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Heinrich Aldegrever: „Tarquinius und Lucretia”

Pencz fügt in seiner Bearbeitung des exemplum der Lucretia neue Elemente in das

traditionelle ikonographische Muster der Bilderzählung ein. Aus dem neuen Typ der isolierten Lucretia übernimmt er die starke Betonung der Nacktheit. Nicht nur Lucretia, die sich

schlafen gelegt hat, wird unbekleidet gezeigt, sondern auch Sextus erscheint bereits nackt vor ihr. Dadurch wird in der Vergewaltigungsszene die sexuelle Spannung noch deutlicher betont, von der das Aufeinandertreffen der beiden bestimmt ist. Zusammen mit dieser Neuerung stellt Pencz auch die Normen in Frage, die in der Ikonographie der isolierten Lucretia für voluptas und pudicitia aufgestellt werden, und läßt Lucretia zwischen beiden schwanken. Das neue Element, das Pencz in die Ikonographie der Vergewaltigung der Lucretia einführt, kann jedoch auch wieder von der Kritik an festen Verhaltensregeln abgelöst werden, die er damit verbindet. Dann wird der Ansatz zu einer „negativen Anthropologie“, die er dadurch

formuliert, wieder zurückgenommen und in eine Darstellung umgewandelt, die wieder eine

110 Daß sich Pencz im Gegensatz zu Cranach dafür entscheidet, die Widersprüche in Lucretias Verhalten offen zu zeigen, könnte mit seinem sozialen Umfeld zusammenhängen. Die kleinformatigen Kupferstiche, die Pencz wie auch einige andere deutsche Künstler zu dieser Zeit erstellen, sind ein bürgerliches Pendant zu den Gemälden Cranachs, die für den Wittenbergischen Hof und sein Umfeld entstehen. Die Kupferstiche werden in Bücher geklebt und antworten in kleinerem Umfang auf dasselbe erotische Interesse, das auch die Kundschaft von Cranach hat (vgl. Goddard 1988b, S. 18 – 23). Anders als Cranach, der seine freizügigen Darstellungen weiter in eine feste „positive Anthropologie“ einbindet und moralisch eindeutig bewertet, kann es sich Pencz offenbar bei seinen Kunden viel eher leisten, auf diese Festlegung zu verzichten. Während Cranach die Spannung zwischen voluptas und pudicitia nur andeutet, die sich aus den Nacktdarstellungen der Lucretia unweigerlich ergibt, spielt Pencz sie voll aus.

„positive Anthropologie“ veranschaulicht, in der die Rollen klar verteilt sind. Dies läßt sich an einem Kupferstich von Heinrich Aldegrever zeigen (Abb. 7)111.

Aldegrevers Kupferstich zeigt nur die Szene der Vergewaltigung. Daß er sich dafür auf den ersten der beiden Stiche von Pencz bezieht, macht er im Bild selbst deutlich. Am rechten unteren Bildrand ist eine Steintafel gegen das Treppchen gelehnt, das sich vor dem Bett der Lucretia befindet. Hierin ist Aldegrevers Monogramm AG und das Jahr 1539 eingraviert, in dem er den Kupferstich erstellt. An der Holzwand dahinter ist das Monogramm PG

eingeschnitzt, das Georg Pencz benutzt. Durch die räumliche Beziehung, in die Aldegrever die beiden Monogramme setzt, kann er sowohl die zeitliche Abfolge als auch die inhaltliche Abhängigkeit veranschaulichen, in der sein Stich zu dem von Pencz steht. Die Arbeit von Pencz bildet die Vorlage, auf der Aldegrever aufbauen kann. Aus der im Bild selbst

markierten intertextuellen Beziehung ergibt sich jedoch nicht gleichzeitig auch eine identische Aussage.

Aldegrever übernimmt zahlreiche Elemente aus dem Kupferstich von Pencz. Dies gilt vor allem für die Anordnung der beiden Figuren. Sextus und Lucretia sind auch bei ihm gänzlich nackt dargestellt. Wie bei Pencz kommt Sextus von links auf das Bett der Lucretia zu, das in der Bildmitte plaziert ist, und tritt mit seinem linken Fuß bereits auf eine Treppe, die ihn in das Bett führt. Die Treppe ist am unteren Ende ganz ähnlich verziert wie der Bettkasten, den Pecnz vor dem Bett der Lucretia zeigt, und auch hier ist ein Nachttopf darunter zu sehen.

