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Albert Lindner: „Brutus und Collatinus“

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind Römerdramen in Deutschland sehr populär141, und im Zuge dieses Publikumsinteresses entstehen auch drei Lucretia-Dramen. Wie sich am Beispiel des Dramas „Brutus und Collatinus“ von Albert Lindner aus dem Jahr 1866 zeigen läßt142, das sich zwar auf Brutus als Hauptperson konzentriert, aber auch ausführlich auf den Selbstmord der Lucretia eingeht, wird hier das Lucretia-exemplum wieder für eine

anthropologische Reflexion eingesetzt und soll eine universal gemeinte „positive Anthropologie“ transportieren.

Das deutlichste Beispiel dafür, daß Lindner sein Drama mit Problemen seiner eigenen Zeit in Verbindung bringt und eine für alle Zeiten gültige „positive Anthropologie“ formuliert, findet sich gleich zu Beginn. Collatinus trifft auf die tarquinische Herrscherfamilie, die durch Rom mit einer Schar nicht-römischer Begleiter zieht. Angewidert bringt er seine Abscheu gegen den Hofstaat zum Ausdruck, der sich vor allem aus Ausländern zusammensetzt. An Arruns, den Bruder des Sextus Tarquinius gerichtet, sagt er:

Bin kein Etrusker, kein Latiner, um

Im Schwarme dieser Fremden dir zu folgen;

Ein römscher Edler nur, der sich für besser

Hält, um dem Erbfeind seines Volks zu schmeicheln.143

Lindner greift die zeitgenössische Rede vom „Erbfeind“ auf, mit dem sich Deutschland gegen Frankreich abgrenzt, und überträgt sie auf das Verhältnis von einheimischen Römern zu ihren

140 Ein anschauliches Beispiel für die rhetorische Praxis in den Gymnasien, wie sie zur Zeit von Niebuhr und Schlegel üblich ist, liefert ein Schulaufsatz des jungen Georg Büchner von 1831, in dem er den Text eines Mitschülers über den Selbstmord kritisiert (vgl. Büchner, Über den Selbstmord, S. 34 – 38). Büchners

Mitschüler bezeichnet den Selbstmord als unchristlich, und Büchner zieht zwei antike exempla heran, die seiner Meinung nach Gegenbeispiele darstellen, nämlich die Lucretia und den jüngeren Cato, der sich während des römischen Bürgerkriegs in aussichtsloser Situation für den Freitod entscheidet. Für weitere Beispiele für das Lucretia-exemplum bei Büchner vgl. Galinsky, 1932, S. 190.

141 Vgl. Riedel 2000, S. 244 – 245.

142 Zum Drama vgl. Koch 1914, S. 13 – 27 und Galinsky, 1932, S. 201 – 206.

143 Lindner, Brutus und Collatinus, S. 12 – 13.

Nachbarn, vor allem zu den Etruskern, von denen die Tarquinier abstammen. Durch diese Konnotation des Wortes „Erbfeind“ erscheint die Vergangenheit als Lehrstück für die eigene Gegenwart, das eine „positive Anthropologie“ liefert, die nur auf die eigenen Verhältnisse übertragen werden muß. Collatinus und Brutus wenden sich mit dem Sturz der Tarquinier gegen fremde Einflüsse in ihrem Staat und gründen die Republik auf einem neuen

Nationalbewußtsein. Dies entspricht für Lindner der Situation Deutschlands in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Auch Deutschland soll sich von französischer Übermacht freimachen und einen eigenen Nationalstaat begründen, was dann mit den Kriegen 1866 gegen Österreich und vor allem 1870/1871 gegen Frankreich tatsächlich geschieht.

