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Staatshilfe und Eigeninitiative – die Modernisierung der Staatskultur im

I Deutschland 2014 – Ergebnisse der repräsentativen Bevölkerungsumfrage

3 Ausgangslage 1990 - Die Historisierung politischer und gesell- gesell-schaftlicher Einstellungen und das kulturelle Erbe der DDR im

3.1 Allgemeine Einordnung

3.1.5 Staatshilfe und Eigeninitiative – die Modernisierung der Staatskultur im

„Modell Deutschland“ der Bundesrepublik

Wir zeichnen im Folgenden nicht in aller Ausführlichkeit nach, wie die deutsche Traditi-on der Staatskultur die westdeutsche Gesellschaft nach 1945 geprägt hat, wie diese Tra-dition dort allmählich demokratisch umgeformt und, beginnend in den späten 1960er

Jahren, in der Richtung einer aktivbürgerlichen Beteiligungskultur fortentwickelt wor-den ist. Hierzu liegt eine Fülle von Literatur vor, in der auch die seit wor-den späten 1940er Jahren vorliegenden Einstellungsdaten verarbeitet worden sind (vgl. hierzu Merritt/

Merritt 1970, 1980, Davison 1957, Berg-Schlosser/Rytlewski 1993, Barnes/Kaase 1979, Gabriel 1986, 1987, Gabriel/ Neller 2010, Holtmann 1989, 1993 und 2012, Ellwein/

Holtmann 1999). Um zu verdeutlichen, wie das nationalhistorische kulturelle Erbe der traditionellen Staatskultur, das in manchem auch eine schwere Hypothek war, in der alten Bundesrepublik verarbeitet worden ist, in welcher Weise es dort bewahrt wurde und wo bewusst Brüche mit der Vergangenheit herbeigeführt worden sind, genügen einige knappe summarische Hinweise.

Die junge Bundesrepublik war in ihren Anfängen mit einem historischen Kontinuitäts-problem konfrontiert, mit dem sie, wie wir heute wissen, auf eine nicht immer überzeu-gende Weise umging. Die Verarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit war in den frühen Nachkriegsjahren in einzelnen staatlichen Bereichen, beispielsweise in Jus-tiz, Verwaltung, Universitäten und Schulen, nur halbherzig betrieben und nach Grün-dung der Bundesrepublik durch den Primat des wirtschaftlichen Wiederaufbaus sowie den heraufziehenden Ost-West-Gegensatz und die Eigenlogik des Kalten Krieges ver-drängt worden (vgl. Jasper 1989). In den Anfangszeiten der demokratischen Neuord-nung traten die Zeichen der Ungleichzeitigkeit von Kultur und Struktur auf doppelte Weise zutage: Einesteils wirkten alte Geisteshaltungen fort, die in der neuen demokrati-schen Institutionenordnung ein demokratieferner Fremdkörper blieben. Andererseits blieben manche alten Institutionen weitgehend unangetastet, die sich dem neuen Geist der Demokratie nur zögerlich öffneten.

Es konnte für die Wiedergründung der Demokratie kein kanonisch gültiges Programm demokratischer Erneuerung geben, das sich hätte autoritätsstaatlich von oben verord-nen lassen. Der alliierte Lehrplan demokratischer Umerziehung (reeducation) war, obschon moderat umgesetzt, solange ein Widerspruch in sich, wie die Besatzungsmacht ihre besonderen externen Kontrollrechte ausübte, selbst wenn dies in der Weise eines

„gutwilligen Despotismus“ (benevolent despotism) geschah.

Außerhalb des Wirkungsbereichs demokratiepolitisch problematischer Eingriffsbefug-nisse der westlichen Besatzungsmächte und gänzlich ohne ideologische Begleitmusik ist die Tradition der Staatskultur in der Bundesrepublik mit großer Selbstverständlichkeit übernommen und pragmatisch umgeformt worden. Dies veranschaulicht der innenpoli-tisch einvernehmliche Umgang mit dem wohlfahrtsstaatlichen Kern der Staatskultur:

