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Salutatis Staatsbrief an die Stadt Rom: Lucretia und die Freiheit der Republik Florenz (1376)

Der erste Text, in dem Salutati schon bald nach der Declamatio Lucretie wieder mit dem exemplum der Lucretia arbeitet, ist ein Staatsbrief vom Januar 1376, in dem Salutati sich in offizieller Funktion als Kanzler von Florenz an die Stadt Rom wendet. Er fordert sie zum Widerstand gegen Papst Gregor XI. auf, der seine Rückkehr aus Avignon zurück nach Rom vorbereitet. Hier nutzt er das Lucretia-exemplum in seiner rhetorischen Funktion als

Beweismittel und zitiert es nur kurz an, um eine These, die er vertritt, mit einem Rückblick in die Geschichte zu untermauern. Mit dem Hinweis auf die große Vergangenheit Roms und das Streben nach libertas, von dem sich schon Lucretia in der Frühgeschichte leiten läßt, versucht er, die Stadt Rom gegen den zurückkehrenden Papst aufzubringen.

Papst Gregor XI., der 1370 zum Papst gewählt wird, betreibt von Beginn seiner Amtszeit an die Rückkehr der päpstlichen Kurie nach Rom aus Avignon, wo sie sich seit Beginn des Jahrhunderts befindet. Gregor XI. setzt sich schließlich gegen den Widerstand der

mehrheitlich aus Franzosen bestehenden Kurie durch und erreicht Rom am 17. Januar 1377 mit einer Flotte, die von dem Juan Fernández de Heredia organisiert und angeführt wird, bei dem Salutati viele Jahre später brieflich nach historiographischen Handschriften anfragt.

Während er sich 1392 freundschaftlich mit Fernández über Bedeutung und Nutzen der Geschichte austauscht, steht Salutati zu diesem Zeitpunkt auf der Gegenseite. Denn die angekündigte Rückkehr des Papstes droht sich negativ auf die Handelsmacht und den politischen Einfluß von Florenz auszuwirken, das er seit kurzer Zeit als Kanzler vertritt.

Durch den Wechsel des Papstes nach Avignon ist in Nord- und Mittelitalien ein

Machtvakuum entstanden, in dem der Papst zwar weiterhin größter Landbesitzer ist, den Kirchenstaat aber größtenteils sich selbst überläßt. Die lokalen Mächte, zu denen auch

205 Mit der Arbeit von Jed 1989 liegt bereits eine Monographie zur Declamatio Lucretie vor, die als bisher einzige Untersuchung versucht, den Text in seinen kulturellen Kontext zu stellen (vgl. auch Jed 1987 und Jed 1991). Sie ist jedoch in methodischer Hinsicht außerordentlich problematisch, und kann deswegen nur sehr bedingt als Vorarbeit benutzt werden. Jed schließt von Lucretias Streben nach pudicitia auf eine Denkweise, die im Florenz Salutatis allgemein verbreitet und auf Reinigung und Reinheit ausgerichtet ist. Jed sieht in der castitas, die Lucretia bei Salutati erreichen will, ein grundsätzliches chaste thinking dargestellt, das sich auch in der zeitgenössischen Politik, der philologischen Praxis der Humanisten und der Buchführung der Florentiner Kaufleute wiederfindet. Diese These kann sie jedoch nur mit einer sehr problematischen Materialbasis stützen.