Ansonsten überwiegen aber die Unterschiede. So macht Aldegrever deutlich, daß Sextus angriffslustig und zu allem bereit ist und als ungebetener Eindringling bei Lucretia erscheint.

Während er sein Schwert bei Pencz nachlässig trägt, defensiv nach unten hält und von

Lucretia weg wendet, zeigt es bei Aldegrever nach oben und ist auf Lucretia gerichtet. Sextus nutzt es also eindeutig als Waffe, um Lucretia zum Geschlechtsakt zu zwingen. Seine andere Hand dient ihm auch nicht wie bei Pencz dazu, Lucretia vertraulich zu umarmen. Er packt damit stattdessen ihren Oberarm, den sie verzweifelt aus seinem Griff befreien will.

Schließlich zeigt Aldegrever auch den Penis des Sextus, der in diesem Kontext die Bedrohung, der Lucretia ausgesetzt ist, zusätzlich herausstellt.

Daß es sich eindeutig um eine Vergewaltigung handelt, ergibt sich jedoch vor allem aus dem Verhalten der Lucretia. Aldegrever zeigt sie nicht mehr ruhig liegend im Bett, sondern in hektischer Bewegung. Sie ist mit ihrem linken Bein bereits aus dem Bett gestiegen und zieht das rechte gerade nach. Mit der linken Hand stützt sich zusätzlich vom Bettrand ab. Lucretia will dem auf sie einstürmenden Sextus entfliehen und nach rechts ausweichen. Sextus hat sie jedoch an ihrem rechten Oberarm gepackt, den sie verzweifelt aus seinem Klammergriff herauszuwinden versucht. Ihr Gesicht ist schmerzverzerrt und zeigt die plötzliche Angst und das Erschrecken darüber, daß Sextus in ihrer Schlafstube erschienen ist.

Auch durch den Aufbau der Szene unterstreicht Aldegrever, daß es sich hier um eine Vergewaltigung handelt. Hierfür entfernt Aldegrever die Schauöffnung, in der Pencz die Vergewaltigungsszene zeigt und die den Betrachter auf Distanz zum Geschehen hält. Bei Pencz kann der Betrachter die Darstellung eingehender betrachten und die

Widersprüchlichkeiten entdecken, in die sich Lucretia und Sextus verwickeln. Aldegrever zieht den Betrachter dagegen mitten ins Geschehen. Er macht Lucretia zu einem Objekt für den voyeuristischen Betrachter, indem er direkt den Blick auf ihren nackten Körper freigibt und sie ganz seinem Blick aussetzt. Lucretia ist frontal und in einer Ganzkörperansicht zu

111 Für den Kupferstich „Tarquinius und Lucretia“ vgl. Bartsch 1980, Aldegrever Nr. 63. Für Aldegrevers Kupferstich im Kontext anderer erotischer Darstellungen bei den deutschen Kleinmeistern vgl. Levy 1988.

sehen. Durch die Stellung ihrer Beine wird ihre Vagina noch zusätzlich exponiert. Daß der Betrachter in eine voyeuristische Position gerückt ist, zeigt Aldegrever zudem noch durch den Vorhang der links und rechts von der Hauptszene den Blick auf den Bildhintergrund öffnet.

Er steht nicht nur dafür, wie sich der Betrachter widerrechtlich Einblick in die Schlafstube der Lucretia verschafft und ihre Privatsphäre verletzt, sondern ahmt die Form einer Vagina nach und macht den Betrachter zum Komplizen des Sextus.

Von Pencz übernimmt Aldegrever den Ansatz, die sexuelle Spannung, von der die Vergewaltigung der Lucretia bestimmt ist, durch die Nacktheit der Figuren deutlicher herauszustellen. Er greift jedoch noch ein weiteres Moment aus dem Bildtyp der isolierten Lucretia auf, das Pencz ignoriert. Aldegrever setzt an die Stelle der Schauöffnung, in der Pencz die Schlafstube der Lucretia zeigt, wieder die Frontalansicht auf ihren nackten Körper, wie sie sich beim Bildtyp der isolierten Lucretia findet. Dies hat zwei Konsequenzen. Erstens wird die Spannung zwischen voluptas und pudicitia, die die Lucretien von Cranach bestimmt, nochmals gesteigert. Auch hier steht ihr anziehender und schöner Körper in scharfem

