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Die Datierung der Declamatio und ihr Standort in der Gattungsgeschichte

Der Text wird auf das Jahr 1367 datiert179. Salutati ist zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre und, mit Hauptwohnsitz in seiner Heimatstadt Stignano, wechselweise als privater Notar und

Kommunalsekretär der Städte der Valdinievole tätig. Er hat sich aber gerade erfolgreich um sein weiteres Fortkommen bemüht und tritt noch im selben Jahr eine Stelle als Kanzler der Stadt Todi an. Für die Datierung sprechen mehrere Gründe.

Zum einen läßt sich für diese Zeit eine intensive schriftstellerische Tätigkeit Salutatis nachweisen, von der er gegen Jahresende in zwei Briefen aus Todi berichtet. Wohl noch in Stignano hat Salutati eine an Ovid orientierte Elegie mit der Conquestio Phyllidis

geschrieben180, und zu Beginn seiner Amtstätigkeit in Todi übt er sich, wie er Boccaccio schreibt, in verschiedenen literarischen Gattungen181. Die Declamatio Lucretie ist mit der Conquestio Phyllidis thematisch verbunden, denn auch hier wird eine Rede ausgeführt, die Phyllis kurz vor ihrem Selbstmord hält. Die beiden Texte könnten also aufeinander bezogen entstanden sein. Während Phyllis aus allzu großer Liebe einen tadelnswerten Selbstmord begeht, gibt die Lucretia als Pendant ein Beispiel für einen begründeten Selbstmord, der sich auf gesicherte Werte und Normen bezieht.

178 Dieser Titel ist durch die Handschriften nicht gesichert, die als Grundlage für den hier benutzten Text dienen, hat sich aber in der neueren Forschung durchgesetzt (vgl. Menestò 1971 und Jed 1989). Ullman verwendet nur Lucretia als Titel (vgl. Ullman 1963, S. 34) und Witt schlägt De Lucretia vor (vgl. Witt 1983, S. 83). Daß Salutati selbst wohl aber den Titel Declamatio Lucretie vorgesehen hat, geht aus einem Brief von 1391 hervor, in dem er den Text mit diesem Titel bezeichnet (vgl. Salutati, Epistolario IV, 253,20 – 23). Da Salutati sich an dieser Stelle jedoch nur auf eine Passage aus der Rede der Lucretia bezieht, bleibt weiterhin die Möglichkeit bestehen, daß er mit dem Titel nicht beide Reden insgesamt, sondern nur ihren Redeteil meint. Der Titel einer Declamatio ist jedoch insofern gerechtfertigt, als daß der Titel auch als „Erörterung über den Fall der Lucretia“

verstanden werden kann und dann beide Reden umfaßt.

179 Vgl. Witt 1983, S. 83. Als sicherer terminus ante quem läßt sich allerdings nur das Jahr 1391 nennen, in dem Salutati in einem Brief eine Passage aus seiner Declamatio erläutert (vgl. Salutati, Epistolario IV, 253,20 – 23).

In der Liste seiner Werke, die Salutati 1405 brieflich gibt, fehlt die Declamatio (vgl. Salutati, Epistolario IV, 69 – 77).

180 Vgl. Jensen 1968. Als Quelle dient Salutati Ovid, Her. 2 (Phyllis Demophoonti).

181 Vgl. Salutati, Epistolario I, 48 – 49.

Zum zweiten schreibt Salutati die beiden Texte zu einem Zeitpunkt nieder, als noch nicht abzusehen ist, ob ihm der Wechsel von der Tätigkeit als Rechtsanwalt in der Provinz zu den Aufgaben eines Kanzlers gelingt. In dieser Übergangssituation können die Texte eine