Denn obwohl andere sehr viel naheliegendere Verbindungen vorliegen, verknüpft Jed Text und Kontext auf spekulativer Basis und weitgehend assoziativ. So bezieht sie die libertas, für die Lucretia in der Declamatio eintritt, auf Salutatis politischen Briefwechsel mit Antoni Loschi, in dem nur Brutus, nicht aber Lucretia als exemplum herangezogen wird. Und für die Analogie zwischen dem philologischen Bemühen um einen reinen Text und Lucretias Streben nach pudicitia dient ihr das allgemeine Vokabular der Humanisten für die Textexegese, nicht aber Salutatis eigene philologische Tätigkeit (vgl. Jed 1989, S. 18 – 50). Hier soll dagegen mit den Belegstellen, an denen Salutati das Lucretia-exemplum verwendet, eine besser begründete Materialbasis zum Ausgang der Untersuchung gemacht werden. Dabei werden zugleich zwei Bereiche des kulturellen Kontextes aufgenommen, auf die Jed bereits verweist, nämlich Salutatis politische Arbeit als Kanzler von Florenz und seine philologischen Interessen. Anders als bei Jed führt die hier gewählte Materialbasis aber zu einem viel breiteren und methodisch gesicherten Spektrum an Verbindungen zwischen Text und Kontext.

Florenz gehört, konnten dieses Machtvakuum selbst ausfüllen und für sich nutzen. Dies ist aber durch die Rückkehr des Papstes nach Rom stark gefährdet, von wo aus er viel besser seine Interessen vertreten kann.

In der zweiten Hälfte des Jahres 1375, also kurz nach Salutatis Amtsantritt, kommt es zu größeren Spannungen zwischen dem Papst und Florenz. Salutati, als Kanzler und dictator litterarum für die Außenbeziehungen zuständig, muß sich bereits zu Beginn seiner Tätigkeit in einer komplizierten Situation bewähren, bei der sein ganzes rhetorisches Geschick

erforderlich ist. Er muß die politischen Absichten der Florentiner, die er selbst erst gerade kennenlernt, nach außen angemessen darstellen, die diplomatischen Beziehungen zum Papst und den benachbarten Städten aufrechterhalten und außerdem gewinnbringend für die eigene Stellung einsetzen. In einer Reihe von Staatsbriefen, die Salutati im Winter 1375/1376 schreibt, versucht er, die Lage für Florenz in verschiedene Richtungen zu verbessern. Papst Gregor XI. gegenüber gibt er sich moderat, zeigt ihm aber auch die Grenzen auf, die seiner Machterweiterung in Italien gesetzt sind. Zugleich macht er die toskanischen Verbündeten auf die Bedrohung durch den Papst aufmerksam und wiegelt die Städte des Kirchenstaates zum Widerstand gegen den Papst auf. Diese diplomatischen Aktivitäten führen schließlich zum Bruch des Papstes mit Florenz. Am 31. März 1376 belegt der Papst die Stadt mit dem

Kirchenbann, durch den Florenz erhebliche Verluste im Handel erleidet. Der Krieg endet erst im Sommer 1378, als Florenz unter innenpolitischem Druck mit Papst Urban VI., dem in Rom gewählten Nachfolger von Gregor XI., einen Friedensvertrag schließt. Auch wenn der Krieg für Florenz eine ungünstige Wendung nimmt, trägt er zum Gelingen von Salutatis Karriere entscheidend bei. Während des Krieges und in den Monaten davor kann er an den geheimen Sitzungen der entscheidungstragenden Gremien der Signoria teilnehmen und wird insbesondere zu den Treffen der Otto di Balia, des Kollegs der Kriegskommissare,

herangezogen, das für die Auseinandersetzung mit dem Papsttum gebildet wird. Dadurch wird Salutati in den inneren Kreis der Führungspersonen der Republik aufgenommen und kann seine Position in der Signoria sichern und ausbauen.206

In den frühen Staatsbriefen setzt Salutati rhetorisches Können und Bildungswissen, das er bereits in der Declamatio Lucretie theoretisch vorführt, in die politische Praxis um.

Entsprechend findet sich auch in dem Staatsbrief vom 4. Januar 1376, den Salutati an die Stadt Rom richtet, als der Bruch mit dem Papst noch nicht endgültig offenbar ist, beiläufig das exemplum der Lucretia. Es dient Salutati als Beweismittel in einem größeren

Argumentationszusammenhang, in dem er an die Freiheitsliebe der Römer appelliert207. Das exemplum erfüllt dabei zwei Funktionen. Zum einen dient es als Bildungswissen, mit dem Salutati die Politik der Republik Florenz darstellen und seine Argumentation stützen kann.