Gegensatz zu ihrem leidenden Gesichtsausdruck. Nun ist jedoch mit Sextus noch eine Person direkt in das Bild aufgenommen, die Lucretia in die Zwangslage bringt, in der sie zwischen voluptas und pudicitia hin und her gerissen ist. Zweitens gelangt Aldegrever so wieder zu einer eindeutigen Bewertung der Lucretia. Wie bei Cranach ist sie eine keusche Ehefrau, die gegen ihren Willen nur auf ihren schönen und begehrenswerten Körper reduziert wird. Anders als Cranach macht Aldegrever dies nicht durch den Dolch deutlich, den Lucretia gegen ihren attraktiven Körper richtet. Stattdessen ergibt sich ihre pudicitia aus dem Widerstand, den sie Sextus entgegenbringt. Denn er will sie wegen eben dieser Schönheit vergewaltigen und sieht darin gegen ihren Willen eine Aufforderung zur voluptas112.

112 Aldegrevers Stich steht damit am Anfang eines neuen Bildtyps, der noch bis in das 17. Jahrhundert immer wieder Verwendung findet. Er tritt das Erbe der Bilderzählung an, die hier schließlich so weit reduziert ist, daß nur noch die Einzelszene der Vergewaltigung übrig bleibt. Zugleich geht auch der Typ der isolierten Lucretia mit ein, der nur noch kurze Zeit populär bleibt.

Aldegrever wiederholt seinen Kupferstich mit leichten Änderungen nochmals im Jahre 1553 (vgl. Bartsch 1980, Aldegrever Nr. 64). Zusammen mit anderen ungefähr zeitgenössischen Stichen, die dieselbe Szene ganz ähnlich darstellen, dienen diese Kupferstiche Tizian als Vorlage für das in den Jahren 1568 – 1571 entstandene Gemälde zu „Tarquinius und Lucretia“, heute im Fitzwilliam Museum, Cambridge (vgl. Jaffé/ Groen 1987, S. 162 – 165 und Goffen 1997, S. 204 – 207). Tizians Darstellung wird dann prägend für viele weitere Variationen der Vergewaltigungsszene.

2.4. Lucretia im 19. Jahrhundert

Mit Barthold Georg Niebuhr, der in den Jahren 1827 – 1830 seine „Römische Geschichte“

veröffentlicht113, findet sich auch im 19. Jahrhundert ein Vertreter der „negativen Anthropologie“, die sich bei Montaigne und Augustin aufzeigen läßt. Auch hier ist das exemplum der Lucretia eine zentrale Zielscheibe der Kritik. Niebuhr argumentiert gegen die herkömmliche Interpretation, indem er die ursprüngliche historische Situation hinter dem Sturz der Tarquinier zu rekonstruieren versucht. Sie liegt für ihn hinter Verzerrungen verborgen, die gerade dadurch bedingt sind, daß die Ereignisse gewöhnlich nur auf einen feststehenden moralischen Gehalt bezogen werden. Aus dieser Kritik ergibt sich dann auch bei Niebuhr eine „negative Anthropologie“, die ohne die feststehenden Verhaltensvorschriften auskommen soll. Dies gilt für die Figuren und Handlungsträger der Geschichte ebenso wie für den Historiker, der sie untersucht und seinen Lesern präsentiert. Die Menschen der Gegenwart stehen genauso wie die der Vergangenheit in einer ganz individuellen Situation und müssen darin jeweils für sich einen Weg finden, Werte umzusetzen.

Andere Beispiele aus der deutschen Literatur zeigen jedoch, daß Niebuhrs Kritik sich nicht durchsetzen kann. Selbst die Autoren, die direkt auf ihn Bezug nehmen, ziehen seine Überlegungen in Zweifel oder deuten sie wieder zu einer „positiven Anthropologie“ um.

Zudem wird das exemplum der Lucretia im Drama weiter gänzlich unbehelligt für normative Verhaltensvorschriften eingesetzt. Diese Textbeispiele sind darüber hinaus von einer

grundlegenden Skepsis gegenüber den Möglichkeiten bestimmt, die antike Geschichte auf die eigene Erfahrungswelt beziehen zu können. Sie kündigt sich schon bei Niebuhr an, dem vor allem am Historiker und seiner Sicht der Geschichte liegt, nicht mehr am Menschen

überhaupt und dem, was er aus den exempla lernen kann. In den Dramen scheinen die exempla schließlich ganz dem Bereich trockener Gelehrsamkeit anzugehören, aus der keine Brücke ins Leben führt. Die Beispiele zeigen so den Bedeutungsverlust der exempla am Ende ihrer langen Stoffgeschichte.