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Aurelius Augustinus: De civitate dei

Vor dem Hintergrund der „positiven Anthropologie“, die Claudian am exemplum der Lucretia vorführt, und der rhetorischen Theorie des Emporius, der auf die Deutungsoffenheit des exemplum verweist, wird die besondere Leistung Augustins deutlich. Er macht nämlich die Deutungsoffenheit der exempla, die die Rhetorik lehrt, wieder neu für die anthropologische Reflexion nutzbar und setzt sie ein, um ein alternatives anthropologisches Modell gegen die vorherrschende „positive Anthropologie“ zu begründen. Dies folgt dem Grundmuster der

„negativen Anthropologie“.

Der unmittelbare Anlaß für Augustins De civitate dei ist der Fall Roms, das 410 von den Westgoten unter Alarich erobert und geplündert wird. Augustin nutzt das Ereignis und die Probleme, die sich für die Christen daraus ergeben, um eine allgemeine christliche

Glaubenslehre zu begründen. Das erste Buch, in dem er auf die Lucretia-Geschichte eingeht und das in der Zeit zwischen 413 und 415 entsteht, gehört zu der ersten Hälfte des Textes, in dem sich Augustin vor allem der Kritik und Zurückweisung der heidnischen Auffassung vom Menschen widmet. Hierin bildet es den Einstieg in den Block der Bücher 1 – 5, in denen Augustin sich gegen die heidnische Geschichtsauffassung wendet, und auf den der Block der Bücher 6 bis 10 folgt, die gegen die antike Philosophie gerichtet sind. Erst in der zweiten Hälfte entwickelt Augustin dann die Elemente einer christlichen Anthropologie, die auf der Unterscheidung zwischen einer christlichen Glaubensgemeinschaft, der civitas caelestis, und der irdischen Gemeinschaft, der civitas terrena, aufbaut. Diese Anthropologie ist implizit bereits schon in den frühen Büchern enthalten, denn Augustin mißt die heidnische

Anthropologie, von der er sich abgrenzt, an den Grundsätzen seiner eigenen christlichen Anthropologie und begründet seine Kritik mit ihr. Augustin stellt in seiner Unterscheidung der beiden civitates die christliche Glaubensgemeinschaft, die bereits auf Erden auf Gott und ein eigentliches Leben im Jenseits bezogen lebt und für die sich der Mensch entscheiden muß, gegen die rein irdische Existenz im Diesseits, die nur eine Stufe auf dem Weg zur civitas caelestis ist. Wann die civitas caelestis verwirklicht sein wird, läßt sich nicht sagen. Der Mensch muß daher versuchen, die Werteordnung der civitas caelestis so weit wie möglich schon in seinem irdischen Leben umzusetzen64.

Augustins Auseinandersetzung mit der Geschichte der Lucretia nimmt das aktuelle Thema seines Textes, den Fall Roms direkt auf. Während der Plünderung der Stadt durch Alarichs Truppen ist es zu Vergewaltigungen von Frauen gekommen, und in der Folge erwägen einige der Opfer den Selbstmord oder begehen ihn sogar. Für diesen aktuellen Fall will Augustin nun eine Verhaltensregel geben, die den christlichen Grundsätzen entspricht. Hierfür zieht er das exemplum der Lucretia heran, die sich in einer ähnlichen Situation für den Freitod entscheidet.

64 Zu Entstehung und Aufbau von De civitate dei vgl. Horn 1997, S. 2 – 9 und O’Daly 1999, S. 27 – 38.

Sie scheint den Selbstmord als vorbildliche Verhaltensweise zu präsentieren und könnte für die christlichen Frauen ein Vorbild sein.

Augustin verwendet das exemplum in Sinne der rhetorischen Theorie als Beweismittel, mit dem ein aktuelles Problem erläutert werden kann. Ähnlich wie Montaigne zitiert auch er das exemplum der Lucretia zunächst im Sinne der „positiven Anthropologie“, um dann die gewohnheitsmäßige Verwendung zu prüfen und schließlich abzulehnen. Den Regeln der

„positiven Anthropologie“ zufolge, die sich etwa bei Claudian findet, kann die Keuschheit durch mutigen und entschlossenen Selbstmord unter Beweis gestellt und gesichert werden.

