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Augustin geht von einer heilgeschichtlichen Entwicklung aus, in der das römische Reich durch das Christentum abgelöst wird. So sieht er im Verhalten der Lucretia eine frühere Stufe des menschlichen Verhaltens, die durch die neue christliche Anthropologie überwunden ist.

An die Stelle einer „positiven Anthropologie“, die Werte mit festen und rezeptartig verwendbaren Verhaltensnormen verbindet, tritt mit dem Christentum eine „negative Anthropologie“, die den Menschen auf das einzelne Ereignis festlegt und ihm abverlangt, jeweils neu einen Weg zu den allgemeingültigen Werten zu suchen. Daß diese „negative Anthropologie“ jedoch ganz gegen die Absicht Augustins innerhalb des Christentums wieder durch eine „positive Anthropologie“ ersetzt werden kann, zeigt das Beispiel der Gesta Romanorum aus dem Spätmittelalter. Der heilsgeschichtliche Optimismus Augustins wird also durch die Stoffgeschichte des exemplum der Lucretia nicht eingelöst.

Der anonyme Bearbeiter der Gesta Romanorum funktioniert das exemplum der Lucretia wieder zu einem Beispiel für die Normen einer christlichen Lebensweise um79. Als Ergebnis kommt eine „positive Anthropologie“ zustande, die nicht mehr pagan, sondern jetzt christlich begründet ist. Diese „positive“ christliche Anthropologie entspricht nicht mehr der

„negativen“ christlichen Anthropologie, die Augustin gegeben hatte. Denn jetzt gibt es wieder feste, äußerlich erkennbare Regeln und Normen, an denen sich ablesen läßt, ob sich ein Mensch als richtiger Christ verhält oder nicht.

Paradoxerweise zitiert der anonyme Autor der Gesta Romanorum eingangs sogar Augustin als Quelle für die Geschichte der Lucretia, die er im folgenden wiedergibt80. Er geht aber gar nicht auf seine Deutung der Geschichte ein, sondern präsentiert eine eigene Auslegung, die die einzelnen Ereignisse der Lucretia-Geschichte allegorisiert und Schritt für Schritt zu einer christlichen Verhaltenslehre umdeutet. Wie auch bei den anderen exempla der Gesta

78 Honstetter geht dagegen davon aus, daß Augustin sich in einer Linie mit Valerius Maximus befindet und die Gültigkeit von Normen zwar überprüft, aber nicht völlig aufhebt. Daher grenzt er Augustins Position auch gegen Montaigne ab, der seiner Meinung nach als erster leugnet, daß sich aus den exempla eindeutige Verhaltensmuster ableiten lassen (vgl. Honstetter 1977, S. 202 – 203). Diese Schlußfolgerung steht in Widerspruch zu den

Ergebnissen von Honstetters eigener Interpretation. So kommt auch Honstetter zu dem Ergebnis, daß Augustin eine „radikale Kritik des heidnischen Helden- und Normenkanons“ anstrebt, die über Valerius Maximus hinausgeht, und er dafür eine „Unterscheidung von Exemplum und historischem Ereignis“ einführt (vgl.

Honstetter 1977, S. 200).

79 Vgl. anonym, Gesta Romanorum (Oesterley) Kap. 135. Zum exemplum der Lucretia im Mittelalter vgl.

Galinsky 1932, S. 20 – 39 und Fontanarosa 1999a. Für die Interpretation der Lucretia in den Gesta Romanorum vgl. Galinsky 1932, S. 37 – 38, Klesczewksi 1983, S. 320 – 323 und Fontanarosa 1999a, S. 118 – 119.

80 vgl. anonym, Gesta Romanorum (Oesterley) Kap. 135, 489,25: Refert Augustinus de civitate dei.

Romanorum wird hierfür zunächst eine Zusammenfassung der eigentlichen Geschichte gegeben, auf die dann die allegorische Auslegung folgt81:

Geschätzte Leser, Lucretia, die edle Dame, ist die Seele, die von Gott durch die Taufe gereinigt und mit Gott verbunden ist. Sextus ist der Teufel, der sich bemüht, die Seele durch Drohungen und mit Geschenken zu verletzen. Er betritt ihr Haus, wenn sie einer Sünde zustimmt, nämlich dein Herz, weil es das Haus der Seele ist. Er drückt ihre Brust nieder, wenn der Mensch vollständig zustimmt, und verletzt sie auf diese Weise, weil die Tat unter Zustimmung zum Geschehen begangen wird. Danach ruft Lucretia bzw. die trauernde Seele den Vater und den Ehemann; so mußt auch du, geschätzter Leser, den Vater, d.h. den Beichtvater, und den Ehemann, d.h. Jesus Christus, durch Werke der Barmherzigkeit, und Freunde, d.h. die Heiligen, mit aufrichtiger Frömmigkeit anrufen. Und leg deinen

