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Barthold Georg Niebuhr: „Römische Geschichte“

Auch für Niebuhr gibt es eine aktuelle Situation, auf die er sich mit seiner Kritik der exempla bezieht. Die exempla aus der römischen Geschichte werden während der französischen Revolution vielfach als Legitimation für das eigene Handeln aufgerufen114. So wird der Sturz der Tarquinier als Parallele zur Revolution gedeutet. Und Brutus, der als Konsul seine eigenen Kinder hinrichten läßt, weil sie an einer Verschwörung gegen die junge Republik beteiligt sind, läßt sich mit dem Regiment der Republikaner nach der Revolution vergleichen. Beide Male ist das Eintreten für die libertas an bestimmte Normen gekoppelt, an denen sie sich erkennen läßt und die vorschreiben, wie sie gesichert werden kann. Das exemplum der Lucretia gibt in dieser Deutung eine direkte Anleitung zur Revolution. Es zeigt, daß sich die libertas nur durch einen gewaltsamen Umsturz erreichen läßt und keine persönlichen Opfer gescheut werden dürfen, um sie aufrechtzuerhalten. Diese Normen erscheinen überzeitlich gültig, und der Rückblick auf die römische Geschichte kann das aktuelle Vorgehen der Revolutionsanhänger legitimieren.

113 Erst diese zweite Auflage ist die endgültige Fassung. Die erste Auflage besteht aus zwei Bänden, von denen der erste 1811 und der zweite 1812 erscheint. Die Edition der überarbeiteten Fassung, die jetzt drei Bände umfaßt, verläuft in mehreren Etappen. Der erste Band erscheint 1827, wird dann ein weiteres Mal umgearbeitet und erscheint 1828 in dritter Auflage nochmals neu. 1830 folgt der zweite, 1832 der dritte Band. Im folgenden wird die Ausgabe von Meyer Isler aus den Jahren 1873 – 1874 zugrunde gelegt, die den Text der jeweils letzten Fassung aller drei Bücher wiedergibt. Zu Niebuhr allgemein vgl. Heuß 1985 und Walther 1993. Zur „Römischen Geschichte“ und der zeitgenössischen Kritik daran vgl. Bridenthal 1972.

114 Vgl. Briese 1992, S. 409.

Um diese vorgeblich allgemeingültigen Verhaltensweisen zurückzuweisen, nutzt auch Niebuhr die antiken exempla. Er weist nach, daß die Normen, die mit Brutus und Lucretia verbunden werden, gar nicht zutreffen können. Sie basieren vielmehr auf verfälschten

Informationen über die historischen Ereignisse, und in Wirklichkeit hat sich der Wechsel von der Königszeit zur frühen Republik ganz anders abgespielt. Wo die verfälschten Quellen eine gewaltsame Revolution sehen, ist ganz im Gegenteil friedlich die Verfassungsform der Monarchie durch die Republik ersetzt worden. Daher können aber auch die Normen, die man gemeinhin aus dem exemplum ableitet, gar nicht allgemeingültig sein. An ihre Stelle setzt Niebuhr eine eigene Form der „negativen Anthropologie“. Ihr zufolge gibt die Geschichte nur insofern ein Beispiel, als daß sie zeigt, wie jemand ausgehend von der eigenen historischen Situation einen Wert zu erreichen versucht. In der eigenen, ganz anderen Zeit und unter den dort vorliegenden Umständen sind entsprechend ganz andere Verhaltensweisen nötig, die sich der Mensch jedoch selbst erst setzen muß.