Das Sozialstaatsgebot des Artikel 28 GG hat bekanntlich als Bestandteil eines breiten verfassungspolitischen Konsenses, der im Parlamentarischen Rat 1948/49 erzielt wur-de, in das Grundgesetz Eingang gefunden. Und obwohl der ordnungspolitische Grund-satzstreit zwischen „Markt“ und „Staat“ die Parteienlager trennte, sind die Meilensteine sozialpolitischer Reformen, vom Lastenausgleich und sozialen Wohnungsbau der 1950er Jahre über die Dynamisierung der Renten in den 1960er Jahren und die Hartz-IV-Reformen der 2000er Jahre bis zum jüngsten Gesetzespaket von Mindestlohn,

vorge-zogenem Ruhestand und Mütterrente des Jahres 2014, ausnahmslos im Einvernehmen beider großer Volksparteien auf den Weg gebracht und jeweils von einem breiten ge-sellschaftlichen Einverständnis getragen worden. Die allgemeine Erwartung, die das Gros der Bevölkerung an den leistenden – oder wenigstens gewährleistenden – Staat richtet, hat den Ausbau der Systeme sozialer Sicherung ebenso gerechtfertigt wie die nämliche Erwartungshaltung umgekehrt von der fortschreitend ausgeweiteten Staatsin-tervention gestärkt worden ist.

Als eine wichtige Stütze für das Bewahren der Staatskultur und ihre Einbindung in den demokratischen Verfassungsstaat erwies sich die Modernisierung der öffentlichen Ver-waltung. Bei ihrer Gründung übernahm die Bundesrepublik mit der weithin unangetas-teten staatlichen Bürokratie eine Einrichtung, in welcher ein sich unpolitisch verstehen-der, faktisch vordemokratischer Amtsgedanke noch fest verankert war. Doch bereits in den 1970er Jahren hatte in westdeutschen Amtsstuben der moderne Typus des „politi-schen Bürokraten“ Einzug gehalten und den älteren Typus des „klassi„politi-schen Bürokraten“

partiell ersetzt (Putnam 1976). „Politische Bürokraten“ sind für die informelle Einbezie-hung gesellschaftlicher Interessen in Prozesse bürokratischen Entscheidens aufge-schlossen. Der Sinneswandel innerhalb der Verwaltung war nur zum kleineren Teil die Folge gezielter personalpolitischer Eingriffe, wie sie im Nachgang von Regierungswech-seln auf der Leitungsebene regelmäßig erfolgen, sondern er stellte sich weitgehend als Ergebnis normaler professioneller Neurekrutierungen ein, wobei Beamtengenerationen nachrückten, die nicht nur jünger, sondern auch politisch anders sozialisiert waren (Derlien 1990 und 2001, Holtmann 2012: 193ff.).

Konstanz und Wandel des bürokratischen Amtsgedankens sind ein Indiz dafür, wie die Tradition der Staatskultur in die alte Bundesrepublik Einzug hielt und sich unter neuen Systemvorzeichen abermals verstetigte, aber eben auch veränderte. Das hergebrachte

„klassische“ Verständnis des bürokratischen Berufs war anschlussfähig für jene eben-falls historisch gewachsene „administrative Kompetenz“ von Bürgern, die dem Staat im Bewusstsein ihrer Rechte gegenübertreten. Stellt schon die Deutung dieser subjektiven Kompetenz in der Studie Almonds und Verbas als ein obrigkeitsstaatliches Überbleibsel für die Bundesrepublik der ausgehenden 1950er Jahre ein Missverständnis dar, so hat sich die vertikale Beziehung zwischen Bürger und Staat seit den späten 1960er Jahren nachweisbar qualitativ gewandelt. Während zum einen vermehrt nachrückende jüngere Beamte, die den Typus des „politischen Bürokraten“ verkörperten, die westdeutsche Verwaltungskultur auf einen modernen Weg brachten, hat sich zum anderen die Gesell-schaft insgesamt stärker in der Richtung einer aktivbürgerlichen demokratischen Betei-ligungskultur bewegt.

Von der Verwaltung her gesehen, gestaltet sich seither das Verhältnis zu den Bürgern weniger hierarchisch und mehr partnerschaftlich. Auf Seiten der Bürger fanden die neu-en Formneu-en „unkonvneu-entioneller“ politischer Partizipation wachsneu-endneu-en Zuspruch (Kaase 1976). In der Folge der – von Max Kaase so apostrophierten – „partizipatorischen Revo-lution“ wurde nicht nur das politische Verhaltensrepertoire individuell erweitert,

son-dern die Neuen Sozialen Bewegungen (Brand/Büsser/Rucht 1986, Roth/Rucht 1987, Roth 2000), die in den 1970er Jahren aufstiegen, wirkten als Treiber der neuen zivilbür-gerlichen Beteiligungsbedürfnisse und boten diesen eine breitere gesellschaftliche Platt-form. Davon blieb die hergebrachte administrative Kompetenz der Bürger nicht unbe-rührt. Zu dem ausgeprägten persönlichen Rechtsgefühl, das dieses Einstellungsmuster traditionell kennzeichnet, ist ein selbstbewussteres Auftreten gegenüber Behörden, ein kritischerer Umgang mit den Planungsbefugnissen der öffentlichen Hand (Ewen/