wichtige Aufgabe erfüllen. Sie lassen sich als Bewerbungsschreiben interpretieren, mit denen Salutati unter Beweis stellt, daß er über die nötigen Voraussetzungen verfügt, um auf höherer Ebene Karriere zu machen. Entscheidend dafür ist, daß er sicher und versiert im Umgang mit der lateinischen Sprache ist, eine Fähigkeit, die für die Tätigkeit als Kanzler, die Salutati anstrebt, unerläßlich ist. So gehört es später in Florenz zu seinen Aufgaben, als Außenminister die Korrespondenz der Stadt mit auswärtigen Stellen zu führen und bei offiziellen Anlässen Reden zu halten. Mit den beiden Texten zeigt Salutati, daß er historische und mythologische Inhalte kennt, die zur Allgemeinbildung gehören und gelegentlich als Bildungsgut in den Staatsbriefen anzitiert werden. Auf formaler Ebene demonstriert er, daß er die rhetorischen Techniken beherrscht, die für das Verfassen von Reden und Briefen nötig sind, einmal mittels der isolierten Klagerede der Phyllis, dann mit dem Rededuell zwischen Lucretia und ihren Verwandten. Und dadurch, daß die Conquestio Phyllidis in elegischen Distichen gehalten ist, zeigt er, daß er neben der Prosa auch poetische Texte verfassen kann und das dafür nötige Wissen über Versmaße mitbringt182. Schließlich stellt er auch seine Belesenheit auf dem Gebiet der antiken Texte unter Beweis. Denn Salutati greift für die Declamatio Lucretie nicht auf die bekannten mittelalterlichen Fassungen des exemplum zurück, sondern übernimmt zahlreiche Versatzstücke, die er seinen Rednern in den Mund legt, direkt aus den antiken Quellen. Hierfür nutzt er zudem nicht nur den Text des Livius, sondern auch die Fassung, die Ovid in den Fasti gibt, und nimmt sogar einige Elemente aus Augustins Bearbeitung auf183. Als drittes Argument für die Datierung in das Jahr 1367 läßt sich schließlich die private Situation Salutatis anführen. Im Jahr zuvor hat er in seiner Heimatstadt Stignano Caterina di Tomeo di Balducci geheiratet, die Tochter eines der reichsten Männer der Gemeinde, und seine beruflichen Pläne durch eine standesgemäße Heirat gestützt184. In der Declamatio Lucretie legt Salutati nun einen thematischen Schwerpunkt bei der pudicitia der Frau und mißt sie vor allem daran, ob sich Lucretia durch ihr Verhalten als korrekt handelnde Ehefrau erwiesen hat. Daß sich Salutati ausgerechnet für dieses Thema und diesen Schwerpunkt entscheidet, kann also auch dadurch begründet sein, daß ihn zu dieser Zeit gerade die Werte beschäftigen, über die er das Eheleben definiert sieht.

182 Als weiteres Argument für die Rolle der Declamatio als Ausweis seiner sprachlichen Fähigkeiten kann auch die Rezeptionsgeschichte des Textes geltend gemacht werden. Die Declamatio ist in sehr vielen Handschriften überliefert und war als Übungsstück noch bis weit in das 15. Jahrhundert sehr beliebt. Ein interessantes Beispiel bildet die Greifswalder Handschrift der Declamatio, die Müller 1878 editiert hat. Die Handschrift wird in den Jahren 1454 bis 1456 von dem aus Marburg stammenden Theologen Johannes Herrgott geschrieben. Herrgott, der zunächst als Kirchenbeamter in Straßburg und später auch als Missionar tätig ist, legt die Handschrift während seiner Zeit als Rektor der Universität Turin an, in der er das Doktoratsexamen in kanonischem Recht besteht. Sie enthält vor allem eigene Reden und Texte, die in Turin entstanden sind und sein Rektorat und das bestandene Doktoratsexamen betreffen. Hinzu kommen jedoch einige weitere Texte, die Herrgott offenbar als Hilfsmittel für sein rechtswissenschaftliches Studium kopiert, so etwa ein Breviarium ad inveniendum omnes materias in jure canonico et specialiter in Decreto. Es liegt nahe, daß er auch die Declamatio, die rhetorisch ausgefeilt das Für und Wider eines Selbstmords diskutiert, als Übung für das Rechtsstudium nutzen will. Für die Beschreibung der Handschrift vgl. Müller 1874, S. 170 – 175, für Herrgotts Biographie vgl. Müller 1874, S. 175 – 181. Weitere Belege für die europaweite und lang anhaltende Rezeption der Declamatio finden sich

zeitgenössisch in Frankreich bei Nicolas de Clamanges (vgl. Bérier 1996), später im Jahre 1472 in Deutschland durch die Übersetzung von Albrecht von Eyb (vgl. Galinsky 1932, S. 55 – 58) und schließlich noch im 16.

Jahrhundert in Italien bei Matteo Bandello (vgl. Galinsky 1932, S. 86 – 89).

183 Die Versatzstücke, die Salutati aus Livius und Ovid übernimmt, sind bei Menestò aufgelistet (vgl. Menestò 1971, S. 16 – 18, vgl. auch Menestò 1979). Für Augustin als Quelle vgl. Galinsky 1932, S. 46, Klesczewski 1983, S. 328 – 329 und Fontanarosa 1999a, S. 138 – 139.