Zum anderen setzt er die Antike als Bezugsfeld für das eigene Selbstverständnis ein. Er nutzt sie, um an den Nationalstolz und das Selbstwertgefühl der Römer zu appellieren. Denn

schließlich zeigen die exempla aus der römischen Frühzeit die Größe ihrer eigenen Vorfahren, die ihnen als Ansporn und Richtschnur dienen müssen.

Salutati eröffnet den Brief an die Römer mit einer allgemeinen Einschätzung der politischen Lage in Italien. Dafür ordnet er den verschiedenen Interessengruppen klare Rollen und Werturteile zu. Auf der einen Seite stehen die Italiener, die in Sklaverei gehalten werden und ihre Freiheit durchsetzen wollen, auf der anderen die päpstliche Kurie in Avignon, die eine tyrannische Herrschaft errichtet hat, gegen die sich Italien nun endlich wehrt:

206 Für die historischen Zusammenhänge vgl. Trexler 1967 und Witt 1983, S. 126 – 132.

207 Für das Konzept der libertas, das sich in den frühen Staatsbriefen immer wieder findet, vgl. auch Langkabel 1981, S. 66 – 82.

Verehrte Herren, hochgeschätzte Brüder. Gott, der alles lenkt und nach der uns unbekannten Ordnung seiner unwandelbaren Gerechtigkeit über die Angelegenheiten der Sterblichen befindet, hat sich in seiner großen Güte des schwachen Italiens erbarmt, das unter dem abscheulichen Joch der Sklaverei aufstöhnt. Er hat den Kampfgeist des Volkes geweckt und die Bedrängten aufgerichtet gegen die äußerst schändliche Tyrannei der Barbaren

(tirannidem barbarorum). Und, wie ihr seht, verlangt jetzt allerorts auch, angetrieben von dem gleichen Wunsch, Unteritalien laut und vernehmlich nach Freiheit (libertas) und setzt sich für diese Freiheit mit Waffengewalt ein. Diesen, die uns um unsere Hilfe ersuchen, versagen wir sie bei einem so hervorragendem Vorhaben und für eine so willkommenen Sache nicht.208

Salutati deutet die aktuelle Situation mittels des Gegensatzpaars von libertas und Tyrannis.

Während die tyrannische Herrschaft der französischen Kurie im Moment noch die Oberhand hat, macht sich allmählich der Wille zum Widerstand bemerkbar, der die italienischen Städte ergriffen hat. Der Einsatz für die libertas, erkennbar an der Bereitschaft, die Herrscher mit Gewalt zu vertreiben, wird zusätzlich durch höhere Fügung befördert. Durch den Hinweis auf Gott, der sich nun auf die Seite Italiens schlägt, wird sein Werturteil über die Situation

zugleich objektiviert. Gottes Wille dient zur Letztbegründung dafür, daß es sich tatsächlich um eine Tyrannis handelt, gegen die legitimerweise vorgegangen werden darf. Als zweites Deutungsmuster fügt Salutati die Trennung zwischen Barbaren und Einheimischen ein. Dabei stellt er die päpstliche Kurie und ihre mehrheitlich französischen Beamte als fremdartig dar und grenzt sie gegen die eigene Lebensweise ab. Abschließend positioniert Salutati die Republik Florenz in der Konstellation. Sie ist auf der Seite der libertas und ihrer Verfechter.

