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In der griechischen rhetorischen Theorie wird das Beispiel, das paradeigma, als ein Beweismittel klassifiziert, mit dessen Hilfe eine These zu einem aktuellen Fall gestützt werden kann. Aus einem analogen Fall aus der Vergangenheit läßt sich dieselbe Schlußfolgerung ziehen, und dieser Präzedenzfall gibt daher auch die Bewertung des

Problems vor, das gerade zur Diskussion steht. In der römischen Geschichtsschreibung wird diese aus dem Griechischen übernommene rhetorische Technik mit der traditionellen römischen Sicht der Geschichte verbunden und bekommt als exemplum eine viel

weitergehende Funktion zugesprochen. Die exempla bezeichnen hier nicht nur Beweismittel, die der Redner als Argumentationsmittel nutzen kann, sondern sind die Form, in der

Vergangenheit erfaßt und tradiert wird.

Dies hängt damit zusammen, daß die römische Nobilität die Geschichte der Republik als Ergebnisse des Handelns einzelner historischer Akteure auffaßt. Die Schritte, die zur Gründung, Erweiterung und zum endgültigen Aufbau des römischen Reichs führen, erscheinen so jeweils als Taten einzelner Männer aus dem Kreis der Nobilität. Indem die Oberschicht sich auf sie als ihre Ahnen berufen kann, begründet sie gleichzeitig ihren Herrschaftsanspruch. Außerdem dienen die Helden der Vergangenheit als Bezugsfiguren für die moralische Orientierung. Die Oberschicht kann aus ihnen den mos maiorum, den Brauch der Vorväter, herleiten, über den sie ihr Selbstverständnis definiert. Die Perspektive, in der die römische Oberschicht ihre eigene Geschichte wahrnimmt, ist also bereits stark auf exempla ausgerichtet. Sie hebt einzelne Personen besonders heraus und sieht in ihnen die

Eigenschaften verkörpert, die zum Erfolg der römischen Republik geführt haben. Orientiert man sich weiterhin an ihnen, kann diese Erfolgsgeschichte fortgeschrieben werden31. Die römische Geschichtsschreibung ist seit ihren Anfängen darauf ausgerichtet, diese Sicht der Geschichte zu transportieren. Zunächst geschieht dies in Form der annalistischen

Geschichtsschreibung, die die aus römischer Perspektive wichtigsten Ereignisse eines Jahres chronologisch auflistet. Da die Verfasser meist selbst aus senatsaristokratischem Umfeld kommen und politisch aktiv sind, sind für sie die dafür nötigen Verhaltensregeln noch weitgehend selbstverständlich. Hier werden die Werte des mos maiorum noch nicht

31 Vgl. Hölkeskamp 1996 und die Beiträge in Linke/ Stemmler 2000. Stemmler 2000 überspitzt allerdings die Trennung zwischen einer griechischen und einer römischen Auffassung des exemplum, wenn er die griechischen

„logischen“ exempla, die eine strenge Analogie zwischen historischem und aktuellem Geschehen herstellen wollen, von den römischen „symbolischen“ exempla unterscheidet, die die auctoritas der Vergangenheit repräsentieren sollen (vgl. Stemmler 2001, S. 161).

ausdrücklich zum Thema gemacht. Erst mit Cicero, der als homo novus in die Politik kommt, setzt die Tendenz ein, die Geschichte und ihre Helden auf exempla hin zu verdichten und direkt bestimmte Werte und Verhaltensregeln mit ihnen zu verknüpfen. Nun werden die Werte, die bisher nur unausgesprochen mit der Geschichte verbunden sind, selbst zum Thema der Auseinandersetzung mit der Geschichte. Denn jetzt berufen sich auch Autoren auf die Geschichte, die nicht von Anfang an als Mitglied der Nobilität in die dort geltenden Verhaltensmuster hineingewachsen sind. Sie müssen sie vielmehr erst aus der Geschichte herleiten32.

