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19.3 Lebenswelt psychiatrieerfahrener Menschen

19.3.5 Soziale Netzwerke/Umfeld

Soziale Netzwerke und Beziehungen, und da sind sich alle ExpertInnen einig, sind für die Betroffenen von großer Wichtigkeit. Jedoch muss hier unterschieden werden, ob es sich um förderliche oder nicht förderliche Beziehungen handelt. Im ersteren Fall können darin sehr hilfreiche Ressourcen liegen. Ein/e ExpertIn verdeutlicht, dass soziale Beziehungen im besten Fall auf gegenseitigem Verständnis beruhen und Unterstützung vorhanden ist, sei es nun in emotionaler, informeller oder materieller Sicht (EX_01: 31).

„… eine gesunde und gute Beziehung, die kann dir viel Kraft geben, das Umfeld - lieber ein kleines, aber feines Umfeld, die zu mir stehen und für mich da sind, auch wenn es nur eine Person ist.“ (EX_03: 22)

„Das soziale Umfeld bzw. das familiäre Umfeld stellt einen sehr wichtigen Faktor für jeden Menschen dar. Das Individuum an sich kann nicht isoliert existieren, es braucht ein Umfeld und muss Interaktionen durchführen.“ (EX_07: 22)

Ein/e InterviewpartnerIn betonte den Umstand, dass wir soziale Wesen sind und es unser Ziel ist, in in förderlichen Settings zu leben, d. h. Freunde, Familie und Bezugspersonen an der Seite zu wissen (EX_09: 28). Soziale Beziehungen haben großen Einfluss in beide Richtungen. Einerseits einen positiven Einfluss, wie oben beschrieben, aber auch einen negativen Einfluss, wie die folgenden Darstellungen zeigen.

Eigentlich sollten soziale Beziehungen Menschen gesund halten, jedoch werden Beziehungen zu Freunden und Familienangehörigen durch psychische Erkrankungen oftmals brüchig, es gehen Freundschaften und Beziehungen verloren und die eigene Familie wendet sich von den betroffenen Menschen ab. Das wirkt sich nicht positiv auf die Genesung aus (EX_10: 20). „Für die Betroffenen ist das ganze soziale Umfeld im weitesten Sinne kontraproduktiv, weil es eigentlich dort, wo Heilungswege beschritten werden sollten, diese verunmöglicht werden, im Sinne, dass ein angeschlagenes Selbstwertgefühl noch angeschlagener wird, dass die Rückzugtendenzen noch stärker ausgeprägt sind und dass sich die Betroffenen auch nichts mehr zutrauen. Mutlosigkeit, Aussichtslosigkeit und das Wertlosigkeitsgefühl bestimmen das Leben dieser Menschen.“

( EX_08: 8)

Ein/e ExpertIn beschreibt die Problematik sehr deutlich damit, dass sich oftmals die Auslöser in der Familie befinden und es in diesen Fällen unumgänglich ist, sich zugunsten des Genesungsprozesses von der Familie zu trennen (EX_01: 31) Auch erwähnen die ExpertInnen, dass es bei vielen Betroffenen während des Psychiatrieaufenthaltes zu Trennungen seitens der PartnerInnen kommt. Hervorgehoben wird, dass es sich vorwiegend um Frauen handelt, welche davon betroffen sind (EX_07: 16). „Da bricht das soziale Netz auseinander, weil der Partner sich trennt oder zurückzieht, Freunde sich ebenfalls zurückziehen, teilweise wird auch für die Familie die Belastung zu groß.“

(EX_07: 16) Aus den Gesprächen geht hervor, dass Familien und Freunde ganz unterschiedlich mit der Belastung umgehen und diese entweder aushalten können oder auch nicht und dann zu den Betroffenen stehen und diese unterstützen oder sich von ihnen abwenden. „Familien retten oft, indem sie sich abgrenzen.“ (EX_05: 14)