Im nächsten Abschnitt geht Salutati von der allgemeinen Situation zu den Adressaten seines Briefes über. Auch die Römer sollen sich auf die Seite der Aufständischen schlagen und sich wie Florenz gegen die Rückkehr des Papstes nach Rom einsetzen. Als Grund dafür nennt er die exempla aus der römischen Frühzeit, die die Römer aufgrund ihrer Geschichte dazu verpflichten. Die exempla dienen nicht nur als Illustration und Beweis dafür, daß das Streben nach libertas das einzig richtige Verhalten in der aktuellen Situation ist. Denn weil sie auch noch der Tradition der Römer selbst angehören, führen sie außerdem einen Nationalcharakter vor, dem diese ohnehin folgen müssen:

Wir glauben, daß dies alles euch, die ihr gleichsam die Urheber und Väter der allgemeinen Freiheit (publice libertatis) seid, Freude bereitet, weil sich abzeichnet, daß das römische Volk wieder zu seiner alten Größe und seiner natürlichen Stellung gelangt. Diese Liebe zur Freiheit (libertatis amor) trieb nämlich einst das römische Volk gegen eine königliche Tyrannis und reizte sie zum Sturz der Herrschaft der Decemvirn, gegen jene wegen der Vergewaltigung der Lucretia, zu diesem wegen des Urteils gegen Virginia. Diese Freiheit stellte Horatius Cocles allein auf einer einstürzenden Brücke den drohenden Feinden entgegen. Diese schickte Mucius Scaevola ohne Hoffnung auf Rettung gegen Porsenna und bot dadurch, daß er seine eigene Hand verbrannte, dem König etwas Atemberaubendes und der gesamten Nachwelt etwas Bewundernswertes. Diese weihte die beiden Decier dem ergebenen Freitod und den Schwertern der Feinde. Und, um nun die einzelnen Sterblichen, die Glanz verbreitende Zierde Eures Staates, zu entlassen, diese allein hat bewirkt, daß das römische Volk, der Herr über alle Dinge, der Sieger über die Völker, durch unzählige Siege die ganze Welt durchdrungen hat und dabei auch das eigene Blut vergossen hat. Deswegen, hochgeschätzte Brüder, während alle anderen von Natur aus für die Freiheit begeistert sind,

208 Salutati, Staatsbriefe 19 (Langkabel): Magnifici domini, fratres nostri karissimi. Deus benignissimus cuncta disponens et sub immutabilis iustitie ordine nobis incognito res mortalium administrans miseratus humilem Italiam ingemiscere sub iugo abominabilis servitutis suscitavit spiritum populorum et erexit opressos contra fedissimam tirannidem barbarorum. Et, ut videtis, undique pari voto excita demum Ausonia libertatem fremit, libertatem ferro viribusque procurat. Quibus nos requirentibus in tam preclaro proposito ac tam favorabili causa nostra subsidia non negamus.

seid ihr allein aus einer Erbschuld heraus gleichsam rechtlich dazu verpflichtet, euch für die Freiheit einzusetzen.209

Salutati führt die exempla aus der römischen Frühgeschichte als Erläuterung für den

übergeordneten Wert der libertas an. Mit dem Wert ist eine klar umrissene Norm verbunden, die Verhaltensanweisungen dafür gibt, woran sich der Einsatz für libertas im allgemeinen zeigt. Lucretia nimmt als prominentestes exemplum die erste Stelle ein und wird mit dem exemplum der Verginia parallel gesetzt, da hier ebenfalls der Tod einer Frau zum Aufstand gegen ein ungerechtes und tyrannisches Regime führt. Ergänzend führt Salutati dann zwei exempla aus der Zeit an, als der etruskische König Porsenna Rom belagert. Horatius Cocles und Mucius Scaevola zeigen erneut den Widerstand gegen einen Tyrannen, der die Römer ihrer Freiheit berauben will. Wie bei Lucretia und Virginia, die im Interesse der libertas sterben, nehmen auch diese beiden Todesgefahr und Verletzungen in Kauf, um Rom zu verteidigen. Dies gilt auch für die beiden Decier, Publius Decius Mus und seinen Sohn. Der Vater weiht sich während einer Schlacht gegen die Latiner den Göttern, da ihm im Traum für diesen Fall der Sieg versprochen worden ist. Der Sohn folgt seinem Vorbild dann später im Kampf gegen Pyrrhus nach. Beide stürzen sich nach einem einleitenden religiösen