Diese Tendenz setzt sich mit der römischen Geschichte Ab urbe condita fort, die Titus Livius zu Beginn der zwanziger Jahre des ersten vorchristlichen Jahrhunderts zu veröffentlichen beginnt33. Livius steht genau am Übergang von der älteren, am annalistischen Schema orientierten Geschichtsschreibung zu einer neuen Sicht der Geschichte, die sie auf die exempla als zentrales Thema hin ausrichtet und vor allem Wertmaßstäbe und

Verhaltensnormen aus ihnen gewinnen will. So folgt er zwar einerseits weiter dem

annalistischen Schema, wie schon am programmatischen Titel seines Textes deutlich wird.

Denn er verspricht, die römische Geschichte Ab urbe condita, von Anbeginn der

Stadtgeschichte an, bis in die heutige Zeit nachzuzeichnen. Andererseits schaltet er aber in die Jahresfolge immer wieder längere Einzelepisoden ein. Diese Erzählungen, zu denen etwa die Geschichte der Lucretia gehört, erhalten als exempla ein neues Eigengewicht. Denn sie sollen die Werte und Normen veranschaulichen, die dem römischen Reich und seinen führenden Männern zur Macht verholfen haben. Das historische Geschehen wird zu einer Reihe von exempla mit anthropologischem Gehalt verdichtet.

Dieser Übergang wird auch an der Herkunft des Livius und seinem Stand deutlich. Livius entstammt der Munizipalaristokratie aus Padua und gehört damit zu einem Teil der

Oberschicht, die nicht zur traditionellen römischen Senatsaristokratie gehört. Er definiert sein Selbstverständnis zwar ebenso wie sie über die Werte des mos maiorum, für ihn ergeben sie sich aber nicht ohne weiteres aus einer traditionellen politischen Praxis, sondern er muß sie sich erst aus der Geschichte erschließen.

In der praefatio geht Livius von einem distanzierten Verhältnis zu der weiter entfernten Vergangenheit und der Frühgeschichte der römischen Republik aus, das er selbst als

Bearbeiter der Geschichte hat und das auch für seine Leser gilt34. Mit dem Sieg des Oktavian über seinen Widersacher Marc Anton in der Schlacht bei Actium im Jahre 30 v. Chr. ist ein Bürgerkrieg zu Ende gegangen, der die Aufmerksamkeit seiner Leser ganz auf die

Zeitgeschichte und die aktuelle politische Lage gelenkt hat. Über den drängenden Problemen der unmittelbaren Vergangenheit und der eigenen Gegenwart haben seine Zeitgenossen ganz das Interesse für die Frühzeit verloren35.

32 Vgl. Timpe 1979, der den Prozeß allerdings als „Ideologisierung“ der Geschichtsschreibung bezeichnet (vgl.

Timpe 1979, S. 115). Verzichtet man auf die Wertung, die mit der Unterstellung arbeitet, daß Geschichte nun zum Ideologieträger wird, läßt sich dieser Vorgang auch so beschreiben, daß die Geschichte mit

anthropologischen Aussagen darüber aufgeladen wird, wie sich der Mensch verhalten soll.

33 Die ersten fünf Bücher lassen sich aufgrund einer Anspielung auf die zeitgenössische Politik in Livius, Ab urbe condita I,19,3 auf die Zeit zwischen 27 und 25 v. Chr. datieren. Für die neuere Forschung zu Livius, seiner literarischen Technik und seinem sozialen Kontext vgl. Burck 1992, Miles 1995, Jaeger 1997, Feldherr 1998, Forsythe 1999 und Chaplin 2000.

34 Für die Interpretation der praefatio vgl. Moles 1993, der auch die weitere Literatur angibt. Zu ergänzen sind Manzo 1991, den Hengst 1995 und Koster 1996. Für das Konzept des monumentum bei Livius vgl. auch Jaeger 1997, S. 15 – 29.