Hiergegen stellt Augustin die individuelle Situation der Lucretia. Entscheidend für ihre Keuschheit ist die innere Einstellung, die sie gegenüber dem erzwungenen Geschlechtsakt einnimmt. Ob sie wirklich keusch ist, läßt sich nur daran ermessen, ob sie sich die Keuschheit zu einem Ziel gesetzt hat, das sie gegen alle Widerstände aufrechterhalten will, nicht aber daran, daß sie äußerlich erkennbare Verhaltensmuster befolgt.

Wie bei Montaigne wird das exemplum der Lucretia dadurch zum Anschauungsobjekt einer

„negativen Anthropologie“. Denn er kritisiert am Beispiel der Lucretia nicht nur die „positive Anthropologie“, die feste Normen dafür definiert, wie sich der Wert der Keuschheit erreichen läßt, sondern führt gleichzeitig auch vor, wie die „negative Anthropologie“ funktioniert. Er führt die Geschichte, von der das exemplum der Lucretia berichtet, auf das tatsächliche Ereignis zurück und zeigt die Handlungsoptionen auf, die Lucretia in ihrer Situation hat.

Ausgehend davon ergibt sich jedoch die Vorschrift der „negativen Anthropologie“, sein Handeln immer nur versuchsweise auf Werte auszurichten, die nie endgültig gesichert werden können. Lucretia gibt ein Negativbeispiel ab, denn sie orientiert sich stattdessen an festen und wiedererkennbaren Normen und glaubt, den Wert der Keuschheit schon allein dadurch für sich zu garantieren65.

Anders als bei Montaigne werden die beiden Anthropologien von Augustin allerdings mit Glaubenshaltungen verbunden, und er ordnet die „positive“ der heidnischen Seite, die

„negative“ der christlichen Seite zu. Zudem wählt Augustin nicht die Form eines Essays, um sich mit dem exemplum auseinanderzusetzen, sondern ordnet seine Kritik in den größeren Rahmen eines religiösen Traktats ein. Dabei gibt er erst einleitend eine Zusammenfassung der Geschichte, um dann einzelne Punkte aus der Geschichte einer ausführlichen Kritik zu

unterziehen.

Innerhalb seiner Argumentation wendet Augustin dieselben Verfahren an, mit denen Montaigne in seinem Essay „De l’inconstance de nos actions“ die mit einer „positiven Anthropologie“ aufgeladenen exempla kritisiert. Augustins Analyse von Lucretias Verhalten

65 Für die weite Verbreitung der „positiven Anthropologie“, die Claudian mit dem exemplum der Lucretia verbindet, spricht die Tatsache, daß auch die zeitgenössischen christlichen Autoren die Lucretia als Beispiel für vorbildliches Verhalten führen. So zieht Paulinus von Nola das exemplum der Lucretia in Carm. 10,192 zum Vergleich heran, um seine Frau als vorbildliche Ehefrau herauszustellen. Wie bei Claudian ist das exemplum auch hier synonym mit dem Wert der Keuschheit gesetzt. Hieronymus zitiert das exemplum der Lucretia in Adv.

Iov. I,46,49 und ep. 123,7 ohne Einschränkung als Beispiel für vorbildliches weibliches Verhalten. Dies ist umso verwunderlicher, weil Hieronymus für den Katalog der vorbildlichen Frauen in Adv. Iov. 1,41 – 47 neben Senecas verlorener Schrift De matrimonio auch Tertullians Schriften De exhortatione castitatis und De monogamia benutzt. Dort wird die Lucretia jedoch zwiespältig beurteilt. Die unbedingte Treue zu ihrem Mann erscheint Tertullian, der sich gegen die Wiederverheiratung einsetzt, zwar durchaus nachahmenswert. Im Selbstmord sieht er jedoch eine problematische Überreaktion, die er sich mit Lucretias Eitelkeit erklärt und ablehnt (vgl. Tertullian De exhortatione castitatis 13,3, De monogamia 17,3, vgl. außerdem Ad martyras 4,4).

