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Lorenzo Lotto: „Dame als Lucretia”

Ein erstes Gemälde, das mit der Widersprüchlichkeit des Bildtyps spielt, ist Lorenzo Lottos Porträt einer „Dame als Lucretia“, das in den dreißiger Jahren des sechzehnten Jahrhunderts in Venedig entsteht und sich heute in der National Gallery in London befindet (Abb. 4)96. Um die Dame darzustellen, die ein Porträt bei ihm in Auftrag gegeben hat, nutzt Lotto die

ikonographischen Versatzstücke des Bildtyps der isolierten Lucretia, der bei Cranach voll ausgebaut ist. Er setzt sie jedoch gerade dazu ein, um den Kontrast zwischen der Lucretia und seiner Auftraggeberin herauszustellen. Auf den ersten Blick scheint sie ganz wie eine Lucretia dargestellt zu sein. Leichte Abweichungen und Verschiebungen lassen jedoch Zweifel an dieser Interpretation aufkommen. Lucretia verachtet ihre äußere Schönheit, will sie mit dem Selbstmord zerstören und verschreibt sich daher dem Wert der pudicitia. Die Porträtierte gibt sich stattdessen als Prostituierte zu erkennen, die sich nur als Lucretia verkleidet, aber sich ganz im Gegenteil für ein Leben entscheidet, das dem Wert der voluptas folgt97. Wie Cranach spielt Lotto zwar mit der Widersprüchlichkeit zwischen pudicitia und voluptas, durch die sich die Figur der nackten Lucretia auszeichnet, löst sie am Ende aber wieder zu einer eindeutigen Aussage auf. Anders als Cranachs Lucretia, die den Selbstmord als Norm für die pudicitia veranschaulicht, befolgt die Dame, die Lotto porträtiert, die Normen, die für die voluptas gelten.

Die Bildelemente, mit denen die Porträtierte dargestellt wird, sind eng an den Schmuck und die Kleidung angelehnt, die auch die halbfigurigen Lucretien von Cranach tragen. So trägt die Porträtierte einen goldenen Haarkranz, der aus Getreideähren gebunden ist und mit weißen Blüten geschmückt ist. Auch wenn unter dem Kranz ihr echtes und stattdessen braunes Haar zum Vorschein kommt, erinnert der blütenbesetzte Kranz zunächst stark an das blonde Haar der Lucretia, das mit weißen Perlenketten geschmückt ist. Dieser Eindruck wird durch die

96 Lorenzo Lotto, Dame als Lucretia, um 1535, London, National Gallery Nr. 4256.

97 Die Interpretation des Gemäldes ist in der Forschung allerdings umstritten. Die Forschung folgt fast ausnahmslos der Zuschreibung des Gemäldes an eine Lucrezia Valier aus Venedig, die Jaffé 1971 vorschlägt und von Goffen 1999 bestätigt wird, die das Bild ausführlich untersucht und eine Zusammenfassung der zwischenzeitlichen Forschungsergebnisse gibt (vgl. Goffen 1999, S. 746). Diese Forschungsrichtung geht davon aus, daß sich die Dargestellte mit den Werten und Normen identifiziert, die in ihrer Zeit gewöhnlich mit der namensgleichen antiken Lucretia in Verbindung gebracht werden. Goffen räumt allerdings ein, daß dieses Porträt innerhalb des typischen Renaissanceporträts eine Sonderstellung einnehmen muß, da die Dargestellte nicht den zeitgenössischen Benimmregeln folgt (vgl. Goffen 1999, S. 746 – 751). Im Gegensatz dazu schlägt Ost 1981 eine Interpretation vor, die die Porträtierte als Prostituierte deutet und in dem Hinweis auf Lucretia und ihre pudicitia nur einen Kontrast sieht, durch den die voluptas der Dargestellten noch deutlicher herausgestellt werden soll. Ost zieht dafür historische Belegen heran, die von Jaffé übergangen werden, aber in der

Dargestellten eine Prostituierte erkennen lassen, und bringt ikonographische Bezüge vor, die diese Auslegung stützen. Die hier vorgelegte Interpretation folgt in ihren Grundzügen Ost 1981, nimmt weitere Hinweise zur Ikonographie aus Goffen 1999 auf und versucht die Auslegung von Ost durch einen weiteren, bisher