Zeremoniell allein auf die Feinde und erleiden den Freitod. Salutati ordnet die exempla in jedem Satz dem Wert der libertas als Subjekt unter, so daß sie als Illustration und zusätzlicher Beweis eines übergeordneten Wertes erscheinen. Aus den exempla läßt sich dann die

einheitliche Verhaltensnorm entnehmen, die den Wert der libertas einlöst. In allen Fällen unternehmen die Römer einen gewaltsamen Aufstand gegen Gegner, die sie unterdrücken und ihrer Selbstbestimmung berauben wollen, ob es sich nun um die Tarquinier, die Decemvirn, Porsenna, die Latiner oder Pyrrhus handelt. Für ihr Selbstbestimmungsrecht nehmen sie auch den Verlust ihres eigenen Lebens in Kauf. Lucretia opfert sich, um die Männer um Brutus zum Kampf anzustacheln, Virginia wird getötet, um die Macht der Decemvirn zu brechen, und die Decier sterben freiwillig im Kampf, um die Schlacht für Rom zu entscheiden.

Horatius Cocles und Mucius Scaevola überleben zwar, der eine kann sich allerdings erst in letzter Sekunde retten und der andere verstümmelt sich seine Hand, um Porsenna von der Widerstandskraft der Römer zu überzeugen. Da es sich jeweils um dasselbe Muster handelt, abstrahiert Salutati schließlich endgültig von den einzelnen exempla und geht zum dadurch repräsentierten Wert der libertas über, dem Rom seine Macht und Größe zu verdanken hat.

Die exempla und die Schlußfolgerung, die sich daraus ergibt, setzt er dann in Analogie zur Gegenwart. So wie die Römer der Frühzeit müssen sich jetzt auch die heutigen Bürger der Stadt für die libertas einsetzen und unter Gefahr für Leib und Leben um sie kämpfen.

Dadurch erweitert er die Beweiskraft der exempla. Sie führen zunächst eine als universal gültig angesehene Verhaltensweise vor, der nach Salutatis Meinung im Moment ganz Italien folgen muß. Während aber die anderen Städte sich ihr nur aus ihrer Zwangssituation heraus verschreiben, sind die Römer zusätzlich auch aufgrund ihres Nationalcharakters und der Solidarität mit ihrer Vorgeschichte dazu verpflichtet, für die libertas einzutreten. In diesem

209 Salutati, Staatsbriefe 19 (Langkabel): Que cuncta vobis tanquam publice libertatis autoribus ac patribus credimus ad iocunditatem accedere, cum cognoscantur ad maiestatem Romani populi et vestrum naturale propositum pertinere. Hic enim libertatis amor olim Romanum populum contra regiam tirannidem impulit et ad abrogandum imperium decemvirum illam ob compressionem Lucretie, istud ob damnationem Virginie,

concitavit. Hec libertas Oratium Coclitem solum contra infestos hostes ruituro obiecit in ponte. Hec Mutium sine spe salutis in Porsennam immisit et proprie manus incendio stupendum regi omnique posteritati prebuit

admirandum. Hec duos Decios sponte devote morti et gladiis hostium consecravit. Et ut singulos mortales vestre civitatis ingentia lumina dimittamus, hec sola fecit, ut Romanus populus, rerum dominus, victor gentium, innumerabilibus victoriis totum orbem sanguinem etiam suum effundendo peragraverit. Ob quod, fratres karissimi, cum omnes ad libertatem naturaliter incenduntur, vos soli ex debito hereditario quodam iure obligamini ad studia libertatis.

Fall geben die exempla nicht nur eine einfache Wesensbestimmung des Menschen, sondern legen die individuelle Charakteristik einer bestimmten sozialen Gruppe fest. Die Römer sind bereits von Geburt an freiheitsliebend, und ihre Geschichte legt sie auf ganz bestimmte Eigenschaften fest. Die exempla werden so zur Quelle für nationale Stereotype.