Die Tendenz zur „positiven Anthropologie“ in der spätantiken christlichen Literatur geht also soweit, daß auch solche Einwände geglättet werden, die in der eigenen Traditionslinie gemacht werden (vgl. Geldner 1977, S. 153 – 167 und Trout 1994, S. 61 – 62).

soll vor allem aufdecken, daß sich Lucretias Verhalten mit Normen nicht eindeutig erfassen läßt. Daher weist er vor allem auf die die Widersprüche innerhalb ihres Handelns hin. Er zieht jedoch auch mehrfach Zitate antiker Autoren heran, die er zu zusätzlichen Argumente gegen die „positive Anthropologie“ umformen kann. Schließlich mündet seine Analyse auch in einen Vergleich mit der Wirklichkeit. Abschließend geht es darum, ob die Normen, die die

„positive Anthropologie“ mit dem exemplum verbindet, tatsächlich auf den aktuellen Fall der vergewaltigten Christinnen bezogen werden können66.

Augustin verwendet mehrere der Argumente, die Emporius als Beispiel dafür anführt, wie ein Redner den Plan der Lucretia, Selbstmord zu begehen, zurückweisen kann. Zwar macht Emporius die Geschichte der Lucretia nicht wie Augustin zum Gegenstand eines

nachträglichen Urteils, sondern wählt sie als Thema für eine beratende Rede, die noch vor dem Selbstmord einsetzt und dafür oder dagegen plädieren muß. Da beide aber das Für und Wider des Selbstmords abwägen, ergeben sich prinzipiell dieselben Möglichkeiten zu argumentieren. Eine direkte Abhängigkeit zwischen Augustin und Emporius ist eher unwahrscheinlich67. Dennoch kann der Text des Emporius als Zeugnis für die rhetorische Theorie und Praxis in der Zeit Augustins herangezogen werden. Denn ganz offensichtlich handelt es sich beim Text des Emporius eher um eine Niederschrift der allgemein

praktizierten rhetorischen Lehren als um eine originelle Neudefinition des genus

deliberativum. Man kann davon ausgehen, daß das exemplum zur Lucretia oft als Gegenstand der Deklamationsreden eingesetzt wird, weil es zum allgemeinen Bildungsgut der Spätantike gehört. Entsprechend bekannt und verbreitet sind daher auch die verschiedenen Möglichkeiten zu argumentieren, die sich bei Emporius finden.

In einem ersten Schritt nimmt Augustin den Ausspruch eines – heute nicht mehr

bestimmbaren – Deklamators auf, der Lucretia wohlwollend gegenübersteht, und nutzt dieses Zitat, um daraus ein Argument gegen Lucretias Selbstmord zu gewinnen:

Ein gewisser Redner sagt in einer Deklamation ausgezeichnet und der Wahrheit gemäß:

„Wunderlich zu sagen, es waren zwei und nur einer hat Ehebruch begangen“. Deutlich und sehr wahr. Denn er betrachtet in dieser Verbindung zweier Körper die äußerst schändliche Begierde des einen und den äußerst keuschen Willen der anderen (unius inquinatissimam cupiditatem, alterius castissimam voluntatem) und richtet seine Aufmerksamkeit nicht darauf, was hinsichtlich der Verbindung der Körperteile, sondern was hinsichtlich der Unterschiede in ihren Seelen (animorum diversitate) geschieht. Er sagt: „Es waren zwei, aber nur einer hat Ehebruch begangen“. Aber wie verhält es sich damit, daß diejenige härter

66 Zu den Strategien, die Augustin für die Kritik der exempla in den ersten Büchern von De civitate dei anwendet, vgl. Pollmann 1997. Zur Kritik des exemplum der Lucretia im besonderen vgl. Honstetter 1977, S.

132 – 136, Trout 1994 und Oranje 1996.