übersehenen Quellenhinweis zu stützen. Denn Lotto spielt auch auf die Ikonographie der isolierten Lucretia an, wie sie in Deutschland vor allem von Cranach vertreten wird.

goldenen Ketten verstärkt, die in den Ausschnitt der Dame gesteckt sind. Unter ihnen fällt besonders eine Kette mit großem Edelstein und einer Perle an der Spitze auf. Ganz ähnlich trägt auch Cranachs Lucretia eine solche goldene Kette, die sie um den Hals gelegt hat. Auch die Kleidung der Porträtierten folgt den Vorgaben der Lucretien, die Cranach malt. Ihr Kleid, das sie über ein weißes Unterkleid gezogen hat, ist rot und grün gestreift und am Oberarm weit aufgebauscht. Ähnliche Elemente finden sich bei den drei Gemälden Cranachs. So entspricht dieses Kleid vor allem dem der Kasseler Lucretia, das ebenfalls mit schwarzen Streifen gemustert ist und am Oberarm weiß aufgebauscht ist. Ein roter Umhang findet sich auch bei der Lucretia aus Helsinki, und das Samtgrün, das Lottos Lucretia zusätzlich trägt, verwendet Cranach zumindest für die Lucretia der Veste Coburg, die zusammen mit dem Pelzmantel in der Ecke auch einen grünen Umhang abgelegt hat. Trotz der Ähnlichkeit bleibt die Dame, die Lotto porträtiert, jedoch auffällig hochgeschlossen. Ihr Kleid ist zwar tief ausgeschnitten, gibt aber keinen Blick auf ihre Brüste frei. Schließlich trägt Lottos Dame auch wie die beiden unbekleideteren Lucretien bei Cranach einen Schleier. Ähnlich wie bei

Cranachs Lucretia aus der Veste Coburg ist er um ihren Körper gelegt. Über der linken Schulter der Porträtierten hängt er noch nach vorne, fällt dann aber hinter ihren Rücken und ist noch hinter der rechten Schulter und dem rechten Arm zu sehen. Anders als bei Cranach hat dieser Schleier eine gelbe Farbe.

Die Abweichungen, durch die sich die porträtierte Dame auffällig von der Lucretia-Darstellung abhebt, die Cranach gibt, verweisen auf den Beruf der Frau, der in direktem Gegensatz zu den Normen steht, für die Lucretia bei Cranach in Anspruch genommen wird.

Die Zitate aus der Lucretia-Ikonographie nutzt Lotto also gerade dazu, um den Kontrast zwischen seiner Auftraggeberin und der Lucretia herauszustellen. Die Normen, die sie befolgt, und der Wert, dem sie sich verschreibt, sind genau das Gegenteil von dem, wofür Lucretia einsteht.

Daß Lucretia nur eine Rolle ist, die die Porträtierte annimmt, ohne sie auch persönlich

ausfüllen zu wollen, zeigt sich bereits am Haarkranz. Er sieht zwar aus wie das perlenbesetzte Haar der Lucretia, ist aber nur eine aufgesetzte Maske. Darunter kommt das echte Haar der Dame zum Vorschein, die gar keine wirkliche Lucretia ist. Was sie stattdessen ist, machen die Accessoires deutlich, die ihr beigegeben sind und die nur scheinbar denen der Lucretia

entsprechen. Schmuck in den Ausschnitt einer Dame zu stecken, gilt in Lottos Zeit als Form, einer Prostituierten ihren Lohn zu zahlen98. Auch der gelbe Schleier, den sie um ihren Rücken herum drapiert hat, weist auf ihren Beruf, denn die Farbe gelb verweist in der Zeit Lottos auf einen unehrenhaften Beruf wie den der Prostituierten99. Ähnliches gilt auch für das