Ein weiteres Beispiel für eine „positive Anthropologie“ findet sich in der Charakteristik Lucretias, die als Beispiel für richtiges weibliches Verhalten vorgeführt wird. Wie bei Livius erscheint sie als treue Ehefrau, die ihren Mann nie betrügen würde144, und widmet sich ganz den häuslichen Pflichten, wenn sie für die Kindererziehung einsteht und die Mägde zum Spinnen der Wolle anhält, mit der sie ein Gewand für ihren Ehemann verfertigen will145. Diese Vorgaben werden von Lindner leicht erweitert, so etwa, wenn Lucretia im Traum von der Ahnung geplagt wird, daß ihr der Tod bevorsteht146, oder wenn sie weiter loyal zu ihrem Ehemann steht, obwohl sie zunächst entsetzt über die Wette ist, die Collatinus mit den Königssöhnen eingeht147. Die Lucretia, die Lindner so porträtiert, entspricht der zeitgenössischen Konzeption der bürgerlichen Ehefrau, und dadurch, daß er diese

Eigenschaften bereits an einer Frau aus der römischen Antike aufzeigt, erscheinen sie ebenso als universal gültig wie zuvor das Bedürfnis des Collatinus nach nationaler Unabhängigkeit.

So wie die Figuren des Dramas auf diese Weise als exemplum für Lindners eigene Zeit dienen sollen, beziehen sich die Figuren des Dramas selbst auch auf exempla aus der Vergangenheit, aus denen sie Verhaltensanweisungen für ihr eigenes Handeln gewinnen. So nutzt Lucretia die Arbeit am Spinnrad, um die Mägde in griechischer Mythologie zu unterweisen. Die

Geschichte der treuen Gattin Penelope, die aller Bewerber zum Trotz weiter auf ihren Mann Odysseus wartet, gibt zugleich eine Verhaltensnorm, der sie sich selbst verpflichtet fühlt:

Lucretia.

Nun plaudert brav, so geht’s uns rasch von Handen.

Was denn erzählt ich euch zuletzt?

Clölia.

Vom Weib Des göttlichen Ulyß, Gebieterin.

Lucretia.

Ja, von der Vielumworbenen. Was that sie, Um sich des Drangs der Freier zu erwehren, So lang der Gatte fern? Was that sie, Mädchen?

Clölia.

Wenn ein Geweb vollendet sei, versprach sie Zu eines Gatten Wahl sich zu entschließen.

Doch was sie webt’ am Tag, das trennte sie

Schlau wieder auf des Nachts. Nie ward’s vollendet.

Lucretia.

Dafür erstrahlt der Ruhm der treusten Frau Bis in die fernsten Tage.148

144 Vgl. Lindner, Brutus und Collatinus, S. 13.

145 Vgl. Lindner, Brutus und Collatinus, S. 27 – 30.

146 Vgl. Lindner, Brutus und Collatinus, S. 33 – 34.

147 Vgl. Lindner, Brutus und Collatinus, S. 34: Schilt mir den Gatten nicht!

148 Lindner, Brutus und Collatinus, S. 30.

Ganz im Sinne der „positiven Anthropologie“ stellt die Vergangenheit hier Regeln bereit, die der Mensch nur rein äußerlich auf seine eigene Situation übertragen muß, um sich ruhmvoll und damit richtig zu verhalten. So wie Penelope Gewänder webte, um die Treue zu ihrem Mann zu bewahren, spinnt auch Lucretia Wolle für Kleider, die ihr Mann tragen soll, und bleibt ihm immer treu ergeben.

Dieselbe Bedeutung hat ein anderes exemplum aus der griechischen Mythologie, als Lucretia in Sextus eine Figur aus einem Traum wiedererkennt, den sie in der vorherigen Nacht hatte:

Seine Mienen, Sein brennend Aug wars, das ich gesehn, In vor’ger Nacht. Es war der wilde Priester, Der über mir das Opfermesser schwang. – Nichts mehr davon! Ich bin ein thöricht Weib.