Wie Augustin und Montaigne gründet auch Niebuhr seine „negative Anthropologie“ auf der Kritik der exempla, und er wendet dieselben Verfahren an, um den festgefügten Bestand an Verhaltensregeln zu zerstören, mit denen sie identifiziert werden. In erster Linie weist er auf Widersprüche innerhalb der exempla selbst hin, die er durch eine genaue Lektüre der

Quellentexte entdeckt. Es findet sich jedoch auch die Technik, weitere antike Aussagen gegen die eine Interpretation des exemplum auszuspielen, die auf eine „positive Anthropologie“

zielt, und sie als Beleg für die eigenen Thesen anzuführen. Niebuhr organisiert seine

Auseinandersetzung mit dem exemplum der Lucretia ähnlich wie Augustin. Zuerst schildert er in einem Kapitel „L. Tarquinius der Tyrann, und die Zeit der Verbannung der Tarquinier“115 ausführlich alle Ereignisse, die in den antiken Quellen traditionell mit der Regierungszeit des Tarquinius Superbus verbunden werden. Erst dann folgt ein eigenes Kapitel mit dem

„Commentar über die Sage vom lezten Tarquinius“116, in der die einzelnen Ereignisse einer Kritik unterzogen und die Aussagen der Quellen daraufhin überprüft werden, inwieweit sie die tatsächliche Situation wiedergeben.

Niebuhrs erklärtes Ziel, die tatsächliche Situation zu rekonstruieren, bestimmt schon seine Darstellung der Ereignisse. Dies macht er in der Einleitung seines Kommentars deutlich, in dem er Rechenschaft über die Prinzipien gibt, an denen er sich bei seiner Erzählung orientiert.

Er versucht, sich sprachlich und inhaltlich an die erste und ursprüngliche Fassung der Erzählung anzunähern, die nicht erhalten ist und nur aus den späteren und noch heute zugänglichen Texten erschlossen werden kann. Niebuhr geht davon aus, daß die Königszeit ursprünglich in einer einzigen Erzählung vorlag und jeder König in einem eigenen Text behandelt wird117. Den Stil dieser Quelle soll auch Niebuhrs eigene Darstellung treffen:

Ich habe die Sage von des lezten Königs Herrlichkeit und Fall so schmucklos erzählt, wie sie sich in jenen unberedten Annalen gefunden haben wird, deren Dürftigkeit Cicero zu

verpflichten schien, und Livius bewog, die römische Geschichte reich zu kleiden. [...] Wäre eine ganz einfache Erzählung von Fabius oder Cato erhalten, so würde ich sie nur übersezt,

115 Vgl. Niebuhr, Römische Geschichte I, S. 400 – 419.

116 Vgl. Niebuhr, Römische Geschichte I, S. 419 – 426.

117 Niebuhrs Liedtheorie ist in der ersten Fassung der „Römischen Geschichte“ noch viel prominenter ausgeführt.

In Niebuhrs Argumentation spielt dort die Geschichte der Lucretia ein besondere Rolle, da er Zitate aus dem livianischen Text der Geschichte als Beleg für die ursprünglich poetische Form der Erzählung heranzieht. So sind für Niebuhr die Worte, mit denen Sextus die Lucretia bedroht, Tace Lucretia, Sextus Tarquinius sum, im Metrum des altrömischen Saturnier-Verses verfaßt (vgl. Galinsky 1932, S. 187 – 189 und Bridenthal 1972, S.

198).

zu ihr die Ueberreste andrer Erzählungen gesammelt, und damit einen Commentar verbunden haben, wie ich ihn nun für meinen eigenen Text schreibe.118

Als Gewährsmänner für die Form der Darstellung, die Niebuhr wählt, nennt er antike Autoren, deren Urteile über die römische Historiographie er paraphrasiert. Wie Montaigne und Augustin wendet er aber die Zitate antiker Autoren gegen die Antike und ihre Autoren selbst. Denn Cicero und Livius, aus denen er die Definition des richtigen Stils gewinnt, grenzen sich an den Textstellen, auf die Niebuhr anspielt, gerade von dem Stil der Annalisten ab, der die Geschichtsschreibung vor ihrer Zeit bestimmt hat. Cicero, der in De legibus eine kurze Geschichte der römischen Geschichtsschreibung gibt, geht die chronologische Abfolge von den Priesterannalen über die älteren Annalisten bis zu den mittleren Annalisten nur durch, um den Stil dieser Schriften zu tadeln:

Wenn Du nun nach den Annalen, die die Priester führten – und nichts kann dürftiger