35 Vgl. Livius, Ab urbe condita praef. 4 – 5.

Darin, daß die Vergangenheit im Vergleich weit entfernt und fremd erscheint, sieht Livius zugleich eine Chance. Denn weil sie nun in ihrer Gesamtheit wahrgenommen werden kann, geraten jetzt auch die moralischen Lehren, die sich aus der Geschichte ziehen lassen, verstärkt in den Mittelpunkt der Betrachtung. Jetzt zeichnen sich allgemeine Verhaltensregeln für den Menschen ab, die im Laufe der Geschichte immer wiederkehren. Auf diese Weise können die exempla der Vergangenheit wieder für die eigene Zeit genutzt werden. Sie stellen dann Material zur moralischen Orientierung bereit und beschreiben, wie der Mensch sich verhalten kann und wie er sich verhalten sollte:

Darauf vielmehr soll mir jeder scharf sein Augenmerk richten, wie das Leben, wie die Sitten gewesen sind, durch was für Männer und durch welche Eigenschaften zu Hause und im Krieg die Herrschaft geschaffen und vergrößert wurde (quae vita, qui mores fuerint, per quos viros quibusque artibus domi militiaeque et partum et auctum imperium sit); dann soll er verfolgen, wie mit dem allmählichen Nachlassen der Zucht und Ordnung die Sitten zunächst gleichsam absanken, wie sie darauf mehr und mehr abglitten und dann jäh zu stürzen

begannen, bis es zu unseren Zeiten gekommen ist, in denen wir weder unsere Fehler noch die Heilmittel dagegen ertragen können36.

Die zentrale Fragestellung, von der sich der Leser bei der Wiederentdeckung der

Vergangenheit leiten lassen soll, ist die nach den Gründen, mit denen sich der Erfolg der römischen Politik erklären läßt. Hierfür sind die Biographien der führenden Männer Roms und die Werte, an denen sie sich orientieren, von zentraler Bedeutung. Welche Männer waren für den Siegeszug des römischen Reichs verantwortlich? Welche Maßstäbe und Ziele haben sie sich gesetzt und wie haben sie sich verhalten? Diese doppelte Fragestellung formuliert Livius einmal als Verbindung von vita und mores, bei der die Lebensgeschichte berühmter Römer mit den Werten verbunden wird, die sie befolgen. Dann kehrt sie noch als Verbindung von den viri und ihren artes wieder, den Männer, die an der Spitze Roms stehen, und den Eigenschaften, durch die sie sich auszeichnen. Ohne daß Livius ausdrücklich von den

exempla spricht, wird hier so bereits deutlich, daß das Handeln zentraler historischer Personen und die Werte, denen sie folgen, im Zentrum der Geschichte stehen soll.

Von den Werten, die sich in der Geschichte finden lassen, verspricht sich Livius eine

Besserung der eigenen Zeit. Zwar zeichnet sich die römische Geschichte in ihrem Verlauf vor allem durch den Verlust und Verfall dieser Werte aus. Wenn seine Zeitgenossen sich aber wieder der Vergangenheit zuwenden, die Werte wieder ausfindig machen, von denen ihre Helden bestimmt waren, und sie sich selbst wieder zum Ziel setzen, kann dieser

Verfallsprozeß angehalten und rückgängig gemacht werden. Die Werte der römischen Vergangenheit erscheinen als allgemeingültige Verhaltensanweisungen für alle Epochen, die nur befolgt werden müssen, um den Bestand des römischen Reichs auch weiter zu

garantieren. Die Probleme der jüngsten Vergangenheit erklären sich daraus, daß die Werte in Vergessenheit geraten sind oder mißachtet werden. Orientiert man sich wieder an ihnen, können diese Probleme vermieden werden.