Die Betroffenen haben sehr oft die Tendenz sich zu isolieren, aufgrund von Stigmatisierung und damit einhergehender Ausgrenzung. Grund dafür kann oftmals die eigene Verunsicherung sein und dadurch verfallen sie in alte Muster, ziehen sich zurück (EX_10: 14). Fakt ist, dass die Betroffenen großteils Schwierigkeiten haben, Kontakte zu halten. Oftmals haben sie eine lange Zeit des Rückzugs hinter sich und an dieser Stelle wieder Kontakt aufzunehmen ist kein einfaches Unterfangen. Tatsache ist auch, dass nach einem langen Rückzug Fragen seitens der Familie und Freunde auftauchen können, und gewachsen. „Sich in soziale Netzwerke […] zu integrieren ist oftmals auch sehr schwierig, da die Betroffenen erstmals Verluste verarbeiten müssen…“ und sich danach wieder neuen Menschen zu öffnen, gestaltet sich für sie oftmals sehr schwierig (EX_10: 24). Viele tun sich sehr schwer, neue Kontakte zu knüpfen, da sie verunsichert sind und ihr Selbstbewusstsein kaum vorhanden ist. Hinzu kommt, dass der Großteil unroutiniert im Aufbauen und Knüpfen von Kontakten ist (EX_02: 22). Alle Betroffenen haben jedoch gemeinsam, dass die Sehnsucht nach Kontakten und Beziehungen vorhanden ist.

(Ex-) Bewohnerinnen:

19.3.5.1 Familie

Fehlende Netzwerke oder ein schwaches soziales Umfeld haben ganz unterschiedliche Ursachen. Gerade das familiäre Umfeld ist oftmals von vielen Belastungen geprägt. In den Gesprächen zeigte sich, dass viele psychische Probleme der Betroffenen aus der Familienkonstellation resultieren. Alkohol, Drogen, physische, psychische und sexuelle Gewalt wurden häufig thematisiert und haben schlussendlich zu den bestehenden Herausforderungen und Problemen im Alltag beigetragen.

Nur drei der befragten Frauen gaben an, regelmäßigen Kontakt zur Familie zu haben. Ganz klar artikulierte sich eine (Ex-) Bewohnerin bei der Frage nach ihrer Familie: „Meine Familie war Teil des Problems, würde ich sagen, weil ich damals noch recht viel Kontakt hatte […], was mir eigentlich nicht gut getan hat.“ (B_04: 17). Eine andere (Ex-) Bewohnerin sieht in ihrer Familie, in der es viele Zwänge gab, die Ursache für ihre Essstörung. „Wenn ich […] nach Hause komme, muss ich alles essen, das ist so eine kulturelle Geschichte […], es gibt um sieben Abendessen und wenn ich um fünf Hunger habe, dann darf ich nicht essen.“ (B_06: 11)

Ergebnisse der vorliegenden Forschung unterstreichen die angeführten theoretischen Annahmen und zeigen, dass sich die Familie als prägendes soziales Umfeld im speziellen bei psychischen Erkrankungen problem- und krisenbehaftet darstellen kann.

In den meisten Fällen wird das Elternhaus nicht als Anlaufstelle für psychosoziale Probleme wahrgenommen. Es wird kaum Hilfe angenommen und in den seltensten Fällen wird überhaupt nach Unterstützung gefragt (B_01: 19). Teilweise berichteten die Frauen von einer Verbesserung der Beziehung zu den Eltern, wenn diese Akzeptanz gegenüber dem gewählten Lebensweg der Kinder aufbringen können. „Das Verhältnis mit der Familie hat sich auch verbessert. Sie haben verstanden, dass ich selbst meinen Weg finden muss.“ (B_06: 31) Die finanziell gut situierte Familie reagiert zwar nicht offensichtlich mit Ausgrenzungen, unterstützt ihre Tochter aber auch nicht bei aktuellen finanziellen Existenzproblemen. Auf die psychische Erkrankung reagierten sie eher distanziert. „Sie haben lediglich eine Psychiaterin für mich gesucht und das war es dann aber auch.“

(B_06: 33)

Eine (Ex-) Bewohnerin lebte neben unzähligen Psychiatrieaufenthalten bei den Eltern und übersiedelte bei ihrem ersten Auszug von zu Hause in den Verein „Die Schwalbe“. Sie

weiteren Kontrollzwänge ausüben konnten. Das Verhältnis entwickelte sich zu einer freundschaftlichen und gleichwertigen Beziehung (B_03: 45, 47).