Pollmann, die für alle Bücher 1 – 5 untersucht, wie Augustin den mos maiorum anhand der exempla und der Texte der antiken Klassiker kritisiert, gibt eine Überblicksliste über die Verfahren, die er anwendet. Ihre Liste deckt sich weitgehend mit den hier genannten Verfahren. So nennt sie als erste Technik „die radikale,

unvereinbare Antithese zwischen negativem Heidentum und positivem Christentum, wobei oft das Heidentum aufgrund innerer Widersprüche als trügerisch und falsch erwiesen werden soll“. Auch Montaigne geht es darum, Widersprüche in Lucretias Handeln aufzudecken. Als zweite Technik führt Pollmann dann „die Ausspielung kritischer paganer Stimmen gegen das durch diese selbst kritisierte Heidentum“ an, die sich bei Montaigne in Form antiker Zitate findet, die er gegen die exempla wendet. Als dritte Technik Augustins kommt bei Pollmann die „integrierende Anverwandlung der paganen Tradition in die christliche Weltsicht“ hinzu, bei der das Heidentum als heilsgeschichtlich überholter Vorläufer des Christentums gedeutet wird. Sie hat keine Parallele bei Montaigne (vgl. Pollmann 1997, S. 26).

67 Zumindest entstehen beide Texte in ungefähr demselben Zeitraum, denn Emporius wird auf das vierte oder fünfte Jahrhundert datiert und Augustin schreibt die ersten fünf Bücher von De civitate dei in den Jahren 413 – 415. Da über Emporius allerdings keine genaueren Angaben gemacht werden können, läßt sich weder eine tatsächliche Abhängigkeit noch die Art der Beziehung zwischen beiden Texten mit Sicherheit klären.

bestraft wird, die den Ehebruch nicht begangen hat? Denn jener wurde nur mit seinem Vater aus seinem Vaterland vertrieben, diese ist mit der Höchststrafe belegt worden. Wenn jenes keine Unkeuschheit ist, durch die sie gegen ihren Willen überwältigt wird, so ist dies auch keine Gerechtigkeit (iustitia), durch die sie trotz ihrer Keuschheit bestraft wird (casta punitur).68

Augustin verwendet das Zitat, das der Deklamator in einer längeren Rede zugunsten der Lucretia anführt, außerhalb seines ursprünglichen Kontextes und gewinnt aus ihm einen Ansatzpunkt, mit dem er seine eigene Anthropologie darstellen kann. So wird der Deklamator zum Anwalt einer These, die er selbst gar nicht vertritt. Wie Montaigne, der die antiken Zitate zur menschlichen Wechselhaftigkeit gegen eine Lektüre der exempla ausspielt, die aus ihnen rezeptartig verwendbare Handlungsmuster ableiten will, greift auch Augustin zu einem überlieferten Zitat, das er anders für seine Zwecke einsetzt.

Das Zitat des anonymen Deklamators dient Augustin dazu, neben der pudicitia, die Lucretia durch den Selbstmord anstrebt und die hier mit dem synonymen Begriff der castitas

beschrieben wird, einen weiteren Wert als Kriterium dafür zu gewinnen, um ihr Verhalten zu beurteilen. Dies ist die Frage danach, ob durch den Selbstmord auch iustitia, Gerechtigkeit, erzielt wird. Hier kann man die Norm geltend machen, daß Unschuldige nicht stärker bestraft werden dürften als Schuldige. Genau dies ist jedoch der Fall, wenn Sextus Tarquinius zwar mit seinem Vater verbannt wird, aber am Leben bleibt, während die unbeteiligte Lucretia sterben muß. Denn es ist Sextus, der unkeusch handelt, nicht Lucretia, die ganz im Gegenteil ihre Keuschheit bewahrt.

Mit diesem Argument verfolgt Augustin eine Strategie, die auch Emporius für eine Gegenrede gegen Lucretia vorschlägt. Er kritisiert die Norm des Selbstmords, die für die pudicitia

geltend gemacht wird, indem er übergeordnete Werte und Normen heranzieht. Emporius schlägt vor, den Tod als das größte Übel darzustellen, das der Mensch auf jeden Fall

vermeiden muß. Ganz ähnlich macht Augustin darauf aufmerksam, daß der Tod eine zu große Strafe für Lucretia darstellt.

Während der entschlossene Selbstmord auf die Tugend der pudicitia verweist, widerspricht die Tatsache, daß damit zugleich eine Unschuldige bestraft wird, den Regeln der iustitia.