Wie in der Declamatio dient die Geschichte der Lucretia als exemplum für das Streben nach libertas. Dort tadeln die Verwandten der Lucretia Sextus für seine Grausamkeit im Krieg gegen Gabii und nennen ihn ausdrücklich einen Tyrannen. Dieselben Verhaltensmuster macht Salutati in seinem Brief an die Römer auch für die Kurie und die Italiener geltend. Jene erscheinen als Sklavenhalter und nimmersatte „Fresser“210, die Italien für ihr eigenes Wohlergehen ausnutzen wollen. Diese dagegen setzen sich gewaltbereit für ihre Unabhängigkeit ein.

Erst nachdem Salutati auf diese Weise den Widerstreit von libertas und Tyrannis als allgemeines Muster aufgebaut und in großen Zügen auf die aktuelle politische Lage

angewendet hat, geht er auch auf die tatsächlichen politischen Optionen der Römer ein. Hier muß er einräumen, daß es eventuell strategische Vorteile für Rom hat, wenn die Kurie wieder in der Stadt ansässig ist. Dabei wird klar, warum er im Vorfeld den Freiheitskampf so

prominent als entscheidendes Argument plaziert hat. Denn nur vor diesem allgemeinen Hintergrund kann er die durchaus verlockenden Angebote der Kurie schmälern. Die

wirtschaftlichen Vorteile, die die Rückkehr der Kurie für Rom bedeuten könnte, sind nichtig im Vergleich zur nationalen Aufgabe der Römer, die sowohl die Unabhängigkeit ihrer eigenen Stadt als auch die ganz Italiens umfaßt:

Möge auch eure redliche Art nicht durch die Schmeicheleien der Kirchenleute verführt werden, von denen wir wissen, daß sie an euch verdeckt und öffentlich herantreten und auf euch einreden, damit ihr den Kirchenstand gerne und bereitwillig unterstützt. Sie bieten an, die päpstliche Kurie nach Italien zu verlegen, und stellen mit großer Worthurerei einen gewissen wünschenswerten Status für die Stadt durch die Ankunft der Kurie in Aussicht.

Schließlich führt dies alles zu der entscheidenden Frage und läuft darauf hinaus: Handelt ihr, Römer, so, daß Italien versklavt, unterdrückt und mit Füßen getreten wird und diese Gallier hier herrschen? Oder kann euch überhaupt etwas als Vorteil vor Augen gestellt werden oder etwas als Lohn gegeben werden, das der Freiheit Italiens vorzuziehen ist?211

Es wird deutlich, daß das Modell der bedrohten libertas gar nicht unbedingt zutrifft und die Römer die Möglichkeit haben, ganz im Gegenteil selbst an Macht und Einfluß zu gewinnen.

In Salutatis Argumentation befindet sich also eine Schwachstelle, die die Schlüssigkeit seiner Darstellung insgesamt gefährdet. Daher wertet Salutati die Angebote der Kurie als

„Worthurerei“ ab. Wie eine Prostituierte, deren äußere Schönheit dem Mann Genuß und Zerstreuung verheißt, aber ihn tatsächlich vom Pfad der Tugend und dem rechten Leben abbringt, lockt auch die Kurie mit leeren Versprechungen, die nie erfüllt werden. Auf metaphorischer Ebene wird hier ein weiterer Punkt aufgegriffen, den Salutati in der

Declamatio behandelt. Denn dort sieht Lucretia in der äußeren Schönheit das Merkmal, das auf voluptas verweisen kann, da Sextus gerade wegen ihrer Schönheit auf sie aufmerksam geworden ist. Die pudicitia der Frau hängt dagegen ganz von einem tugendhaften

210 Vgl. Salutati, Staatsbriefe 19 (Langkabel): Nolite pati per iniuriam hos Gallicos voratores vestre Italie tam

210 Vgl. Salutati, Staatsbriefe 19 (Langkabel): Nolite pati per iniuriam hos Gallicos voratores vestre Italie tam