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Salutati und die „positive Anthropologie“

Die Bearbeitung des Lucretia-exemplum, die Salutati in der Declamatio gibt, entspricht den Ansichten über exempla, die er viele Jahre später in seiner Korrespondenz mit dem

Historiographen Juan Fernández de Heredia niederschreibt. Lucretia steht bereits in der Declamatio für den Wert der pudicitia ein, den er ihr auch in seinem späteren Brief wieder zuspricht, und er wird hier bereits an denselben normativen Eigenschaften festgemacht, die er Fernández gegenüber nennt.

Wie die historischen exempla allgemein bekräftigt auch die Declamatio, in der Salutati ein solches exemplum rhetorisch ausarbeitet, überzeitlich gültige Werte, die durch festgelegte Normen garantiert werden. Salutati läßt seine Figuren mit einer „positiven Anthropologie“

arbeiten. Die Normen sind bekannt und daher jederzeit wiedererkennbar, so daß sich am Verhalten einer Figur ablesen läßt, ob sie einem Wertbegriff entspricht oder nicht. Dies gilt für alle drei Werte, für die Lucretia bei Salutati steht. Daß jede Handlung eindeutig einem Wert zugeordnet werden kann, wird dadurch sichergestellt, daß zu jeder Tugend ein Laster als entgegengesetzter Wert gehört. Was nicht in die eine Kategorie fällt, wird dann der anderen zugeschlagen. Dies ergibt einen geschlossenen Kanon an Werten und Normen. Die pudicitia wird garantiert durch die Normen der ehelichen Treue, die Lucretia in der Spinnstube und der Kindererziehung unter Beweis stellt, durch die Norm der sexuellen Enthaltsamkeit und Körperkontrolle, die sie keinen anderen Mann begehren und auch bei erzwungenem Geschlechtsverkehr kein Lustgefühl aufkommen läßt, und die Norm der herausragenden Kraft, die sie auch nicht vor einem Selbstmord zurückschrecken läßt. Auf der anderen Seite steht die voluptas, die ebenso an normativen Merkmalen erkennbar ist. Dazu gehört die Prostitution, unter die jede Sexualität außerhalb der Ehe fällt, und sie ist allgemein daran zu erkennen, daß jemand ein lustbetontes und sexuell aktives Leben führt. Die gloria ermißt sich an dem Ansehen, das Lucretia bei anderen Menschen und vor dem Jenseitsgericht genießt.

Hierfür wird die moralische Integrität zugrundegelegt, die sie durch ihre pudicitia beweist.

Als Gegenbegriff gilt die infamia, die sich durch gesellschaftliche Verachtung und Geringschätzung ausdrückt. Die libertas schließlich zeigt sich, wenn sich jemand unter Gefahr für sein eigenes Leben dagegen wehrt, daß andere sein Selbstbestimmungsrecht

202 Salutati, Declamatio Lucretie 11: tuque terestre corpus, quod etiam specie tua tibi causam et occasionem adulterii peperisti, effunde animam, effunde cruorem hoc omine, ut hinc incipiat superbi regis et infauste regie prolis excidium. Tuque vir condam carissime tuque pater, quorum aspectum pudore et infelicitate mea libenter effugio, vosque amici, valete. nec minus fortiter vindictam quam spopondistis peragite, quam ego cedem perficiam meam.

203 Der rhetorische Charakter der Declamatio wird im Laufe der ausgeklügelten Argumentation der beiden Seiten immer wieder deutlich. Neben den rhetorischen Fragen und Interjektionen zählt hierzu etwa das Wortspiel mit Sextus als hospes und hostes, das Salutati von Livius übernommen hat, und die Reihung der Argumente in Dreiergruppen, wenn Lucretia etwa ihr verändertes Verhältnis zu Ehemann, Vater und Kindern beschreibt.

mißachten und ihre Macht mißbrauchen. Der dazu entgegengesetzte Wert ist die Tyrannis, bei der er sich weiter unterdrücken läßt und passiv die Gewalttaten der anderen erduldet.