Gabriel/Ziekow 2013) sowie eine wachsende Bereitschaft zur Beteiligung an „unverfass-ten“ politischen Aktionen (Kaase 1979, 2000) hinzugetreten, die selbst zivilen Wider-stand gegen die Staatsgewalt, zumindest in gewaltfreier Form, nicht als grundsätzlich illegitim betrachtet. In der Folge sind Basisdemokratie und unmittelbare Bürgerbeteili-gung zu festen Bestandteilen des gesellschaftlichen Bewusstseins der Bundesrepublik geworden und haben auch die Gesellschaftskultur entsprechend verändert.

Die gewandelte Wahrnehmung der Rolle des „Selbst im System“ und der neue partizipa-tive Politikstil machen anschaulich, wie in der Gesellschaft der alten Bundesrepublik die Traditionslinien der Staatskultur einesteils wieder aufgenommen und anderenteils ab-gewandelt worden sind. Überhänge obrigkeitsstaatlichen Denkens, die in staatlichen Einrichtungen und im öffentlichen Bewusstsein zunächst noch fortlebten, haben sich mit der Zeit abgeschliffen. Ihren Platz nehmen nunmehr Denkweisen und Erwartungshal-tungen ein, die den Erfahrungsstand der sozialen Marktwirtschaft und der sozialstaat-lich flankierten Demokratie widerspiegeln.

Deutlich wird auch: Wenn von der neuen zivilgesellschaftlichen Beteiligungskultur die Rede ist, welche den Willen zu aktivbürgerlicher Einmischung gegenüber dem staatli-chen Sektor nachdrücklicher als zuvor anmeldet, dann werden die Trennlinien zwisstaatli-chen Staatskultur und Gesellschaftskultur naturgemäß fließend. Die kurze Beschreibung der Entwicklung der politischen Kultur der alten Bundesrepublik in ihrem staatskulturellen Profil bliebe folglich unvollständig, ließe man die Erscheinungsformen der Gesell-schaftskultur und der GemeinGesell-schaftskultur außer Betracht. Tatsächlich sind diese als komplementäre kulturelle Ausformungen neben der Staatskultur ebenfalls wieder- bzw.

neu entstanden.

Richten wir den Blick zunächst auf den Bereich der Gemeinschaftskultur: Sie gründet in sozialen Bindungen und Aktivitäten, die vergemeinschaftet sind. Darunter verstand Max Weber private Formen sozialer Zusammenschlüsse aufgrund „subjektiv gefühlter Zu-sammengehörigkeit“ (1976: 21f.). In Deutschland ist eine bevorzugte Organisationsform solcher Vergemeinschaftung seit jeher der Verein. Schon im 19. Jahrhundert hat sich hierzulande ein Vereinswesen ausgefächert, mit einer breiten Vielfalt „vom Kegelklub bis zur politischen Partei“ (Weber). Da der Vereinszweck größtenteils nicht politisch bestimmt war und ist, hat das Vereinswesen sämtliche politischen Systemwechsel der jüngeren deutschen Vergangenheit überdauert. Bis heute stellen Vereine lokale Netz-werke persönlicher Beziehungen dar, die vornehmlich Zwecken von Spiel, Sport, Gesel-ligkeit und sozialer Hilfe dienen (Siewert 1977). Freiwilliges bürgerschaftliches

Enga-gement ist auch gegenwärtig in hohem Maße auf Aktivität in Vereinen bezogen (FS 1999, 2004, 2009). Auch Bürgerinitiativen, die im Gefolge neuer Partizipationsbedürf-nisse auftreten und häufig als lose gekoppelte AktionsbündPartizipationsbedürf-nisse ohne formale vereins-förmige Organisation existieren, entstehen häufig als gemeinschaftliche Zusammen-schlüsse. Jedoch besetzen sie Themen und verfolgen damit bestimmte Interessen; daher verstehen sie sich oftmals erklärtermaßen politisch. Erkennbar wird hier die Trenn-wand zwischen Gemeinschaftskultur und Gesellschaftskultur durchlässig.