(ieiunius) sein als sie – zu Fabius oder Cato, den Du immerzu erwähnst, oder zu Piso oder zu Fannius oder zu Vennonius gelangst: zugegeben, unter ihnen haben einige mehr Energie als andere, aber was ist sonst noch so trocken (tam exile) wie all diese da?119

Cicero grenzt sich deutlich von den Annalisten ab, die er als Beispiele heranzieht, und will die archaische Schreibweise der Vorgänger durch rhetorische Technik überwinden. Auch Livius stellt sich in diese Linie, wenn er in seiner praefatio beiläufig auf die bisherige Entwicklung der römischen Geschichtsschreibung eingeht. Eingekleidet in eine captatio benevolentiae, in der er den Erfolg seines Unternehmens zu bezweifeln vorgibt, verweist er auf die bisherigen Bemühungen der römischen Geschichtsschreibung:

Ob ich etwas tue, was die Mühe lohnt, wenn ich die Angelegenheit des römischen Volkes von Anbeginn der Stadt an ausführlich aufzeichne, weiß ich nicht recht [...]. Denn ich sehe, daß es ein alter und vor allem ein allbekannter Stoff ist, indem immer neue Schriftsteller entweder in der Sache etwas Genaueres beizubringen oder durch ihre Darstellungskunst (arte scribendi) die unbeholfene alte Zeit zu übertreffen glauben120.

Die Entwicklung ist für Livius vor allem dadurch gekennzeichnet, daß sich ein verfeinerter Stil herausbildet und sich das Darstellungsvermögen steigert.

Niebuhr tritt nicht seinerseits erneut in diesen Wettbewerb der Geschichtsschreiber ein, sondern wendet sich gegen die ästhetischen Urteile, von denen Cicero und Livius sich leiten lassen. Er will die beiden gerade dadurch überbieten, daß er die Verzerrungen rückgängig macht, zu denen der Schwerpunkt führt, den Cicero und Livius bei der literarischen

Ausschmückung setzen. Als neues Ziel der historischen Darstellung definiert er stattdessen die Einfachheit der ursprünglichen Quelle. Entsprechend gewinnt er aus der Textstelle in De legibus gerade die Anweisungen dafür, wie die ursprüngliche Quelle, der er nahe kommen will, wohl ausgesehen haben mag. Sie muß „schmucklos“, „unberedt“, „dürftig“ und

„einfach“ sein, alles mehr oder weniger freie Übersetzungen von ieiunus und exilis.

Außerdem nutzt er Ciceros Angaben, um zwei Namen von Gewährsmännern für den Stil angeben zu können, den er bei seiner Schilderung der Lucretia wählt, nämlich Fabius Pictor,

118 Niebuhr, Römische Geschichte I, S. 419.

119 Cicero, De legibus I,6: Nam post annalis pontificum maximorum, quibus nihil potest esse ieiunius, si aut ad Fabium aut ad eum qui tibi semper in ore est Catonem, aut ad Pisonem aut ad Fannium aut ad Vennonium venias, quamquam ex his alius alio plus habet virium, tamen quid tam exile quam isti omnes?

120 Livius, Ab urbe condita praef. 1 – 2: Facturusne operae pretium sim si a primordio urbis res populi Romani perscripserim nec satis scio […]. quippe qui cum veterem tum volgatam esse rem videam, dum novi semper scriptores aut in rebus certius aliquid allaturos se aut scribendi arte rudem vetustatem superaturos credunt (deutsche Übersetzung nach Hillen 1997, S. 7).

den ersten römischen Historiker des späten 3. Jahrhunderts v. Chr., der noch die griechische Sprache wählt, und den älteren Cato, der im 2. Jahrhundert v. Chr. schreibt.

In seinem eigentlichen Kommentar führt Niebuhr drei Kritikpunkte zur Lucretia-Geschichte an, der der eigentliche Kern der Geschichte zum Opfer fällt, nämlich Vergewaltigung und Selbstmord der Lucretia. Niebuhr kritisiert die Lucretia-Geschichte allerdings nur indirekt, indem er andere, nebensächlichere Momente der Handlung als unwahr erweist. Ohne sie hat aber auch die Erzählung von Lucretias Selbstmord keine Gültigkeit mehr. Er bildet das unsichtbare Zentrum seiner Argumentation und ist das eigentliche Ziel seiner Angriffe.