Dieselbe Handlung des Selbstmords verweist also auf zwei unterschiedliche Werte, die sich eigentlich ausschließen müßten, um eine eindeutige Bewertung zu erreichen. Nun ist Lucretia aber keusch und ungerecht zugleich. Indem Augustin zwei Normen gegeneinander ausspielt, stellt er auf diese Weise auch in Frage, ob Normen überhaupt tauglich sind, um das Handeln der Lucretia sicher zu beurteilen.

Zugleich deutet Augustin an, wie sich ein sicheres Urteil über Lucretia fällen läßt, ohne auf Normen zurückzugreifen. Denn er lobt den anonymen Deklamator dafür, daß er ihr Verhalten nicht mit Hilfe äußerlich sichtbarer Kriterien ermessen will, sondern nur ihre seelische

Verfassung berücksichtigt. Auch Augustin will nur die Motive gelten lassen, von denen sich Lucretia leiten läßt. Entsprechend stellt er im Vergleich von Sextus und Lucretia auch „die äußerst schändliche Begierde des einen und den äußerst keuschen Willen der anderen“

68 Augustinus, De civitate dei (CSEL) I,19,16 – 17: Egregie quidam ex hoc veraciterque declamans ait:

«Mirabile dictu, duo fuerunt et adulterium unus admisit.» Splendide atque verissime. Intuens enim in duorum corporum commixtione unius inquinatissimam cupiditatem, alterius castissimam voluntatem, et non quid coniunctione membrorum, sed quid animorum diversitate ageretur adtendens: «Duo, inquit, fuerunt, et

adulterium unus admisit.» Sed quid est hoc, quod in eam gravius vindicatur, quae adulterium non admisit? Nam ille patria cum patre pulsus est, haec summo est mactata supplicio. Si non est illa inpudicitia qua invita

opprimitur, non est haec iustitia qua casta punitur.

gegenüber (unius inquinatissimam cupiditatem, alterius castissimam voluntatem). Sextus ist bestimmt von triebhafter Begierde, die ihn dazu verleitet, Schändliches zu tun, während Lucretia sich von einem Willen bestimmen läßt, den sie auf das Ziel der Keuschheit

ausrichtet. Augustinus verbindet die Wertbegriffe der Keuschheit auf der einen Seite und der Schändlichkeit auf der anderen Seite jeweils mit den Absichten und Zielen, die Lucretia und Sextus verfolgen. Ob sie sich der pudicitia oder der voluptas verschreiben, ergibt sich nur daraus, ob sie diesen Wert als kontinuierliches Ziel vor Augen haben und versuchen, ihm zu genügen. An die Stelle einer inhaltlich argumentierenden Anthropologie tritt damit die formale Vorgabe der „negativen Anthropologie“. Lucretias Selbstmord ist daher gar nicht nötig, um ihre pudicitia unter Beweis zu stellen. Es zählt, wie sie sich im Moment des

erzwungenen Geschlechtsverkehrs innerlich dazu verhält. Bleibt sie keusch oder teilt sie sich mit Sextus Tarquinius sexuelle Lust und Vergnügen?

Um noch weitere Zweifel an der traditionellen Auslegung des Lucretia-exemplum zu wecken, nimmt Augustin in einem zweiten Argumentationsschritt die Frage wieder auf, ob der

Selbstmord nicht gegen die Maßstäbe der Gerechtigkeit verstößt. Hierfür beruft er Lucretia vor ein imaginäres Gericht, das über ihre Schuld oder Unschuld befinden soll, und hält eine kurze Anklagerede gegen sie. Dann überprüft er, ob ihr Selbstmord vor dem Gericht der Unterwelt im Hades Bestand halten kann. Die Argumentationsstrategie, Lucretia vor ein Gericht zu zitieren, hat eine Parallele in der Art und Weise, wie Emporius das exemplum einsetzt. Auch er macht es zum Gegenstand einer Rede, in der beurteilt werden muß, ob der Selbstmord der richtige Schritt für Lucretia ist oder nicht.

