in der Spätzeit der DDR befeuert haben, sind klar datierbar.

Hierzu zählen beispielsweise die Einführung der D-Mark zum 1.Juli 1990 oder schon vorher die DDR-Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989, deren gefälschte Auszählung die landesweite Protestbewegung entfachte. Diese Bewegung erlebte ihren eigentlichen Hö-hepunkt am 9. Oktober desselben Jahres, als in Leipzig die erste Montagsdemonstration stattfand und sich rasch landesweit ausweitete. An diesen beiden Eckdaten lässt sich

exemplarisch zeigen, dass bestimmte Zeitspannen des beschleunigten Umbruchs zeitlich klar eingrenzbar sind.

Es sind solche Phasen, die einer Rhythmik von Umbruch und neuerlicher Strukturbil-dung folgen, die Prozesse der Transformation allgemein kennzeichnen, und sie ermögli-chen deren Periodisierung. So lässt sich der Systemwandel in Ostdeutschland auf einer dreistufigen Verlaufsachse abbilden, bei der drei aufeinanderfolgende Phasen von Tran-sition, Transformation und Posttransformation unterschieden werden können (Holt-mann 2009 und 2014). Allerdings taugt dieses Stufenmodell nur bedingt als eine Heuris-tik, d.h. als ein erkenntnisförderndes methodisches Werkzeug, um Einstellungswandel trennscharf zu erfassen. Besser eignet sich das Schema dazu, den Umbau und Neubau der Strukturen und öffentlichen Institutionen sowie konkrete Handlungen von Akteuren und die Folgen dieser Handlungen bestimmten Etappen des Umbruchs zeitlich zuzuord-nen.

Wie wir noch ausführen werden, geht dem Transitionsjahr 1990 in der DDR eine „Inku-bationszeit“ des Umbruchs in den Jahren 1988 und 1989 voraus. Damit rückt eine Zeit-spanne von knapp drei Jahren in den Blick. Innerhalb dieser ZeitZeit-spanne, die ab etwa dem 2. Halbjahr 1988 bis Ende 1990 währte, hat sich der Umbruch angekündigt und vollzogen. Im Jahr 1990 gingen in Ostdeutschland die Phasen der Transition und der Transformation gleitend ineinander über. Bereits dann haben Beteiligte und Betroffene der Umwälzung für sich selbst erste Folgeeinschätzungen der neuen politischen Zeit-rechnung vorgenommen. Im Jahr der Einigung erreichten die zuversichtlichen Einschät-zungen und hoffnungsfrohen Erwartungen der Menschen in Ostdeutschland ihren Hö-hepunkt. Aber schon in der zweiten Hälfte desselben Jahres 1990 zeichnete sich in Mei-nungsumfragen, was die allgemeine Einschätzung der Lebenssituation betrifft, ein merk-licher Stimmungsumschwung ab. An die Stelle hochfliegender Vorstellungen und Wün-sche trat häufig Ernüchterung. Im Laufe des folgenden Jahres 1991 trat im Osten Deutschlands ein regelrechter „Stimmungseinbruch“ ein (Landua 1992, S. 4), der sich sowohl in einer pessimistischen Wahrnehmung der persönlichen Arbeits- und Lebens-bedingungen als auch in einer deutlich kritischeren Einschätzung von Grundprinzipien der neuen demokratischen Ordnung äußerte. Im ersten „Jahr danach“ entfaltete sich im Schatten der rapiden Entindustrialisierung ostdeutscher Wirtschaftslandschaften eine psychologische Transformationskrise. Die nicht einmal drei Jahre von Mitte 1988 bis Ende 1991 markieren jene Kernzeit, in welcher sich die historischen Vorgänge von Transition und Transformation im Osten Deutschlands verdichteten. Auf den Auf- und Abschwung der Stimmungskurven in dieser Zeitspanne werden wir in späteren Ab-schnitten dieses Kapitels gesondert eingehen.

Das reale Geschehen vollzieht sich stets auf zwei Ebenen, nämlich einerseits des Han-delns und Verhaltens sowie der Einstellungen andererseits. In der Wirklichkeit sind bei-de Ebenen eng verwoben, und sie beeinflussen sich gegenseitig. Für die Wechselwirkung zwischen Einstellungs- und Handlungsebenen ist, wie wir noch ausführen werden, die

sich beschleunigende innere Auszehrung des DDR-Regimes in den ´Umschaltjahren`

1988/89 ein anschauliches Beispiel.