In der Declamatio Lucretie wird der Fall der Lucretia mit den Kategorien einer „positiven Anthropologie“ diskutiert und beurteilt. Die Vergewaltigung wie der geplante Selbstmord werden daraufhin überprüft, welchen Normen und Werten sie entsprechen. Ist Lucretia keusch oder lüstern? Rettet sie ihren Leumund oder zerstört sie ihn? Tritt sie für die Freiheit der Römer ein oder läßt sie sich unterjochen? Während der Diskussion befindet sich Lucretia jedoch in einer zwiespältigen Lage, in der die gewohnten Kategorien nicht angewendet werden können. Sie ist weder keusch noch lüstern, weder lobens- noch tadelnswert und weder freiheitsliebend noch unterdrückt. Die Situation zwischen den Werten, in der sie sich befindet, erscheint dabei als Bedrohung. Denn Lucretia geht davon aus, daß sie die pudicitia vor der Vergewaltigung für sich garantiert hatte, durch sie erst verloren hat und nun erneut sichern muß. Sie droht also die Wertesicherheit zu verlieren, auf die sie sich vorher verlassen konnte.

Ihr Glaube an die Vorgaben einer „positiven Anthropologie“ bleibt jedoch ungebrochen. Ihre Zukunft erscheint ihr eindeutig von der voluptas geprägt, und sie ist sich sicher, daß der Selbstmord ein hinreichender Beweis für ihre pudicitia vor dem Jenseitsgericht sein wird. Der Wertekanon, auf den sie sich bezieht, ist zeitlos und allgemeingültig, weil sie damit

Vorhersagen über die Zukunft treffen kann und sich der Richtspruch im Jenseits schon ahnen läßt.

Die Werteunsicherheit, in der sich Lucretia bei Salutati nach der Vergewaltigung befindet, verweist im Ansatz auf die „negative Anthropologie“. Denn Lucretia kann keinen Wertbegriff absolut für sich in Anspruch nehmen und sich auf keine Normen mehr stützen, die ihr

vorgeben könnten, wie sie sich verhalten muß. Wie in der „negativen Anthropologie“

beschrieben, muß sie sich die Werte als Zielvorgabe selbst setzen, ihr Handeln der jeweiligen Situation anpassen und erst versuchen, dadurch die Werte umzusetzen. Lucretia ist weder grundsätzlich keusch noch grundsätzlich lüstern, sondern muß die latent vorhandene Lust abwehren und die pudicitia als Ziel dagegen halten, ohne sie jemals endgültig erreichen zu können. Für Salutatis Lucretia, die sich über den Wertekanon der „positiven Anthropologie“

definiert, erscheint diese Situation aber als Bedrohung. Sie entzieht ihr eine Sicherheit, ohne die sie nicht leben kann. Mit dem Selbstmord nimmt sie zugleich Zuflucht zu den garantierten Werten, die ihr Selbstverständnis strukturieren. Das individuelle Vorgehen in der konkreten Situation, das für die „negative Anthropologie“ den einzigen Ausgangspunkt für

wertbezogenes Handeln bildet, erscheint in der Perspektive der „positiven Anthropologie“ als Verlust der gewohnten Normen und Werte, mit denen sich eigentlich jede Handlung erfassen lassen müßte.

Salutati begründet seine „positive Anthropologie“ wie Augustin mit Gott als letzter Instanz.

Dies ergibt sich aus dem Brief an Fernández, in dem er den Prediger Salomon für sein Geschichtsbild heranzieht, und findet sich auch in der Declamatio. Dort nimmt das Jenseitsgericht des Rhadamanthus die Form eines jüngsten Gerichts an, bei dem die Menschen nach ihrem Verhalten auf Erden beurteilt werden. Salutati kennt zwar die

Argumente Augustins, nutzt dessen Text aber nur für einige intertextuelle Elemente, nicht für die Anthropologie. Stattdessen deutet er die „negative Anthropologie“, die Augustin vertritt, zu einer „positiven“ um. Damit dies gelingt, positiviert er Elemente von Augustins

Anthropologie, indem er die formale Definition des Menschen zu einer inhaltlichen macht.

Bei Augustin wie bei Salutati gibt es eine Vorgabe dafür, wie der Mensch sich verhalten soll.