Wie genau aber Geschichte dazu dienen soll, diese allgemeingültigen und verbindlichen mores als Handlungsanleitung zu finden, konkretisiert Livius, indem er die Vergangenheit mit einem Monument vergleicht. Hierauf sind exempla aus der Vergangenheit abgebildet, die Verhaltensanweisungen für den Betrachter geben:

36 Livius, Ab urbe condita praef. 9: ad illa mihi pro se quisque acriter intendat animum, quae vita, qui mores fuerint, per quos viros quibusque artibus domi militiaeque et partum et auctum imperium sit; labante deinde paulatim disciplina velut dissidentes primo mores sequatur animo, deinde ut magis magisque lapsi sint, tum ire coeperint praecipites, donec ad haec tempora quibus nec vitia nostra nec remedia pati possumus perventum est (deutsche Übersetzung nach Hillen 1997, S. 9).

Das ist vor allem beim Studium der Geschichte das Heilsame und Fruchtbare, daß du Beispiele für Vorbilder (omnis ... exempli documenta) jeder Art betrachten kannst, die auf einem hell glänzenden Monument dargestellt sind. Daraus kannst du dann für dich und für deinen Staat entnehmen, was du nachahmen und was du meiden sollst, weil es häßlich in seinem Anfang und häßlich in seinem Ende ist (inde tibi tuaeque rei publicae quod imitere capias, inde foedum inceptu foedum exitu quod vites). 37

Die Vergangenheit als Monument bildet eine abgeschlossene Einheit, die aus der Distanz betrachtet werden kann und zu einer Gesamtschau aller Ereignisse zusammengestellt ist.

Zugleich zeichnen sich die mores als Regelmäßigkeiten und wiederkehrende Merkmale ab, die das Handeln der historischen Personen immer wieder bestimmen. An diesen

Verhaltensregeln kann sich der Betrachter orientieren. Denn die historischen exempla zeigen, welche Handlungsmuster man übernehmen und nachahmen kann, und welche besser

vermieden werden sollen.

Livius weist jedoch darauf hin, daß es dem Leser der Geschichte selbst überlassen bleibt, die Geschichte auf die Werte hin zu untersuchen, die sich aus ihr entnehmen lassen. Denn um den moralischen Nutzen, den der Betrachter aus der Geschichte ziehen kann, zu beschreiben, wählt Livius die persönliche Anrede an den Leser, die nachdrücklich eine selbständige Auseinandersetzung mit der Geschichte einfordert: „Du kannst auf dem Denkmal Beispiele für Vorbilder betrachten“, „Du kannst für dich und deinen Staat daraus entnehmen, was du nachahmen und vermeiden sollst“. Auch wenn also die Geschichte allgemeingültige Werte bereithält, die in der Gegenwart befolgt werden sollen, ist der Leser weiter auf seine eigene Deutungskompetenz verwiesen. Denn es bleibt offen, woran sie sich in der Vergangenheit festmachen lassen, und es ist ebenso wenig klar, wie sie in der eigenen Gegenwart umgesetzt werden können.

Auch wenn Livius davon ausgeht, daß die exempla der Vergangenheit auf wiederkehrende und allgemeingültige Werte verweisen, bleibt die Deutungsoffenheit der exempla weiterhin gewahrt. Denn der Leser muß den Bezug der exempla zu sich und seinem Lebensbereich erst herstellen. Normen können daher zwar durchaus vorhanden sein, lassen sich aber nicht eindeutig benennen. Zudem bleibt die Besonderheit des Ereignisses bestehen. Denn das historische Geschehen, das auf einen Wert verweist, hat einen ganz anderen Kontext, der von der eigenen Situation abweicht. Ein Held der Vergangenheit kann daher zwar ungefähre Orientierungshilfen dafür geben, wie sich der Leser in seiner Gegenwart verhält, aber keine eindeutigen Rezepte, die sich direkt übertragen lassen. Die Norm, die er vorgibt, muß erst entschlüsselt werden, und selbst dann steht der Leser noch vor der Aufgabe, selbst einen Weg zu finden, wie er sie in seiner eigenen Situation umsetzt, die von der historischen Lage

abweicht.