An diesem Beispiel wird das oben geschilderte Problem genauer Datierung nochmals erkennbar: Es sind nur konkrete Ereignisse, förmliche Entscheidungsakte und deren strukturbildende Ergebnisse, die zeitlich genau festliegen. Solche Tatbestände stellen jedoch nur Bezugsgrößen im Umfeld unseres Untersuchungsgegenstandes dar. Unser eigentliches Erkenntnisinteresse richtet sich auf kulturelle Signaturen. Deren Kontexte beziehen wir allenfalls mit der Absicht ein, jene kulturellen Signaturen zu erklären. Die-se verweigern sich aber einer taggenauen Zeiteinteilung. Im Unterschied etwa zu Be-schlüssen einer verfassunggebenden Versammlung oder zur Produktion von Rechts-normen, zu der Konvertierung ökonomischer Strukturen und zum Umbau der Instituti-onen von Politik und Verwaltung lässt sich das Werden und Vergehen von „Kultur“ nicht exakt datieren. Zwar lösen einschneidende Ereignisse, wie etwa ein Systemwechsel, tief-gehende Stimmungsumschwünge und Lernprozesse aus. Doch Neubeginn und Neube-sinnung fallen nicht auf ein und dasselbe Datum. Konstanz und Wandel von kulturellen Orientierungen werden darum erst auf längeren Entwicklungsachsen erkennbar, deren Anfangspunkte in der Regel unscharf bleiben.

Ein älteres historisches Beispiel für die „Ungleichzeitigkeit“ von „Struktur“ und „Kultur“

ist das Nachkriegsjahr 1945. Damals war die Beseitigung des politischen Systems des NS-Staates denkbar radikal. Dennoch gab es – neben fortbestehenden Institutionen – im Mai 1945 keine kulturelle „Stunde Null“, welche alle orientierenden Traditionslinien restlos abgeschnitten hätte (Braun/Gerhardt/Holtmann 2007). Ähnlich stellt auch die kulturelle Seite der Epoche der deutschen Einigung ein Kontinuum dar, wo jüngere, älte-re und vorvergangene Orientierungen zusammengeflossen sind. Aus diesem Prozess kultureller Überschichtung ist mit der Zeit dann eine gesamtdeutsche Sicht der Dinge entstanden.

Die Deutungs- und Handlungsmuster, die von den Ostdeutschen in den „Schaltjahren“

des Umbruchs herangezogen wurden, um den Systemwandel zu gestalten, zu verarbei-ten und seine Folgen zu bewältigen, sind folglich nicht sämtlich spontan erst 1989/90 entstanden, sondern sie wurzeln wesentlich in abgespeicherten früheren Lebenserfah-rungen der DDR. Diese ErfahLebenserfah-rungen spiegeln die jahrzehntelang erlebte Lebenswirk-lichkeit der DDR wider, die von vielen als willkürlich und bedrohlich, von der Mehrheit der Bevölkerung mindestens als beengend und materiell unzulänglich, aber zugleich auch positiv als Vermittlung von Geborgenheit erfahren worden ist.

Als der politische Umbruch 1989/90 Wirklichkeit wurde, bot das Festhalten an lebens-praktischen Gewissheiten und sozialen Umgangsformen eine Rückversicherung gegen Risiken und Nebenwirkungen der neuen unsicheren Zeiten. Nur teilweise wurden alte ideologische Weltsichten aufrechterhalten. Diese boten allenfalls eine Krücke für Stolz und Vorurteil von mentalen Einigungsverlierern, die sich hernach als Bundesbürger

„zweiter Klasse“ fühlten. Weit mehr Ostdeutsche verbanden mit der DDR in der Rück-schau die Erinnerung an lebenswerte Gewohnheiten eines unpolitischen Alltagslebens,

das sich im Berufsleben und in privaten Nischen abgespielt hatte. Kulturelle Prägungen der DDR blieben in verschiedenen Formen im geeinten Deutschland jedenfalls noch lan-ge wirksam, und sie machen einen spezifisch ostdeutschen Anteil seiner Vorlan-geschichte aus.

Die politische Psychologie Gesamtdeutschlands stellt sich daher auch heute noch in manchen Facetten janusköpfig dar. Der ostdeutsche Beitrag für die kulturellen Seiten der deutschen Einheit ist ein Beispiel dafür, dass der geistige Überbau einer Gesellschaft sich mitunter langsamer umwälzt als ihr struktureller Unterboden. Auch nachdem die alten Fundamente des DDR-Systems längst abgeräumt worden waren und einer neuen Verfassungs-, Wirtschafts- und Institutionenordnung Platz gemacht hatten, blieben aus der DDR mitgebrachte Elemente gesellschaftlichen Bewusstseins lebendig.