Lebenswandel durch wahrhaftige Zerknirschung und ehrliches Bekenntnis offen, leg offen, durch was und wie sehr du dich gegen Gott vergangen hast. Und töte dich dann selbst mit dem Schwert der Reue, d.h. vernichte die Laster und Sünden. Und so soll dein Körper nach Rom gebracht werden, d.h. um der heiligen Kirche in einer anderen Form öffentlich oder im Verborgenen präsentiert zu werden, als in der, in der du Gott beleidigt hast. Dann werden der Teufel und alle seine Anhänger vertrieben werden und sich verwirrt zurückziehen, und du wirst gerettet ein aufrechtes Leben führen. Dies ist die Botschaft der Geschichte für uns.82 Aus dem exemplum der Lucretia werden einzelne Punkte herausgegriffen und als Allegorie auf sündhaftes Verhalten und die anschließende Beichte gelesen. Hierfür nimmt der

Bearbeiter einzelne Etappen aus der Geschichte der Lucretia auf und setzt sie jeweils parallel zu seelischen Vorgängen83.

Das richtige Verhalten eines Christen, das der Autor der Gesta Romanorum am exemplum der Lucretia vorführt, ist von festen Normen bestimmt. Die allegorische Lektüre entfernt sich nicht vollkommen vom eigentlichen Thema des exemplum, das vor allem die pudicitia der Frau behandelt. Dieser Wert wird hier zu dem Wert der Reinheit der Seele, die durch Lucretia allegorisch verkörpert wird. In der Folge wird gezeigt, wie es zur Sünde kommen kann und daß sie dann durch Reue wieder neutralisiert werden kann. Sündig wird der Mensch dadurch, daß er sich dem Teufel verschreibt, und Reue zeigt er durch die Beichte, in der er seine Sünden bekennt.

81 Die allegorischen Auslegungen finden sich nicht in allen Handschriften der Gesta Romanorum wieder, und auch die Geschichte der Lucretia ist nicht immer darin enthalten. Hier dient die Ausgabe von Oesterley 1872 als Textgrundlage, die den frühesten Drucken der Gesta Romanorum folgt und in der die moralizaciones enthalten sind. Die Ausgabe von Dick 1890, die verschiedene Handschriften kollationiert, enthält die Lucretia-Geschichte in fast identischer Form, hat aber keine moralizacio. In der Ausgabe von Kompatscher 1997 schließlich, die auf mehreren Innsbrucker Handschriften aufbaut, fehlen beide.

82 anonym, Gesta Romanorum (Oesterley) Kap. 135, 490,12 – 26: Carissimi, lucretia nobilis domina est anima a deo per baptismum lota et deo conjuncta. Sextus est diabolus, qui nititur minis et muneribus animam violare.

Domum ejus intrat, quando peccato consentit, cor tuum, quod est domus anime, pectus ejus opprimit, quando homo totaliter consentit, et sic eam violat, quando manum per consensum actu complet. Post hec Lucrecia scilicet anima dolens vocat patrem et maritum; sic et tu, carissime, debes vocare patrem i.e. confessorem, maritum i. e. Christum per opera misericordie et amicos i.e. sanctos cum bona devocione et ostende vitam tuam per veram contricionem et confessionem, quid et quantum contra deum deliquisti, et tunc gladio penitencie te ipsum occide i.e. vicia et peccata exstirpa et sic corpus deferatur Rome i.e. sancte ecclesie ad ostendendum, in alia forma publice vel occulte quam deum offendisti. Tunc diabolus et omnes sui sequaces erunt expulsi et recedent confusi et tu remanebis salvus in bona vita. Quod nobis.

83 Dadurch, daß der Bearbeiter das exemplum ganz auf Vorschriften für den christlichen Lebenswandel auslegt, die er durch die Allegorese aus der Erzählung gewinnen will, bekommen Details hier eine viel größere

Bedeutung als in der anderen Bearbeitung. So wird die Tatsache, daß Sextus die Brust der Lucretia niederdrückt, um seinen Drohungen Nachdruck zu verleihen, hier zu einem ganz zentralen Punkt. Denn der Autor der Gesta Romanorum deutet es als Bild für das vollständige Eindringen des Teufels in das menschliche Herz.