184 Vgl. Witt 1983, S. 39.

Die Gattung der declamatio, in der Salutati das Lucretia-exemplum bearbeitet, hat in der Zeit Salutatis ihren Ort in der Schule185. Dort dient sie als Textmaterial für den Rhetorikunterricht.

Die schriftlich vorliegenden Texte dienen als Untersuchungsgegenstand und Beispiel dafür, wie Argumente für oder gegen eine Sache vertreten werden können und welche rhetorischen Techniken dafür nötig sind. Neben dem Typ der declamatio, in dem eine einzige Perspektive auf einen meist juristischen Problemfall geäußert wird, gibt es auch die Konfrontation zweier declamationes pro und contra, die das Prinzip des in utramque partem disserere umsetzen.

Als Textgrundlage für den Unterricht dienen meist Ciceroreden, die an tatsächlichen Fällen orientiert sind. Mit geringerer Verbreitung kommen noch die beiden Sammlungen des älteren Seneca hinzu, die Beispieltexte für mündlich vorgetragene Übungsreden der antiken

Rhetorenschulen liefern und sich an mythologischen und historischen Themen abarbeiten. Sie folgen zum einen dem Muster der Controversiae, in der verschiedene Redner das Für und Wider desselben Falls in Gegenreden diskutieren, und zum anderen dem der Suasoriae, die einer historischen Person Rat in einer Zwangslage erteilen sollen. Auch für die unter dem Namen Quintilians überlieferten Declamationes maiores liegen mehrere mittelalterliche Handschriften vor, die auf die Benutzung der Texte in der Schule schließen lassen. Anders als in der Antike, in der der selbständige Vortrag und die freie Argumentation der Schüler einen wesentlichen Teil der Ausbildung ausmacht, geht die Schulrhetorik in der Zeit Salutatis vom Textstudium aus und verzichtet meist auf eine actio, in der die Reden mündlich gehalten werden. Entsprechend steht nicht mehr die Anleitung zum Redenschreiben im Vordergrund, wie noch bei Emporius, der das exemplum der Lucretia nutzt, um Hinweise für den Aufbau einer beratenden Rede zu geben. Stattdessen werden Beispielreden untersucht, an denen sich die rhetorischen Verfahren direkt studieren lassen.

Salutati folgt der Form der Doppelrede, bei der eine Einleitung kurz das zur Diskussion stehende Problem skizziert und dann auf eine Rede für einen Sachverhalt eine Widerrede mit Gegenargumenten folgt. Wie in den declamationes der Schulrhetorik wählt Salutati einen überlieferten historischen Anlaß, um an einer Stelle des Geschehens eine Diskussion über die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten einzuschieben186. In der Logik des Textes bleibt zunächst offen, ob Lucretia Selbstmord begeht oder nicht, und Salutati behandelt die Auseinandersetzung, die den Selbstmord noch verhindern will. In seiner Darstellung des Geschehens folgt Salutati dem Grundmuster der „positiven Anthropologie“. Er führt den Selbstmord nicht auf das eigentliche Ereignis zurück, Lucretias Selbstmord, mit dem sie versucht, einen universalen Wert zu sichern, sondern erfaßt das Problem mit festgelegten Werten und Normen. Der Konflikt zwischen den beiden Parteien zielt auf die Frage, mit welchen Werten und Normen, die als gegeben vorausgesetzt werden, Lucretias geplanter Selbstmord beurteilt werden muß. Salutati läßt seine Redner alles, was geschehen kann, mit angeblich universalen Werten und Normen beschreiben und erklären. Garantiert Lucretias Weiterleben, daß ihr guter Ruf gewahrt bleibt, oder schädigt es ihn? Kann Lucretia trotz der Vergewaltigung weiter die pudicitia für sich in Anspruch nehmen, oder ist sie für immer verloren? Lucretia und ihre Verwandten streiten darüber, mit welchen Normen ihr Handeln beschrieben werden kann, die Normen selbst werden aber durch diesen Streit nicht

grundsätzlich in Frage gestellt187.

185 Zur Gattungsgeschichte der declamatio vgl. Poel 1987, Ijsewijn 1998, S. 166 – 169 und Haye 1999, S. 9 – 11.

186 Salutati orientiert sich sogar bei der Themenwahl an den Vorgaben der antiken Rhetorik. Das Thema der Vergewaltigung ist oft Gegenstand der überlieferten antiken Deklamationen (vgl. Packman 1999).

187 Für die Interpretation der Declamatio vgl. Galinsky 1932, S. 44 – 46, Klesczewszki 1983, S. 327 – 329, Jed 1987, Jed 1989, Jed 1991 und Fontanarosa 1999a, S. 138 – 139.