Zunächst richtet sich Niebuhrs Kritik gegen die Szene, in der sich die Verwandten der Lucretia gegen die Tarquinier verschwören. Den antiken Quellen zufolge kommen Lucretias Vater Sp. Lucretius, ihr Ehemann Collatinus, ihr späterer Rächer Brutus und Valerius als Freund des Lucretius nur durch Zufall zusammen. Der Entschluß zur Verschwörung scheint dann aus dem Moment heraus getroffen zu werden. Für Niebuhr sind diese vier Beteiligten dagegen lediglich Stellvertreter der vier Interessensgruppen, von denen der Wechsel der Regierungsform ausgeht. Als wahrer Kern des tatsächlichen Ereignisses sind nur ihre Namen in der Überlieferung bewahrt, während der Rest spätere Ausschmückung und Umdeutung des Geschehens ist. Für diese Interpretation zieht Niebuhr verschiedene Informationen aus

unterschiedlichen antiken Textquellen heran, die er neu kombiniert. Zunächst nimmt er eine Information über die drei römischen Tribus auf, die Romulus benannt hat und in denen die drei Völker organisiert sind, aus denen sich die Bewohner Roms zusammensetzen. Dies sind erstens die Ramnenses, der latinische Teil, nach Romulus benannt, die Luceres, der

etruskische Teil, und die Titienses, der sabinische Teil, nach seinem König Titus Tatius benannt. Dann fügt Niebuhr noch weitere Angaben hinzu, aus denen sich die Zuordnung der vier Beteiligten zu den Tribus ergibt und von denen aus der wahre Kern der Überlieferung wieder erschlossen werden kann:

Dass Sp. Lucretius mit P. Valerius, Collatinus mit Brutus, in das entweihte Haus kommen, und zusammen die Verbannung der Tyrannen beschwören, hat allen Schein einer

historischen Handlung; und dennoch ist dieser „Schwur der vier Römer“ nur Darstellung der Eintracht der drey patricischen Stämme und der Plebs: obwohl ich mitnichten gemeynt bin zu bestreiten dass eben die genannten vier Männer ihre Stände vertreten haben mögen, jeder den seinigen, – dass sie vielleicht bis zur Anordnung des Consulats der Republik vorstanden.

Valerius steht für den sabinischen Stamm: dass Lucretius den Ramnes angehörte erhellt schon daraus dass nach der Rechtstradition die Lictoren von Valerius an ihn als den

vornehmeren übergingen. Aber es folgt noch bestimmter aus seinem Amt als Vogt der Stadt, welches mit der Würde des ersten Senators verbunden war: dieser aber war der erste unter den zehn Ersten der Ramnes: und Lucretius deshalb Interrex. Collatinus, als Tarquinier, war von den Luceres, und Brutus Plebejer.121

Hier verwendet Niebuhr die Technik, weitere antike Zitate gegen die traditionelle Deutung des Lucretia-exemplum auszuspielen. Er versammelt verschiedene Informationen aus anderen

121 Niebuhr, Römische Geschichte I, S. 424. Für die Angaben zu den drei Tribus vgl. Livius, Ab urbe condita I,13,8. Daß die Lictoren von Valerius an Lucretius übergehen, entnimmt Niebuhr aus Cicero, De re publica II,54, und die Angabe, daß Lucretius praefectus urbis, „Stadtvogt“, ist, steht bei Livius, Ab urbe condita I,59,12.

Niebuhrs Annahme, daß der Sturz der Königsherrschaft Ergebnis eines geregelten Plans ist, ist auch durch die Darstellung des Lucretia-exemplum bei Dionys von Halikarnass angeregt. Zwar begeht Lucretia auch in dieser Fassung Selbstmord und gibt damit den Anlaß zum Umsturz. Dionys läßt aber die beteiligten Verwandten vorab eine lange Diskussion darüber führen, welche Verfassungsform für Rom die beste ist und wie sie sich erreichen läßt (vgl. Dionys von Halikarnass, Antiquitates Romanae IV, 69 – 76). Dadurch wird bereits nahe gelegt, daß es sich beim Verfassungswechsel um einen vollständig geplanten Übergang handeln könnte, der den Selbstmord der Lucretia nur als Vorwand benötigt.