Dadurch wird das exemplum der Lucretia zu einem Anschauungsobjekt für eine „positive Anthropologie“, die mit wiedererkennbaren und eindeutigen Normen arbeitet, aus denen sich Werte ableiten lassen. Denn diese Auslegung der Lucretia-Geschichte gibt sowohl eine Regel dafür, wie es zur Sünde kommt, als auch ein Rezept dafür, wie der Gläubige seine Schuld sühnen kann. Für den Bearbeiter der Gesta Romanorum verläuft das Leben des Christen in genau definierten Bahnen. Es existieren klare Regeln dafür, wie sich seelische Reinheit erreichen läßt, und es genügt, wenn sich der Gläubige rein äußerlich an diese Vorgaben hält.

Durch die Taufe gilt seine Seele grundsätzlich als rein, und ob ein Mensch Christ ist, läßt sich auf diese Weise eindeutig feststellen. Zwar kann die Reinheit der Seele dadurch gefährdet werden, daß er sich trotz der Taufe sündhaft verhält. Wenn er aber zur Beichte geht und seine Schuld aufrichtig bekennt, gilt seine Seele wieder als gereinigt.

2.3. Lucretia in der Renaissance

Das Konzept einer „negativen Anthropologie“, das Montaigne vorlegt, kann man als Gegenbewegung zur humanistischen Gelehrsamkeit seiner Zeit auffassen. Seine Essais entstehen zu einer Zeit, in der die humanistischen Forschungen in Europa, die im 14.

Jahrhundert in Italien ihren Anfang nehmen, einen Höhepunkt an Wirkung und

Verbreitungsgrad erreichen. Während die ersten Humanisten noch damit befaßt sind, die antiken Texte in alten Handschriften wiederaufzufinden und sie auf Informationen hin zu sichten, die sie dann in eigene Handbücher übertragen und bekannt machen, sind diese Informationen im 16. Jahrhundert in ganz Europa weit verbreitet und gehören nun zum Allgemeingut. Neben der Übersetzung der meist lateinischen Werke in die europäischen Nationalsprachen trägt hierzu vor allem der Buchdruck bei, durch den die Texte in größerer Stückzahl zugänglich gemacht werden können84. Die exempla werden auch jetzt noch wie zu Beginn der Forschungen als Quelle für allgemeingültige und verbindliche Verhaltensnormen angesehen, die sich auf jede beliebige Situation anwenden lassen und einen Grundbestand an menschlichen Eigenschaften vorführen. Mit dem großen Verbreitungsgrad wird dies

allerdings zunehmend problematisch. Denn nun scheint das gesamte menschliche Leben in einem Ausmaß, das zuvor nicht gegeben ist, von den exempla und sofort verfügbaren Normen bestimmt zu sein, die darin veranschaulicht sein sollen.

Diese Fülle an rezeptartigen Verhaltensregeln, die aus den bekannten und oft benutzten exempla abgeleitet werden, ist bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts gegeben. Entsprechend gibt es auch schon lange vor Montaignes Essais Bearbeitungen des Lucretia-exemplum, die die Aussagekraft der Normen in Frage stellen, die mit ihm gewöhnlich verbunden werden.

Dies gilt besonders für Bearbeitungen in der bildenden Kunst aus der ersten Hälfte des 16.

Jahrhunderts. Sie nehmen eine weitverbreitete zeitgenössische Ikonographie auf, die den Selbstmord der Lucretia als Ausweis ihrer pudicitia deutet, und zeigen Widersprüche innerhalb dieses vorgeblich eindeutigen Konzepts auf. So geben auch sie im Ansatz eine

„negative Anthropologie“. Sie bleibt freilich weiterhin in Bearbeitungen eingebettet, die der eingebürgerten „positiven Anthropologie“ folgen, gegen die sie aufbegehren. Zudem wird auch diese ikonographisch arbeitende Form der „negativen Anthropologie“ wie schon Augustins anthropologisches Modell schließlich wieder positiv umgedeutet. Die kritischen Interpretationen des Lucretia-exemplum führen also auch in der bildenden Kunst des 16.

Jahrhunderts nicht zu einer generellen Änderung der moralischen Reflexion und stehen weiterhin in einem Spannungsverhältnis zur „positiven Anthropologie“, das sich zu keiner der beiden Seiten hin auflösen läßt.