Die Mär von Iphigenien las ich,

Eh ich zu Bett ging, und sie wirkte noch Mit ihrem Schauder nach im Traum. 149

Diesmal stellt die Geschichte der Iphigenie ein Muster für die späteren Ereignisse bereit, die im Traum bereits vorweggenommen sind. Wie Iphigenie als Opfer dient, mit dem die

Griechen ihre Fahrt nach Troja beginnen, muß Lucretia sterben, um die römische Republik zu errichten. Sextus wird mit dem Priester verglichen, der sie ermordet, und erscheint so als eigentlicher Mörder der Lucretia, der ihre Keuschheit vernichtet und sie in den Selbstmord treibt. Die Vergangenheit wird so zum Vorbild der Gegenwart, und in ihr wiederholt sich nur, was bereits früher geschehen ist.

Lindners Versuch, das Lucretia-exemplum für eine „positive Anthropologie“ einzusetzen, ist deutlich von dem Bemühen begleitet, Bildung und Gelehrsamkeit zu demonstrieren. Lindner will sich als Kenner der Texte ausweisen, die in seiner Zeit in Schule und Universität

kanonisch sind. Für Penelope setzt er mit „vielumworben“ ein charakterisierendes Beiwort ein, das an den Stil der homerischen Attribute angelehnt ist und sofort an die erste Zeile der

„Odyssee“ erinnert, in der Odysseus als „vielgewanderter Mann“ umschrieben wird. Daß Lindner ausgerechnet zu Penelope und Iphigenie als exempla greift, verweist erneut auf die

„Odyssee“ und die „Ilias“ Homers, die im Zuge der zeitgenössischen Begeisterung für die griechischen Autoren in der Schule viel gelesen werden. Und schließlich vergibt er an die Magd, die als gelehrige Schülerin der Lucretia das exemplum der Penelope referiert, mit

„Clölia“ auch einen Namen, der aus dem Lernstoff der römischen Geschichte gut bekannt ist.

Entsprechend trifft der Vorwurf sehr wohl zu, Lindner schreibe „akademische Poesie“, selbst wenn er sich in der Vorrede zur Buchausgabe von „Brutus und Collatinus“ dagegen

verwahrt150.

Lindners zur Schau gestellte Gelehrsamkeit entspricht seiner Biographie, die von dem Bemühen eines Lehrers geprägt ist, sein Wissen in dichterischer Form zu verarbeiten151. Lindner besucht das Gymnasium und studiert in Jena und Berlin Klassische Philologie und Geschichte. Im Anschluß an Dissertation und Staatsexamen ist er an verschiedenen Orten in der Provinz als Lehrer tätig. Parallel dazu versucht er sich immer wieder als dramatischer Dichter und kann schließlich einen Verantwortlichen von der Karlsruher Hofbühne als Interessenten für das Drama „Brutus und Collatinus“ gewinnen. Erst die zweite Aufführung am 29.9.1865, eine Festvorstellung für die in Heidelberg tagende Philologen-Versammlung,

149 Lindner, Brutus und Collatinus, S. 33 – 34.

150 Vgl. Lindner, Brutus und Collatinus, S. V.

151 Zu Lindners Biographie vgl. zusammenfassend Koch 1914, S. 1 – 6.

die dafür extra nach Karlsruhe reist, verhilft dem Stück zum Durchbruch152. 1866 und im Alter von 35 Jahren veröffentlicht Lindner den Text seines dramatischen Erstlings als

Buchausgabe und erhält durch die Vermittlung der Karlsruher Bühne den Schillerpreis. Durch diese Anerkennung bestätigt, kündigt Lindner seine Anstellung als Gymnasiallehrer im thüringischen Rudolstadt und zieht nach Berlin. Dort bleiben aber weitere Erfolge aus, und er stirbt geistig verwirrt im Jahre 1888.