Mauerblümchen, das auf dem Tisch rechts neben der Lucretia liegt und die Farbe Gelb wiederholt. Diese Blume wird in der Renaissance mit dem Liebesakt assoziert und als Aufmerksamkeit nach einer Liebesnacht verschenkt100. Auch wenn die Porträtierte auf den ersten Blick als Lucretia zu posieren scheint, stehen die Insignien, die im Kontext der Lucretia-Ikonographie als Zeichen für ihre pudicitia gedeutet werden müßten, für genau das Gegenteil. Dies erklärt auch, warum das Kleid der Porträtierten hier ausgerechnet

hochgeschlossen ist. Denn gerade dadurch wird der Kontrast zur Lucretia weiter

unterstrichen. Die Porträtierte ist keine Lucretia, die ihre Schönheit nur deswegen offensiv zur

98 Vgl. Ost 1981, S. 134.

99 Vgl. Ost 1981, S. 134.

100 Vgl. D’Ancona 1977, S. 402, die die in der Renaissance bekannten Aitiologien auflistet, die die griechische Mythologie für das Mauerblümchen anbietet. So ist eine Aitiologie bekannt, derzufolge Ion die Blume von den ionischen Nymphen nach einer Liebesnacht überreicht bekommt. Eine andere sieht darin den Liebeslohn, den das Mädchen Io nach einer Liebesnacht mit Jupiter erhält.

Schau stellt, um sie mit dem Dolch zu vernichten. Sie kalkuliert vielmehr bewußt, wann und für welchen Preis sie etwas von ihr zeigt.

Die Technik des Kontrasts setzt sich bei den übrigen Bildelementen fort, bei denen Lotto weiter auf die Ikonographie der halbfigurigen Lucretia Bezug nimmt, seine Auftraggeberin aber gleichzeitig dagegen abgrenzt. Hier sind die Bezüge jedoch nicht mehr so deutlich wie bei Schmuck und Kleidung der Lucretia. Um Lucretias Einsatz für die pudicitia zu

veranschaulichen, setzt Cranach den Dolch, den sie auf ihren Körper richtet, und ihren abgewandten Blick als ikonographische Mittel ein.

Auf den ergebenen und leidensbereiten Blick der Lucretia nimmt Lottos Dame mit einem entgegengesetzten Blick Bezug. Bei Lotto sucht die Porträtierte gerade den Blickkontakt mit dem Betrachter und schaut ihn herausfordernd an. Während Cranachs Lucretia dem

voyeuristischen Blick ausweicht, der ihren nackten Körper interessiert mustert, sucht Lottos Dame aktiv den Kontakt zum Betrachter. Hier erscheint der Blick, mit dem sie den Gegenüber fixiert, tatsächlich die intimere Beziehung anzubahnen, die Lucretias Nacktheit nur verspricht, um sie dann umso entschiedener durch den Selbstmord unmöglich zu machen.

Statt des Dolchs, den die Lucretia bei Cranach in ihrer Hand hält, gibt Lotto seiner Porträtierten ganz andere Gegenstände in die Hand. Bei der Lucretia zeigt der Dolch

unmißverständlich die Absicht, die Lucretia verfolgt, und das Selbstverständnis, von dem sie sich leiten läßt. Sie will sich damit töten, um so ihre pudicitia zu sichern. Auch bei Lotto erfüllen diese Gegenstände diese Funktion, zeigen aber ein ganz anderes Selbstverständnis als das der Lucretia. Statt des Dolches hält die Porträtierte in der linken Hand nur eine

Zeichnung, die eine Lucretia zeigt, die sich gerade erdolchen will. Die Zeichnung folgt dem Bildtyp der ganzfigurigen Lucretia, der sich parallel zur halbfigurigen verbreitet. Lotto greift die Variante des Bildtyps auf, die vor allem in Deutschland in Zeichnungen und

Kupferstichen weit verbreitet ist. Sie hat ganz ähnliche ikonographische Merkmale wie der halbfigurige Typ bei Cranach. Lucretia ist meist ganz nackt zu sehen, nur an dem Dolch zu identifizieren und Teile ihres Körpers sind von einem durchsichtigen Schleier bedeckt101. Lotto zitiert den Bildtyp aber nicht nur, sondern parodiert ihn zugleich. Den Dolch, den seine Lucretia in der rechten Hand hält, will sie mit weit ausholendem Schwung in ihre Brust stoßen. Lucretia blickt nach oben und hat den Mund leicht geöffnet, als wolle sie den