Das göttliche Gesetz bei Augustin entspricht in gewisser Weise Salutatis Jenseitsgericht, vor dem das Verhalten des Menschen beurteilt wird. Während Augustin die für alle Menschen

gültigen Werte jedoch als Zielvorgabe auffaßt, die der Mensch nie endgültig erreicht, sondern ausgehend von seiner partikularen Situation erst anstreben muß, geht Salutati von bekannten und feststehenden Werten aus. Ob sie eingehalten werden, läßt sich an äußerlich sichtbaren Normen überprüfen. Ein geschlossener Kanon an universal gültigen Werten und Normen sorgt dafür, daß jede partikulare Handlung sofort als richtig oder falsch eingeschätzt werden kann. Dies führt dazu, daß die Kriterien, mit denen im Jenseits moralisch geurteilt werden kann, bereits im Diesseits bekannt sind. Das richtige menschliche Verhalten, das Augustin als Aufgabe ansieht, über die der Mensch nur Mutmaßungen anstellen kann, ist daher für Salutati eine Tatsache, die allgemein bekannt ist.

Entsprechend wird die formale Definition des Menschen, die Augustin gibt, von Salutati zu einem inhaltlichen Kriterium umgedeutet. Augustin schreibt, daß die Seele kraft ihres Willens den Körper kontrollieren soll, und allein diese seelische Disposition zählt, um die

Tugendhaftigkeit eines Menschen zu ermessen. Für eine Frau, die vergewaltigt wird, bedeutet dies, daß sie während der Vergewaltigung versuchen muß, ihre Seele von jeglichen

Lustgefühlen freizuhalten. Was Augustin aber als Aufgabe beschreibt, die die Frau zu erfüllen versuchen muß, verabsolutiert Salutati zu einer festen Norm. Für ihn muß Lucretia während der Vergewaltigung ihren Körper vollständig unter Kontrolle halten, und nur dann gilt sie als keusch. Daß sie nun aber zwischen Lust und Abscheu schwankt und die Signale des Körpers nicht vollständig unterdrücken kann, erscheint als Zeichen dafür, daß sie die Norm nicht erfüllt. In Augustins Sicht ist aber gerade dieses Schwanken ein notwendiger Teil des sittlichen Handelns. Denn er sieht es als ständigen Versuch an, einen Wert erst umzusetzen, und dazu gehört auch die Gefahr, daß dies scheitert oder nur unvollständig gelingt.

Der Unterschied zwischen Augustin und Salutati und den beiden Anthropologien, die sie repräsentieren, wird am deutlichsten daran, wie sie den Wert der gloria einsetzen. Beide nutzen das exemplum der Lucretia, um die gloria als menschliche Verhaltensweise vorzuführen, und für beide ist ihr Selbstmord Ausdruck eines besonderen Strebens nach Ruhm. Augustin schätzt die Ruhmsucht aber als Laster ein. Lucretia richtet ihr Handeln lediglich an der Anerkennung ihrer Mitmenschen aus und übersieht die universalen Werte, die Gott als Aufgabe setzt. Für Salutati dagegen, der von sicheren Normen ausgeht, die die Werte garantieren, ist gloria eine Tugend. Weil für ihn irdische und transzendente Anerkennung zusammenfallen, stellt jeder, der sich den Zuspruch seiner Mitmenschen sichert, auch die Anerkennung vor Gott sicher.

3.3. Der kulturelle Kontext: Salutati als Kanzler der Republik Florenz

Die „positive Anthropologie“, die Salutati vertritt, hält ihre Aussagen über den Menschen für universal gültig. Die universalen Werte werden durch Normen garantiert, für die ebenfalls Allgemeingültigkeit angenommen wird. Ein exemplum führt für Salutati diese zeitlosen Verhaltensregeln und Eigenschaften des Menschen an einem Einzelbeispiel vor. Es läßt sich aber nachweisen, daß die Normen, die Salutati aus dem historischen Ereignis der

Vergewaltigung der Lucretia ableitet, seiner eigenen Lebenswelt entstammen. Er verlegt sie lediglich in die Vergangenheit zurück und stattet dadurch die aktuellen Ansichten über das richtige Verhalten seiner eigenen Zeit mit der Autorität der Vergangenheit aus. Es gibt also nur deswegen nichts Neues unter der Sonne, weil er seine eigenen Ansichten über den

Menschen in die Vergangenheit zurückverlegt und sich deswegen überall dieselben Werte und Normen finden. Daß Salutatis Normen aber tatsächlich lediglich partikular sind und nur universal erscheinen, weil er sie in die Vergangenheit projiziert, läßt sich durch eine Analyse seines kulturellen Kontextes zeigen.