Daß Livius die Deutungsoffenheit der exempla wahrt, läßt sich auch an seiner Bearbeitung des exemplum der Lucretia zeigen38. Sie bietet zugleich die älteste erhaltene lateinische

37 Livius, Ab urbe condita praef. 10: Hoc illud est praecipue in cognitione rerum salubre ac frugiferum, omnis te exempli documenta in inlustri posita monumento intueri; inde tibi tuaeque rei publicae quod imitere capias, inde foedum inceptu foedum exitu quod vites (deutsche Übersetzung leicht verändert nach Hillen 1997, S. 9).

38 Für die Interpretation des Lucretia-exemplum vgl. Philippides 1983, Schubert 1991 und Feichtinger 1992. Zur Lucretia im Kontext der Darstellung der Frau in der ersten Dekade des Livius vgl. Moore 1993, Arieti 1997, Mustakallio 1999 und Vandiver 1999. Für eine feministisch und religionswissenschaftlich geprägte

Interpretationslinie vgl. Joplin 1990, Joshel 1992 und Calhoon 1997. Zu einem möglichen Zusammenhang mit römischen Rechtsvorstellungen vgl. Moses 1993 und Bauman 1996, vgl. jedoch auch die zurückhaltende Position bei Watson 1975, S. 167 – 168.

Fassung der Geschichte39. Hier nutzt er das exemplum der Lucretia nicht nur, um

Verhaltensnormen vorzuführen, an denen sich die pudicitia einer Frau erkennen läßt, sondern zeigt gleichzeitig, daß diese Normen Ergebnis eines situationsgebundenen

Entscheidungsprozesses sind. Die Figuren der Geschichte können die Normen, die für den Wert der pudicitia gelten sollen, nur ausgehend von ihrer eigenen aktuellen Situation bestimmen. Sie haben zwar eine ungefähre Vorstellung davon, woran die pudicitia sich gewöhnlich erkennen läßt, und es gibt eine Norm. Sie benutzen sie aber nicht als Gradmesser, sondern machen in einer besonderen Situation die Probe darauf und testen durch einen

praktischen Vergleich aus, welche Frau sich wohl als keusch erweisen wird. Ausschlaggebend dafür, ob ein Wert verliehen wird, ist die Deutung des Betrachters und das konkrete Verhalten der Frauen in einer ganz individuellen Situation. Entsprechend muß auch der Leser, der sich an ihren Verhaltensmaßstäben orientieren will, immer seine individuelle Situation

berücksichtigen.

Die Geschichte der Lucretia beginnt mit einer Wette, die L. Tarquinius Collatinus, der in der nahe bei Rom gelegenen Stadt Collatia residiert, mit den Söhnen des römischen Königs Tarquinius Superbus abschließt. Im Militärlager vor der Stadt Ardea, die die Römer von der Versorgung abschneiden und so erobern wollen, vertreiben sich die Königssöhne Sextus, Arruns und Titus Tarquinius zusammen mit anderen führenden Militärs die Zeit mit

abendlichen Gelagen. Als an einem dieser Abende die Rede auf die tugendhafteste Ehefrau kommt, behauptet Collatinus, der mit den römischen Tarquiniern eng verwandt ist, für seine Frau den Vorrang40. Um den Streit zu klären, schlägt er dann eine spontane Probe der Frauen vor, die in der Nacht überrascht werden sollen:

Als sie einmal bei Sex. Tarquinius zechten, wo auch Tarquinius Collatinus, der Sohn des Egerius, mit bei Tisch war, kam die Rede auf ihre Frauen, und jeder lobte die Seine in den höchsten Tönen. Daraus entbrannte Streit, und Collatinus erklärte, es bedürfe keiner Worte;

in wenigen Stunden können man wissen, wie sehr seine Lucretia die anderen übertreffe.