Quellen, die die Ereignisse rund um Lucretias Selbstmord in neuem Licht erscheinen lassen.

Indem Niebuhr diese Informationen kombiniert, entdeckt er ganz andere Zusammenhänge, die den traditionellen Kern der Geschichte in Frage stellen. Durch die Rekonstruktion, die die neu beigebrachten Zitate ermöglichen, wird die bisherige Fassung unwahrscheinlich. Denn nun ist es nicht mehr der Selbstmord der Lucretia, der zu einer spontanen Verteidigung der Freiheit gegen den König auffordert, sondern eine Absprache zwischen den Vertretern von vier Ständen, die zum Ende der Königsherrschaft führt. Valerius wird zum Vertreter der Titienses, Lucretius zu dem der Ramnenses, Collatinus, mit Tarquinius verwandt, wird zu dem der Luceres, und Brutus steht für die neu hinzugekommene Gruppe der Plebejer. Sie sind Niebuhr zufolge alle interreges, die den Übergang von Königsherrschaft zum Consulat regeln. Eine Revolution aber, an deren Ende die Vertreibung der Könige steht, hat nie stattgefunden, denn schließlich ist mit Collatinus ein Vertreter der Tarquinier in die Übergangsregierung

aufgenommen.

Mit der Rekonstruktion der tatsächlichen Ereignisse weist Niebuhr gleichzeitig auch die vorgeblich allgemeingültigen Normen zurück, für die der Selbstmord der Lucretia und die Vertreibung der Könige in Anspruch genommen werden. Hinter der Kritik wird bereits das eigentliche Prinzip deutlich, das geschichtliche Abläufe für Niebuhr bestimmt. Aus ihnen lassen sich nicht allgemeingültige Normen und Werte ableiten, sondern sie stehen für individuelle historische Ereignisse, in denen die beteiligten Personen situationsgebunden Entscheidungen treffen müssen, ohne sich an eindeutigen Vorgaben orientieren zu können.

Niebuhrs zweiter Kritikpunkt befaßt sich mit dem angeblichen Waffenstillstand, auf den sich Brutus nach der Vertreibung der Tarquinier mit der Stadt Ardea einigt. Auch hier zielt er mit der Diskussion einer Nebensächlichkeit auf die Geschichte der Lucretia als Hauptsache. Denn schließlich nimmt die gesamte Geschichte der Lucretia ihren Ausgang im Lager vor Ardea, wo sich Collatinus mit den Königssöhnen auf die Wette einläßt, wessen Frau die

tugendhafteste ist. Mit der Information, daß Rom sich im Jahre 509 im Krieg mit Ardea befindet und ihn schließlich beilegt, steht die gesamte Erzählung der Lucretia in Frage. Daß sie der eigentliche Gegenstand seiner Untersuchung ist, legt Niebuhr einleitend offen:

Die Geschichte von Lucretias Unglück und der Verweisung der Tarquinier ist nothwendig mit dem Lager von Ardea verbunden. Da nun das ardeatische Volk in dem Vertrag der ersten Consuln mit Karthago als eine Rom unterthänige latinische Stadt geschüzt wird, so kann die Angabe: dass im Augenblick der Revolution ein funfzehnjähriger Stillstand mit ihnen geschlossen sey, – nicht bestehen; und nur mit Willkührlichkeit, die sich eben diejenigen erlauben welche das historische in jenen Sagen behaupten wollen, liesse sich der Krieg selbst retten: durch die Annahme, mit dem Stillstand sey es zwar falsch, doch möchte Rom in der Zwischenzeit Ardea zur Unterwerfung gezwungen haben.122