19.3.5.2 Freundschaften und Partnerschaften

Drei der befragten Frauen waren verheiratet und sind mittlerweile geschieden. Nur eine (Ex) Bewohnerin berichtete von einer liebevollen Partnerschaft, die gerade im Entstehen sei und sehr positive Auswirkungen auf ihren Alltag habe (B_06: 41). Teilweise berichteten die Frauen von Gewalt- und Missbrauchserfahrungen innerhalb der Partnerschaften oder von sehr seltenen bis keinen Lebensgemeinschaften. „Ja, ich habe insgesamt 35 Jahre alleine gewohnt, ohne Partner, immer alleine.“ (B_02: 19). Eine (Ex-) Bewohnerin erzählte von dem Scheitern ihrer Partnerschaft auf Grund des Psychiatrieaufenthaltes. Ihr Freund konnte nicht akzeptieren, dass sie professionelle Unterstützung braucht, um psychisch wieder stabil zu werden. Hinzu kamen physische und psychische Gewalttätigkeiten bereits innerhalb der Beziehung, aber auch nach Beendigung (B_03: 19). Von schweren gewalttätigen Übergriffen erzählte auch eine andere Frau. „Ich war zweimal auf der Intensivstation, wegen Gehirnblutungen, weil mich mein Freund so geschlagen hat und mich in der Wohnung eingesperrt, mit Vorhängeschlössern […]. Zwei Tage später hat sie [eine damalige Freundin, Anm. d. Verf.] mich abgeholt und ins Krankenhaus gebracht, sonst wäre ich gestorben.“ (B_08: 5) Eine damalige Freundin hatte sich Zugriff zur Wohnung verschafft, nachdem sie die Befragte nicht erreichen konnte und hat ihr damit wahrscheinlich das Leben gerettet.

Frauen mit Migrationshintergrund haben mit Ausgrenzungen auf Grund kultureller Sichtweisen zu kämpfen. In patriarchal geprägten Kulturen werden Frauen, die eine Trennung bzw. Scheidung einfordern oder ausführen, oftmals von der gesamten Familie und dem sozialen Umfeld ausgeschlossen. Besuche bei der Familie sind kaum mehr möglich. „Zu den […] Familien kann ich nicht einfach so kommen, weil ich meinen Mann verlassen habe.“ (B_09: 13). Nicht nur von der eigenen Familie wird Druck ausgeübt, auch FreundInnen wenden sich ab. „Die ist nichts wert, weil sie nicht mit ihrem Mann zusammen ist…“ (B_05: 33). In wenigen Fällen verlassen die betroffenen Frauen ihr gesamtes bekanntes soziales Umfeld und ziehen in andere Städte oder Bundesländer. Somit entfliehen sie den vermeintlich unlösbaren Problemen, die z. B. mit der Familie oder FreundInnen existieren. Es besteht die Hoffnung, in einem neuen Umfeld einen Neustart zu schaffen (B_09: 34). Zwei der Frauen berichteten, dass sie aus Angst vor ihren Ehemännern die Scheidung erst viele Jahre nach der Trennung eingereicht haben.

Demzufolge hatten sie auch keinen Anspruch auf Unterhalts- oder Alimentezahlungen.

„Ich habe auf das Geld verzichtet, damit ich meine Ruhe habe.“ (B_09: 13)

19.3.5.3 Mitbewohnerinnen im Verein „Die Schwalbe“

Die aktuell im Haus wohnenden Frauen sehen ihre Mitbewohnerinnen als wichtiges soziales Umfeld. „Ich war froh, dass ich dort hin habe gehen können. Ich war wieder unter Leuten, unter Menschen. Die haben natürlich auch ihre Probleme. Mit Gleichgesinnten zu reden und beisammen sein. Zur Ruhe kommen, das hat mir sehr geholfen. Ich weiss nicht, wie es sonst gelaufen wäre.“ (B_09: 19) Diese (Ex-) Bewohnerin hat die Gemeinschaft im Haus als unterstützend wahr genommen. Das gemeinsame Merkmal der psychischen Erkrankung vermittelte das Gefühl nicht alleine zu sein mit der bestehenden Erkrankung und GesprächspartnerInnen im Umfeld zu haben, die ähnliche Erfahrungen mitbringen.

Eine andere (Ex-) Bewohnerin bewertete den Zusammenhalt bei alltäglichen Dingen als positiv und bekam bedarfsgerechte Informationen von ihren Mitbewohnerinnen. „Die sind auch sehr hilfsbereit, wenn ich etwas brauche oder so. Wenn ich mich nicht auskenne, kann ich nachfragen, dass sie mir eventuell helfen […]. Eine Mitbewohnerin hat mich in die Kreativwerkstatt mitgenommen. Das hat mich interessiert und sie hat mir den Weg gezeigt.“ (B_03: 51)

Es wurde aber auch öfters erwähnt, dass der Wechsel im Haus belastend wirken kann und längerfristige Freundschaften oder Kontakte eher selten sind (B_04: 31). „Ist halt so ein ganz eigenes Verhältnis, wenn man sich unter solchen Umständen kennen lernt.“ (B_07:

13) In einem Übergangswohnmodell gibt es keine Wahlmöglichkeit bezüglich der MitbewohnerInnen. Es treffen sich viele unterschiedliche Charaktere und Lebensgeschichten mit ganz individuellen Bedürfnissen. Neben Streitereien formen sich Beziehungen auf heterogenen Ebenen, die teilweise nur im Haus gelebt werden. Nach dem Auszug orientieren sich manche Frauen ganz neu oder kehren in ihr gewohntes Umfeld zurück. Es scheint so, als würde die Vergangenheit mit den betreffenden Personen zurück gelassen werden. Drei (Ex-) Bewohnerinnen berichteten, dass innige und konstante Freundschaften im Verein „Die Schwalbe“ entstanden sind. Substanzabhängige Frauen berichten von Zweckgemeinschaften, sowohl innerhalb, aus auch außerhalb der Wohngemeinschaft, die nicht als „richtige“ Freundschaften betrachtet werden können.

Ergeben sich aus solchen Konstellationen doch Freundschaften, sind diese oftmals äußerst schwierig und psychisch belastend. „Meine besten Freunde sind alle schon tot, wegen den Drogen halt. Einen gibt es noch, aber der ist im Gefängnis….“ (B_08: 13)

19.3.5.4 Regelmäßige Fixtermine

Die interviewten Frauen wurden nach regelmäßigen Terminen in ihrem Alltag gefragt, die sowohl therapeutische Maßnahmen als auch Regelmäßigkeiten in der Alltagsstrukturierung verdeutlichen sollen. BetreuerInnen oder PsychologInnen spielen bei vielen Frauen, sowohl während des Aufenthalts, als auch nach dem Auszug eine wichtige Rolle. Die Betreuungsmaßnahmen sind personen- und bedarfsorientiert und erstrecken sich von wöchentlichen Einzeltherapien über krankheitsspezifische Gruppentreffen, ehemalige PatientInnentreffen oder andere selbst gewählte Selbsthilfegruppen. Als regelmäßigen, wöchentlichen Termin nennt eine Frau das Fitnesscenter, welches sie besucht. Kontakt zu anderen Personen pflegt sie dabei nicht. Eine besonders wichtige und kontinuierlich erreichbare Bezugsperson ist ein Betreuer, der als „Ersatzopa“ (B_08: 27) wahrgenommen wird und jederzeit Hilfestellungen in sämtlichen Bereichen bietet. Dieser wurde von einer sozialpsychiatrischen Institution im Rahmen einer Betreuung gestellt und hat sich zu einem Vertrauten entwickelt. Sollte das Stundenkontingent des Betreuers gekürzt oder gestrichen werden, so hat er dennoch weitere private Unterstützung zugesagt, „… denn er ist mittlerweile mein Freund.“ (B_08: 37)

Dem gegenüber steht die Aussage einer (Ex-) Bewohnerin. „Abgesehen von Freunden und Familie? Nein, sonst unterstützt mich niemand. Man muss alleine durchs Leben. Ich habe keine Therapien mehr und auch keinen Psychologen. Gar nichts.“ (B_07: 27) In diesem Fall kommt erschwerend hinzu, dass in abgelegenen ländlichen Bezirken sowohl wenige extramurale Institutionen vorhanden sind, als auch eine schlecht ausgebaute Infrastruktur vorzufinden ist. Interessant ist allerdings, dass ein funktionierendes soziales Umfeld mit Familie und FreundInnen vorhanden ist. Trotzdem schätzt sich die Befragte in ihrem Alltag als „Einzelgänger“ (B_07: 27) ein. Als weitere wichtige Fixtermine wurden wöchentliche Besuche in psychiatrischen Kliniken genannt, um z. B. einer Ergotherapie nachzukommen oder Kontakte mit ehemaligen PatientInnen zu pflegen. Außerhalb der Klinik werden Bekanntschaften kaum gelebt. „Man trifft dort schon Bekannte, mit denen man zusammen dort war. Privat trifft man sich nur in Einzelfällen.“ (B_09: 36) Des Weiteren wurden gemeinsames Kaffeetrinken oder Einkaufen als fixierte, gemeinsame Termine genannt. Eine (Ex-) Bewohnerin hatte neben ihren ArbeitskollegInnen keine Netzwerke und baute sich während ihres Aufenthaltes im Verein „Die Schwalbe“ neue Netzwerke, im Rahmen von kirchlichen Organisationen, auf „… das ist ein Ort, da fühle ich mich gut und geborgen. Da kenne ich nun schon einige Leute und bin öfters bei verschiedenen Gruppen dabei.“ (B_02: 57)