Kommen wir nochmals zurück auf den Punkt der Historisierung des Einigungsgesche-hens. Werthaltungen, Stimmungen und Einstellungen, die zwischen 1990 und 2014 in Umfragen aufscheinen, lassen sich als Messpunkte auf der Entwicklungsachse der politi-schen Psychologie des geeinten Deutschland linear abtragen. Erst im Zeitverlauf der zweieinhalb Jahrzehnte wird die Schwankungsbreite von Konstanz und Wandel politi-scher und sozialer Orientierungen sichtbar. Daher ist der Aussagegehalt dieser längs-schnittig angeordneten Daten an sich schon beachtlich (vgl. Kap. 3). Der Erklärungsge-halt derselben Daten lässt sich indes noch mehr ausschöpfen, wenn für die Deutung der longitudinalen Datenzeitreihen, die für den östlichen und vergleichend für den westli-chen Teil der Bundesrepublik vorliegen, kulturelle Entwicklungslinien mit einbezogen werden, die in die DDR - und teilweise noch weit hinter diese - zurückreichen.

Damit ist ein Plädoyer formuliert für eine historisierende Einordnung, die bis weit hin-ter die Gründung der DDR zurückgreift. Freigelegt werden dadurch für Ostdeutschland zwei übereinander liegende Schichten kultureller Tradition: Sichtbar wird zum einen eine jüngere Schicht, die das originäre geistige Eigentum der verblichenen DDR spei-chert. Zum anderen erschließt sich innerhalb dieses DDR-Traditionsbestandes ein sehr viel älteres kulturelles Erbgut, das während der DDR in veränderter Gestalt fortgewirkt hat. Erstmals wird im Rahmen dieses Forschungsprojekts ein solcher Weg der Analyse beschritten.

Beispielhaft deutlich wird die doppelt geschichtete Tradition an der ausgeprägten Bezo-genheit auf den Staat. Diese Ausrichtung hat zu Zeiten der DDR das Denken und Fühlen der Menschen weithin beherrscht. Das hierarchische Modell von staatlicher Fremdbe-stimmung und umfassender Fürsorge, welches die realsozialistische Staatsidee als Bot-schaft in die GesellBot-schaft der DDR aussandte, hat die ausgeprägte Staatsorientierung bedient und verstärkt. Legt man die Sonde tiefer, so wird erkennbar, dass die Einstim-mung auf staatliche Anleitung und Leistung an die deutsche Staatspraxis des späten 19.

Jahrhunderts und an dadurch gefestigte Erfahrungen des Volkes anknüpfte. Das histo-risch lang zuvor erprobte Modell des zugleich bevormundenden und Wohlfahrt gewähr-leistenden Staates wurde nach 1949 in die Staatsdoktrin der DDR übernommen. Es

wurde dort systemverträglich umgedeutet und dabei seiner hergebrachten komplemen-tären rechtsstaatlichen Garantien entkleidet.

Die Wiederkehr deutscher „Staatskultur“ im Nachkriegsdeutschland war keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal der DDR, sondern sie wurde seit 1949 kennzeichnend für beide deutsche Staaten. Eine neuerliche Aneignung der älteren deutschen staatskulturellen Tradition lässt sich zeitlich parallel auch für Westdeutschland nachweisen. Dort fand das Wiederaufleben dieser Tradition allerdings unter gänzlich anderen Systemvorzeichen als in der DDR statt. Nicht nur erhielt das Sozialstaatsgebot samt dem es flankierenden Rechtsstaatsprinzip im Grundgesetz der neuen Demokratie Verfassungsrang, sondern das ordnungspolitische Versprechen einer sozial gebundenen Marktwirtschaft öffnete Räume für individuelle Erfolgserlebnisse, die in den Gründerzeiten der Bundesrepublik zunächst in wirtschaftlicher Leistung ihre Bestätigung fanden. Damit wurden aber zu-gleich die Grundlagen gelegt für spätere Zuwächse an politischer Liberalisierung und demokratischer Emanzipation (Holtmann 2012).

Dank der Beimischung von selbständigem Unternehmergeist und individuellem Leis-tungsstreben verblasste im bundesdeutschen Nachfolgemodell der Staatskultur deren traditionelle Kennmarke eines obrigkeitsstaatlichen Etatismus, das heißt eines selbst-herrlichen und nicht demokratisch kontrollierten Machtwillens des Staates. Der kultu-relle Modernisierungsprozess gewann in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren eine neuerliche Dynamik, als sich im Gefolge des postmaterialistischen Wertewandels (Inglehart 1971) und der „partizipatorischen Revolution“ (Kaase 1982) in Westdeutsch-land eine neue bürgerschaftliche Partizipationskultur entfaltete (Gabriel 1986, 1987).