Salutatis kulturelles Bezugsfeld ergibt sich aus seiner Tätigkeit als Kanzler von Florenz.

Durch die auswärtigen Kontakte, die er im Zuge dieser Anstellung knüpfen und pflegen kann, kommt er mit vielen Politikern in ganz Europa in Kontakt. Mit den weltlichen und kirchlichen Entscheidungsträgern verbindet ihn dabei das gemeinsame Interesse an lateinischen Autoren, aus denen sie ihre Sprachkompetenz beziehen. Salutati ist Teil einer Gruppe von gebildeten Politikern, die eine relativ geschlossene Gruppe mit gemeinsamen Ansichten, Interessen und Problemen bilden. Sie stehen in brieflichem Kontakt, verfügen über eine vergleichbare Bildungsgrundlage und hegen ähnliche antiquarische Interessen. Wie Salutati beziehen sie ihr Selbstverständnis aus der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, bei der die antiken exempla einen zentralen Platz einnehmen. Der Bildungskanon ist also Bezugspunkt für ein Selbstverständnis, das mit Wertvorstellungen arbeitet, über die weitgehend Konsens herrscht und über dessen Grundzüge sich die Beteiligten einig sind. Dies führt zu den festgelegten und wiedererkennbaren Normen der „positiven Anthropologie“, die Werte garantieren und

einlösen sollen.

Eine Analyse dieses kulturellen Kontextes kann erstens nachweisen, daß die vorgeblich allgemeingültigen Normen der Declamatio auf aktuelle Normen zurückgehen, die Salutati in das Lucretia-exemplum projiziert. Hierfür soll der Zusammenhang der Normen der

Declamatio mit denen des kulturellen Kontextes aufgezeigt werden. Zugleich kann zweitens die zentrale Rolle aufgezeigt werden, die die Antike für Salutati und seine Zeitgenossen spielt und in die die „positive Anthropologie“ eingebettet ist. Der Rückverweis auf die Antike dient als unproblematische Form der Selbstvergewisserung und kann sie in ihrem Selbstverständnis bestärken und bestätigen.

Um diese Nachweise zu führen, werden alle Stellen im Corpus von Salutatis Schriften untersucht, an denen er das Lucretia-exemplum nach seiner frühen Declamatio Lucretie wieder einsetzt204. Anders als in der Declamatio bezieht er das exemplum jeweils auf

204 Hierfür werden die Belegestellen zugrunde gelegt, die der Index zu Salutatis Schriften von Zintzen/ Ecker/

Riemer bietet (vgl. Zintzen/ Ecker/ Riemer 1992, S. 26). Da der Index die Staatsbriefe Salutatis, die nur in sehr geringem Umfang ediert sind, nicht mit berücksichtigt, wird aus dem Corpus der gedruckten Staatsbriefe eine zusätzliche Belegstelle ergänzt. Auch im Staatsbrief vom 4. Januar 1376 nimmt Salutati auf das exemplum der Lucretia Bezug (vgl. Salutati, Staatsbriefe 19 (Langkabel)). Von den Belegstellen bei Zintzen/ Ecker/ Riemer werden zwei nicht genauer interpretiert. Der Brief an Juan Fernández de Heredia ist bereits eingangs untersucht worden (vgl. Salutati, Epistolario II, 289 – 302). Der Brief an Filippo di Bartoletto di Valle di Quercola bietet keinen Anhaltspunkt für den kulturellen Kontext, weil Salutati hier lediglich eine Passage aus der Declamatio erläutert (vgl. Salutati, Epistolario IV, 247 – 254).

zeitgenössische Kontexte und stellt Analogien zwischen der antiken Figur und einer aktuellen Situation her. Dabei steht das exemplum erneut für die feststehenden Normen der „positiven Anthropologie“, die Salutati ihm schon in der Declamatio zuschreibt. Die Anbindung an aktuelle Kontexte zeigt nun jedoch auch, wie stark diese Sicht der Lucretia durch die Normen seiner eigenen Zeit geprägt ist. Denn was die Geschichte der Lucretia illustrieren soll, sind vor allem die Verhaltensregeln und Ansichten über den Menschen, die Salutati selbst seinen Briefpartnern und Mitmenschen gegenüber vertritt205.

A. Salutatis Staatsbrief an die Stadt Rom: Lucretia und die Freiheit der Republik