Augustin bekräftigt nochmals den Konflikt zweier Normen und Werte, in dem der Selbstmord der Lucretia steht. Einerseits ist sie keusch und damit unschuldig, andererseits muß sie aber auch als ungerecht und damit schuldig gelten, weil sie eine Unschuldige tötet:

Ich rufe Euch an, ihr römischen Gesetze und Richter. Offenbar wolltet ihr, daß, selbst wenn Schandtaten begangen worden sind, auch ein Verbrecher nicht ungestraft ohne Urteil getötet wird. Wenn also irgend jemand dieses Verbrechen vor euer Gericht brächte und euch beweisen würde, daß eine Frau nicht nur ohne Urteil, sondern auch noch keusch und unschuldig getötet worden sei, würdet ihr den, der dies getan hat, nicht mit angemessener Strenge bestrafen? Dies hat jene Lucretia getan; jene, jene gepriesene Lucretia hat die unschuldige, keusche Lucretia, die gerade Gewalt erlitten hatte, auch noch getötet.69

Auch wenn Lucretia bereits tot ist und die irdische Gerichtsverhandlung ein Gedankenspiel bleiben muß, wird sie sich vor den unterirdischen Richtern im Hades verantworten müssen.

Dort entscheiden Minos, Aeacus und Rhadamanthus vor dem Eingang in den Hades darüber, welche Menschen in die Hölle des Tartarus verstoßen werden und welche Eintritt ins Elysium erhalten.

Um dies zu zeigen, zitiert Augustin einige Passagen aus Vergils Aeneis, die zum traditionellen Bestand des Bildungskanons gehören und in denen der Platz der Selbstmörder in der

Unterwelt geschildert wird. Ähnlich wie zuvor bei dem Satz des anonymen Deklamators nimmt Augustin auch hier wieder ein Zitat aus einem anderen Kontext auf und wendet es so, daß es als Beweismittel gegen Lucretia eingesetzt werden kann. Vergil geht zwar nicht selbst auf Lucretia ein, Augustin entnimmt seinem Text aber zusätzliche Informationen, die gegen

69 Augustinus, De civitate dei (CSEL) I,19,27 – 35: Vos appello, leges iudicesque Romani. Nempe post perpetrata facinora nec quemquam scelestum indemnatum inpune uoluistis occidi. Si ergo ad vestrum iudicium quisquam deferret hoc crimen vobisque probaretur non solum indemnatam, verum etiam castam et innocentem interfectam esse mulierem, nonne eum, qui id fecisset, severitate congrua plecteretis? Hoc fecit illa Lucretia;

illa, illa sic praedicata Lucretia innocentem, castam, vim perpessam Lucretiam insuper interemit.

Lucretias Selbstmord sprechen. Sie wird nämlich zu den Menschen gehören, von denen Vergil berichtet, daß ihnen die Tore der Unterwelt verschlossen bleiben, weil sie von eigener Hand gestorben sind:

Sicherlich verteidigt ihr diese auch durch keine Erörterung vor solchen unterirdischen Richtern, wie sie in den Gedichten eurer Schriftsteller besungen werden, sie, die natürlich unter jene gesetzt wird, „die sich, obwohl sie schuldlos sind, durch eigene Hand den Tod gegeben und ihr Leben weggeworfen haben, weil ihnen das Licht verhaßt ist“[vgl. Vergil, Aen. VI, 434 – 436]. Und wenn sie in die Oberwelt zurückkehren will, „steht das göttliche Recht entgegen, der trauerbringende Sumpf und die unfreundlichen Teiche binden sie“ [vgl.

Vergil, Aen. VI, 438 – 439].70

Selbst die antiken Texte weisen also Lucretia einen Sonderstatus zu. Sie muß mit den anderen Selbstmördern auf der Seite des Styx verweilen, die noch der Oberwelt zugewandt ist, und kann nicht auf die andere Seite übersetzen, wo erst über sie Recht gesprochen wird.

Selbst die antiken Texte weisen also Lucretia einen Sonderstatus zu. Sie muß mit den anderen Selbstmördern auf der Seite des Styx verweilen, die noch der Oberwelt zugewandt ist, und kann nicht auf die andere Seite übersetzen, wo erst über sie Recht gesprochen wird.