tödlichen Stoß mit einem Schrei begleiten. Beides läßt die Szene allzu pathetisch wirken. Mit der linken Hand hält sie eine relativ sperrige Decke vor ihren Unterleib. Und statt des dünnen Schleiers, der die Lucretia sonst grazil umspielt, hat sie hier eine unförmige und viel zu große Decke vor ihrem Unterleib zusammengeballt, die zudem noch schwerfällig hinter ihren Beinen hinunterhängt. Ähnlich wie der Strohkranz auf ihrem Kopf steht auch die Zeichnung, die die Porträtierte in der Hand hält, nur für eine Rolle, die die Porträtierte annimmt, aber nicht ausfüllen kann. Denn statt eines richtigen Dolchs hält sie nur die Zeichnung eines Selbstmords in der Hand. Zudem zeigt deren parodistische Ausführung, daß dies kein

ernstzunehmendes Vorbild für sie sein kann. Auch die Zeichnung der Lucretia charakterisiert die Porträtierte nur durch den Kontrast102.

101 Βeispiele im Bereich der Gemälde sind Cranachs Bilder des ganzfigurigen Typs aus München und Dresden und Dürers ähnliche Komposition in der Alten Pinakothek, München. Speziell im Bereich der Zeichnung und des Kupferstichs lassen sich etwa Zeichnungen von Hans Baldung Grien und Kupferstiche von Sebald Beham als Beispiele anführen (vgl. Grewenig 1987).

102 Diese Interpretation läßt sich noch dadurch stützen, daß Lotto das Verfahren der Kontrastikonographie auch in einem anderen Gemälde benutzt. Auch hier soll das Element, auf das mit der Hand verwiesen wird, die Person, die darauf zeigt, gerade nicht charakterisieren (vgl. Ost 1981, S. 136).

Nicht nur die Zeichnung übernimmt die Funktion, die bei Cranach dem Dolch zukommt. Die Porträtierte weist mit der rechten Hand zusätzlich auf ein cartellino, das auf dem Tisch neben ihr liegt. Das gefaltete und wieder geöffnete cartellino enthält den letzten, nur leicht

veränderten Satz der Lucretia, den sie in der Bearbeitung des exemplum bei Livius unmittelbar vor ihrem Selbstmord spricht: NEC ULLA IMPVDICA LVCRETIAE

EXEMPLO VIVET, „Keine Frau lebt unkeusch nach dem Vorbild der Lucretia“103. Der Satz läßt sich sowohl als Bestätigung für die Normen auffassen, aus denen sich die pudicitia ergibt, als auch für die, aus denen sich ihre Gegenteil, die voluptas ableiten läßt. Denn Lucretias Selbstmord setzt einen Standard, an dem sich eine Frau, die für sich die pudicitia beansprucht, messen lassen muß. Wer ihn nicht befolgt, gilt dann im Umkehrschluß als unkeusch und folgt damit der voluptas. Der Spruch auf dem cartellino deutet wie Kleidung und Schmuck der Porträtierten zunächst daraufhin, daß sie sich eng an Lucretia orientiert. Ebenso wie diese auf ihren Beruf als Prostituierte hinweisen, steht auch der Spruch auf dem cartellino gerade dafür, daß sich die Porträtierte nur an den Normen für die voluptas orientiert. Das cartellino muß gegen den Strich gelesen werden und hat eine Bedeutung, die nicht dem ersten Eindruck entspricht. Es porträtiert Lottos Auftraggeberin erneut durch einen Kontrast, der zwischen zwei Lesarten der Zeichen besteht, durch die sie charakterisiert werden soll. Denn das cartellino steht nicht, wie zunächst wahrscheinlich und zu erwarten ist, für die pudicitia der Porträtierten, sondern ganz im Gegenteil für ihre voluptas104.