Die mehrere Systemwechsel des 20. Jahrhunderts überdauernde Langlebigkeit jener Einstellungen, die im Leitbild der Staatskultur zusammenlaufen, dann aber in beiden deutschen Staaten verschiedene Wege eingeschlagen haben, belegen eindrücklich das Element historischer Pfadabhängigkeit im politischen und gesellschaftlichen Bewusst-sein des geeinten Deutschland.

Aus solchem Blickwinkel erschließt sich, weshalb trotz des scharfen Systemgegensatzes, der auf der Großebene des Ost-West-Wettstreits der Systeme bestimmend blieb, das politische und gesellschaftliche Denken, welches sich auf der Kleinebene individueller Orientierungen in den Bevölkerungen beider deutscher Teilstaaten ausbildete, im Be-reich sozialstaatlicher Wertvorstellungen und Erwartungshaltungen Übereinstimmun-gen aufwies. Die –offiziell unerklärte – innerdeutsche Kulturgemeinschaft, die aus einem gemeinsamen historischen Fundus der Staatsorientierung schöpfte, hat die Verträglich-keit beider deutscher Teilkulturen nach 1990 erleichtert und zugleich erschwert. Eines-teils waren die ausgeprägt auf den Staat gerichteten Sozialerfahrungen, die in der DDR gemacht worden waren, für die Eingewöhnung der Ostdeutschen in den Wohlfahrtsstaat der Bundesrepublik außerordentlich hilfreich, weil die ehemaligen DDR-Bürger eine mit diesem Versorgungs- und Verteilungsmodell vertraute Erwartungshaltung mitbrachten und mit der Mehrheit der Westdeutschen grundsätzlich teilten. Andererseits bestätigte sich, dass mit der starken Fixierung auf staatlich erbrachte Absicherung ein nicht

uner-hebliches Legitimationsrisiko verbunden sein kann, dann nämlich, wenn die realen Leis-tungen hinter den ErwarLeis-tungen deutlich zurückbleiben.

Diese psychologische Achillesferse der Staatskultur hatte sich für das Regime der DDR letztlich als politisch tödlich erwiesen. Ein ähnlich prekärer Umschwung des politischen Klimas, der sich in schwindender Unterstützung für das politische System äußert, zeich-nete sich in Ostdeutschland nach 1990 in Ansätzen neuerlich ab, als die sozialen Folgen der ökonomischen Transformationskrise voll durchschlugen. In beiden Krisenlagen wurde ein tief eingeschliffenes Reaktionsmuster der traditionellen deutschen Staatskul-tur abgerufen: Werden vom Staat erwartete Leistungen und Verteilungseffekte ent-täuscht, hat dies bei Betroffenen Vertrauenseinbußen zur Folge, die in den Entzug gene-reller Systemunterstützung münden können. In der späten DDR war die Unzufriedenheit schließlich so massiv geworden, dass sie zum unumkehrbaren Legitimitätsverfall des Regimes entscheidend beitrug. Eine vergleichbar kritische Schwelle der politischen Au-toritätseinbuße wurde nach 1990 in Ostdeutschland nicht annähernd erreicht. Aber die subjektiven Fährnisse, Misserfolge und Unsicherheiten, die im Gefolge des Umbruchs auftraten, wurden häufig abermals als Systemversagen empfunden. Das hat die rasche und glatte Einschmelzung ostdeutscher Sichtweisen in einer gesamtdeutschen politi-schen Kultur nicht unerheblich gehemmt.

Auf einem Scheitelpunkt im fließenden Prozess von Tradition, Traditionsbrüchen und neu eingeschmolzenen alten Einstellungen gelegen, kommt dem 3. Oktober 1990 analy-tisch die Funktion eines Scharnierdatums zu: Es öffnet den Zugang zum Verständnis der langfristigen kulturellen Entwicklungslogik des Einigungsprozesses in zwei Richtungen.

Die Zeit davor konserviert, bezogen auf Ostdeutschland, keineswegs ausschließlich ein historisch abgewickeltes Kulturgut der DDR, sondern sie lässt sich als eine vorauslau-fende Phase kulturellen Lernens verstehen, deren Erträge in das vereinigte Deutschland als Beitrag seines östlichen Teils eingebracht worden sind. In der Zeit danach haben die aus der DDR stammenden kulturellen Überhänge als ein Erbe dieses Staates im geeinten Deutschland teilweise weiter fortbestanden. Auf diese Wirkungszusammenhänge lässt sich die im öffentlichen Diskurs vielzitierte „gespaltene Kultur“ zurückführen.

3.1.2 Politische Kultur, Politische Unterstützung, Pfadabhängigkeit – ein

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