Wegweisend für die sich im späten 19. Jahrhundert in Deutschland ausformende Gesell-schaftskultur wurde, folgt man dem historischen Politikforscher Karl Rohe, ein Typus kollektiver Partizipation, der Interessen verbandsförmig organisierte und diese gegen-über gegnerischen Verbänden wie auch innerhalb der staatlichen Sphäre vertrat (Rohe 1993: 13). Als Teil dieses Verbändekartells verstanden sich speziell die Gewerkschaften nicht nur als zweckrational ausgelegte Interessenverbände. Sie waren vielmehr traditi-onell Teil eines größeren „wertrational motivierten Gesinnungsvereins“, der sich im je-weiligen „Sozialmilieu“ (Rainer M. Lepsius) der Sozialdemokratie und des politischen Katholizismus eine weltanschaulich überformte gesellschaftliche Gegenwelt geschaffen hatte. Die gemeinschaftsstiftende Leitidee der Solidarität war ein diese soziale Assozia-tion verbindendes Element. Das Solidaritätsgebot enthielt eine Loyalitätszusage auf Ge-genseitigkeit, die nach Max Weber jene soziale Festigkeit und Verbindlichkeit sichert, die Vergesellschaftung ausmacht. Deutlich wird hier, dass sich Gesellschaftskultur und Ge-meinschaftskultur schon in ihrer historischen Entstehungszeit überschneiden.

Dieses Traditionselement einer „Kultur kollektiver Akteure“ (Rohe 1993: 223), die zu-gleich staatsbezogen und an die Gesellschaft rückgekoppelt ist, hat im Ergebnis der de-mokratischen Neuordnung der staatlichen und parastaatlichen Institutionen im Westen Deutschlands nach 1945 an Bedeutung gewonnen. An anderer Stelle haben wir hierzu ausgeführt: „Es sind vor allem fünf institutionelle Schlüsselentscheidungen, die den nachmaligen Entwicklungspfad der Bundesrepublik vorgezeichnet haben: „Rheinischer Kapitalismus“ und Wohlfahrtsstaatlichkeit, rechtsstaatlich gebundene Administration, Föderalismus und kommunale Selbstverwaltung. Kennzeichnendes Strukturmerkmal des rheinischen Kapitalismusmodells ist ein neokorporatistisches Muster der Interes-senwahrnehmung und Politiksteuerung, das für die Regelung von Konflikten, die in der Arbeitswelt sowie in den Feldern der Sozial- und Wirtschaftspolitik aufbrechen, auf eine weitgehend autonome Selbstregelung durch verbandlich organisierte Kräfte von Arbeit und Kapital „im Schatten staatlicher Hierarchie“ setzt“ (Holtmann 2012: 79).

Mit dem neokorporatistisch und sozialpartnerschaftlich ausgestalteten „Modell Deutsch-land“ hat sich die traditionell enge Verschränkung von Gesellschaftskultur und Staats-kultur in die Bundesrepublik hinein verlängert. Ein besonderes Strukturmerkmal dieser gewachsenen Verschränkung ist die Arbeitsteilung zwischen öffentlichen Trägern und gesetzlich bevorrechtigten Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege bei der Be-reitstellung von Angeboten der Daseinsvorsorge (Backhaus-Maul/Olk 1998: 128). Wie eng die Berührungspunkte beider Kulturmuster sind, bezeugt beispielsweise das von

Ludwig Erhard während seiner Kanzlerschaft in den frühen 1960er Jahren lancierte (al-lerdings bald verworfene) Denkmodell einer „formierten Gesellschaft“, das die Macht der wirtschaftlichen Interessenverbände zugunsten größerer Freiräume für die Entfal-tung und soziale Zusammenführung individuellen Gemeinsinns beschneiden sollte. Ein Widerlager gegenüber der traditionellen deutschen Staatsaffinität hat sich gleichwohl im Schoße der Gesellschaftskultur realiter bald danach herausgeschält, nachdem die Forderungen nach neuen Formen aktiver Bürgerbeteiligung erstarkten.

3.1.6 Die autoritäre Umformung der Staatskultur in der DDR und dortige

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