Ein Bekannter beschreibt Lindners Leben als den vergeblichen Versuch, Gelehrsamkeit und Dichtung miteinander zu vereinen. Denn bei allem Bemühen, ein Dichter zu werden, habe ihm doch immer etwas Lehrerhaftes und Provinzielles angehaftet. Er nennt ihn im Rückblick auf seine frühe Berliner Zeit einen

kleinen unansehnlichen Schullehrer aus Thüringen, [...] der nur seine dichterischen Ideale in der Brust trug, sonst aber nichts von der Welt kannte und wusste und vollends in Berlin damals noch wie ein einsames Wild im verschneiten Walde umherirrte, während sein Rudolstadt noch sein Alles, seine Welt war, die ihn großgezogen, die ihn kannte und liebte.153

Daß das Lucretia-exemplum außerhalb der Schule kein zentrales Thema mehr ist, ergibt sich auch aus den beiden anderen Lucretia-Dramen, die nach Lindners Text entstehen. Beide Autoren sind erst knapp über zwanzig Jahre alt, als sie das Drama schreiben und debütieren mit diesem Stoff, verfolgen danach aber nicht eine Karriere als Dramenschreiber weiter, sondern wechseln in andere Berufe. So übernimmt Alfred Freiherr von Offermann, der im Jahre 1875 mit 22 Jahren eine „Lukretia“ veröffentlicht, die väterliche Textilfabrik und schreibt als Privatgelehrter betriebswirtschaftliche und philosophische Bücher154. Und

Friedrich Kummer, der 1889 mit 24 Jahren eine Tragödie mit dem Titel „Tarquin“ publizierte, arbeitete später als Feuilletonredakteur und Literatur- und Theaterhistoriker155. Anders als bei Lindner, der erst während seiner Tätigkeit als Gymnasiallehrer zum Dramatiker wird, wagen sich die beiden anderen Autoren noch im Laufe oder kurz nach ihrer Studienzeit an das dramatische Fach und wählen dafür den aus der Schule bekannten Stoff der Lucretia. Sie versuchen aber nicht, diese jugendlichen Versuche zur Grundlage ihrer späteren Karriere zu machen. So kann ihr Drama als Jugendsünde erscheinen, die sie im theaterbegeisterten Überschwang während ihres Studiums begehen156.

152 Zur Aufführung des Dramas vgl. Devrient 1904.

153 Zitiert nach Koch 1914, S. 6.

154 Vgl. Galinsky 1932, S. 208 – 211 und Mentschl 1999.

155 Vgl. Galinsky 1932, S. 211 – 216.

156 Daß Autoren sich in jungen Jahren an Lucretia-Dramen wagen, um an dem Stoff ihr dramatisches Talent zu erproben, ist kein Phänomen des 19. Jahrhunderts. So finden sich um 1600 gleich drei neulateinische Dramen, die jeweils im gelehrten Umfeld der Lateinschule entstehen (vgl. Galinsky 1932, S. 121 – 122, Bradner 1957, S.

48 und Hübner 1996, S. 10 – 13). Friedrich Balduin schreibt 1597 im Alter von 22 Jahren während seines Studiums in Wittenberg eine Lucretia, wird jedoch später Professor für evangelische Theologie. 1599 folgt eine Lucretia des Samuel Junius, der Schullehrer und zu diesem Zeitpunkt 32 Jahre alt ist. Die Reihe wird

beschlossen von Joachim Jungius, dessen nur handschriftlich überliefertes Drama auf die Zeit vor 1605 und damit in Jungius’ Schulzeit an einem Lübecker Gymnasium datiert wird. Jungius wird später Professor für Mathematik und treibt philosophische und medizinische Studien. Eine ähnliche Häufung findet sich um 1750, als das Lucretia-exemplum von jungen Dramatikern herangezogen wird, um daran die Regeln für das klassizistische Drama der Aufklärung zu erproben (vgl. Galinsky 1932, S. 164 – 174). So schreibt Johann Elias Schlegel im Jahre 1740 mit 21 Jahren ein Lucretia-Drama, und von Gotthold Ephraim Lessing ist eine Inhaltsskizze zu einem Drama über „Das befreyte Rom“ erhalten, die in die Jahre 1756 oder 1757 datiert und von Lessing also mit 27 oder 28 Jahren aufgesetzt wird.