Diesmal deckt Niebuhr Widersprüche innerhalb des Lucretia-exemplum auf und erschüttert so die Glaubwürdigkeit der gesamten Erzählung. Hierzu zieht er zu der bekannten Hauptfassung der Erzählung eine zusätzliche Information zu dem Krieg mit Ardea heran. In einem Exkurs zum Verhältnis zwischen Karthago und Rom gibt Polybios den Text des ersten Vertrags wieder, den die beiden Städte miteinander schließen. Er soll von Brutus während seiner Zeit als Konsul abgeschlossen worden sein und führt Ardea unter den Städten, die Rom zu dieser

122 Niebuhr, Römische Geschichte I, S. 425. Für die Angabe zu einem fünfzehnjährigen Waffenstillstand, den Rom nach der Vertreibung des Königs mit Ardea abschließt, vgl. Dionys von Halikarnass, Antiquitates Romanae IV,85,4. Als Quelle dafür, daß Ardea zur Zeit des angeblichen Sturzes der Königsherrschaft bereits als

untertänige latinische Stadt gilt, weist Niebuhr selbst in den Fußnoten auf Polybios, Historiae III,22,11, hin. Hier wird die Stadt im Rahmen eines ersten Vertrags zwischen Rom und Karthago genannt, den auf römischer Seite angeblich L. Junius Brutus als Konsul verantwortet.

Zeit bereits unterstellt sind. Ein Krieg in diesem Jahr, an den sich dann eine

Waffenstillstandsvereinbarung anschließt, erscheint unwahrscheinlich. Dies wirkt zurück auf die Glaubwürdigkeit des Lucretia-exemplum, in dem der Krieg mit Ardea ein zentraler Bestandteil ist. Daran kann auch eine Hilfskonstruktion, die beide Informationen miteinander in Einklang zu bringen versucht, nichts mehr ändern.

Niebuhrs dritter Kritikpunkt befasst sich vordergründig mit der Angabe, daß Collatinus nach dem Sturz des Tarquinius nur kurzzeitig Consul sein kann, da das Volk keinen Tarquinier mehr an der Spitze der Stadt sehen will. Er muß deswegen sein Amt niederlegen und wurde wie alle Tarquinier aus Rom verbannt123. Auch hier zielt Niebuhrs Kritik eigentlich auf die Geschichte der Lucretia, deren Gültigkeit sich auf dieser Grundlage bestreiten läßt:

Es ist empörend bis zur Unglaublichkeit dass Lucretias Tod, wenigstens als Bürgschaft, den Gemahl, vielleicht Kinder, nicht von Verbannung befreyte: und die Gemeinpläze von ungerechtem republikanischem Argwohn, womit man sich schon vor fast neunzehnhundert Jahren zu helfen suchte, würden die Schuld des Volkes nicht vermindern. Wie aber, wenn Collatinus Vermählung mit der Tochter des Tricipitinus nur ersonnen wäre, um die Ernennung eines Tarquinius zum Consulat begreiflich zu machen, ja zu entschuldigen?124 Hier findet sich auch das dritte Verfahren wieder, mit dem Montaigne und Augustin die exempla kritisieren, nämlich der Vergleich mit der Wirklichkeit. Niebuhr argumentiert mit dem gesunden Menschenverstand, um die Überlieferung zurückzuweisen. Es könne einfach nicht wahr sein, daß ein Volk einen Mann verbannt, obwohl er seine Frau verloren hat. Dabei bleibt die Fassung des Lucretia-exemplum in der bekannten Form intakt. Niebuhr stellt jedoch die Glaubwürdigkeit dieser Erzählung in Frage, indem er sie nochmals neu überdenkt und einen Bruch im Erzählfluß aufdeckt.

Niebuhr begnügt sich nicht damit, den Bruch aufzuzeigen, sondern versucht auch eine Erklärung. Hierfür greift er auf seine Grundannahme zurück, daß die ursprüngliche Quelle, die von der Königszeit des Tarquinius Superbus berichtet, von späteren Bearbeitern bewußt

Niebuhr begnügt sich nicht damit, den Bruch aufzuzeigen, sondern versucht auch eine Erklärung. Hierfür greift er auf seine Grundannahme zurück, daß die ursprüngliche Quelle, die von der Königszeit des Tarquinius Superbus berichtet, von späteren Bearbeitern bewußt