Lotto porträtiert seine Auftraggeberin dadurch, daß er sie zwar als Lucretia auftreten läßt, aber gleichzeitig durch Abweichungen und Verschiebungen deutlich macht, daß sie dieser Rolle nicht entspricht. Der goldene Haarkranz, Kette, Schleier und Kleid verweisen auf den ersten Blick auf die Lucretia als Vorbild, das treu imitiert werden soll. Gleichzeitig machen sie aber auch den Inszenierungscharakter deutlich. Die Porträtierte verkleidet sich als eine Figur, der sie nicht entspricht. Die Ausstattungsgegenstände geben sie bei näherem Hinsehen ganz im Gegenteil als Prostituierte zu erkennen. Ähnliches gilt für die Zeichnung der Lucretia, das cartellino mit ihren letzten Worten und das Mauerblümchen. Zunächst scheinen sie die Dargestellte direkt zu charakterisieren. Dann wird jedoch deutlich, daß die zur Parodie verzerrte Lucretia nur einen Kontrast zur Dargestellten bilden kann und das Mauerblümchen statt der göttlichen Liebe, für die es zunächst zu stehen scheint, viel eher auf die ganz der Diesseitigkeit zugewandte Liebe hinweist. Dabei zitiert Lotto nicht nur die Ikonographie der isolierten Lucretia, die sich in Cranachs halbfigurigen Darstellungen findet, sondern steuert den Betrachter auch mit derselben Methode wie Cranach. Cranachs Lucretia scheint auf den ersten Blick ganz wie eine Prostituierte offen auf die erotische Wirkung ihres nackten Körpers zu setzen, gibt sich dann aber als entschiedene Vertreterin der pudicitia zu erkennen. Lottos Auftraggeberin erweckt nun umgekehrt zunächst den Eindruck, als sei sie keusch und

sittenfest wie Lucretia, entpuppt sich dann aber als Prostituierte, die der voluptas folgt. So wie Cranachs Lucretia sich die Rolle der Nacktheit und voluptas nur scheinbar annimmt,

präsentiert sich auch Lottos Dame nur zum Schein in der Maske der Lucretia, die zum Selbstmord bereit ist und die pudicitia anstrebt.

103 Die exakte Formulierung bei Livius 1,58,10 lautet: nec ulla deinde impudica Lucretiae exemplo vivet. Daß Lotto den Satz wohl nicht direkt aus Livius entnommen hat, wird auch dadurch wahrscheinlich, daß er in einer früheren Bearbeitungsstufe zunächst exemplum schreibt und dies erst später in die Lesart exemplo umändert, die der Text bei Livius bietet (vgl. Goffen 1999, S. 751).

104 Daß es zur Kontrastierung eingesetzt wird, ergibt sich auch aus der ungewöhnlichen Position, in der der Tisch in der rechten Ecke zum Stuhl in der linken gestellt ist. Denn der Stuhl wird gerade nicht, wie zu erwarten wäre, so vor den Tisch gerückt, das man sich an ihn setzen kann, sondern von ihm weg gestellt. Dies kann als Hinweis dafür angesehen werden, daß das cartellino auf dem Tisch gegen den ersten Eindruck gelesen werden muß.

Auch Goffen macht hierauf aufmerksam, kann aber keine Erklärung dafür bereitstellen (vgl. Goffen 1999, S.

757).

Auch wenn Lotto die Vorzeichen umkehrt, unter denen die auf dem Gemälde dargestellte Frau betrachtet werden muß, bleiben die Normen intakt, die Cranach mit den Werten der voluptas und der pudicitia verbindet. Beiden Gemäldetypen liegen dieselben Verhaltensregeln zugrunde, aus denen sich der Charakter einer Frau ablesen lassen soll. Das Werturteil der voluptas ist an die Prostitution geknüpft. In diese Kategorie fällt eine Frau, wenn sie ihre körperliche Schönheit herausstellt und bewußt mit ihrer erotischen Ausstrahlung kokettiert, um Liebhaber für sich zu interessieren. Sie ist sexuell aktiv und hat wechselnde Partner. Das Werturteil der pudicitia wird dagegen der Ehefrau verliehen. Sie verzichtet auf ein

Sexualleben außerhalb der Ehe, hält treu zu ihrem Mann und ist bereit, auch ihr Leben dafür zu opfern. Cranachs Lucretien stehen für die pudicitia, auch wenn sie erst mit der voluptas zu spielen scheinen, während Lottos Auftraggeberin für die voluptas steht, selbst wenn sie zuerst den Regeln der pudicitia zu folgen scheint.