„Wenn das Feuer der Jugend in uns ist“, sagte er, „warum schwingen wir uns dann nicht auf die Pferde und sehen uns persönlich an, wie unsere Frauen sind (invisimusque praesentes nostrarum ingenia)? Als das sicherste Zeichen dürfte für jeden gelten, was es zu sehen gibt, wenn der Mann unerwartet auftaucht“ (id cuique spectatissimum sit quod necopinato viri adventu occurrerit oculis). Sie waren vom Wein erhitzt. „Nichts wie los!“ riefen alle, und im Galopp sprengten sie nach Rom. Als sie dort eintrafen, brach bereits die Dunkelheit herein;

sie ritten dann noch weiter nach Collatia, wo sie Lucretia keineswegs so vorfanden wie die Schwiegertöchter des Königs – diese hatten sie angetroffen, wie sie sich bei Gelage und Spiel mit Gleichaltrigen die Zeit vertrieben – , sondern sie saß noch spät in der Nacht, mit der Wolle beschäftigt, im Inneren des Hauses unter ihren bei Lampenlicht arbeitenden

39 Im griechischen Sprachraum gibt es zwei Fassungen, die ungefähr zur selben Zeit entstanden sind. Kurz vor Livius gibt Diodorus Siculus eine griechische Fassung des exemplum der Lucretia in seiner Bibliotheca Historica X,20 – 21. Wenig später nimmt Dionys von Halikarnass die Geschichte in seine Antiquitates Romanae IV,63 – 85 auf. Während Livius allerdings die heute verlorenen Texte der jüngeren Annalistik als Quellen heranzieht, stützen sich Diodor und Dionys auf die ebenfalls verlorene ältere Annalistik (vgl. Geldner 1977, S. 59 und S. 90 – 107). Auch wenn Livius seinen Text eng an seine Quellen anlehnt, fügt er sie neu zu einer eigenständigen Erzählung zusammen. So geht er besonders in der Verbindung der exempla mit konkreten Normen und Werten über seine Vorgänger hinaus und kommt zu weitergehenden Aussagen als seine Quellen. Da diese Quellen meist verloren sind, läßt sich ein Nachweis nur im Einzelfall erbringen. So ist etwa für das exemplum von T. Manlius Torquatus, der im Zweikampf einen Gallier besiegt hat, der Quellenvergleich mit dem jüngeren Annalisten Claudius Quadrigarius möglich (vgl. Livius, Ab urbe condita VII,9,6 – 10 und Claudius Quadrigarius, Ann. I,10b Peter = Gellius IX,13,7 –19). Hier zeigt sich, daß Livius das Gefälle zwischen dem Verhalten des Galliers und seines römischen Gegners viel deutlicher akzentuiert als sein Vorgänger.

40 In der Genealogie, der Livius folgt, ist Collatinus Sohn des Egerius und Enkel des Arruns Tarquinius. Dieser ist der Bruder des Lucius Tarquinius Priscus, der wiederum der Vater des Tarquinius Superbus und Großvater des Sextus Tarquinius ist.

Mägden. Im Streit um die Frauen trug Lucretia den Preis davon. Der heimkommende Ehemann und die Tarquinier wurden freundlich empfangen; der Ehemann lud als Sieger in aufgeräumter Stimmung die Königssöhne ein. Hier ergriff den Sex. Tarquinius das böse Verlangen, Lucretia Gewalt anzutun. Ihn reizte ihre Schönheit, aber mehr noch ihre erwiesene Keuschheit (spectata castitas). Vorerst jedoch kehrten sie von dem nächtlichen Abenteuer einer jugendlichen Laune in das Lager zurück.41

Im Lager in Ardea ist umstritten, welcher der Tarquinier die tugendhafteste Ehefrau hat. Statt nur eine theoretische Debatte darüber zu führen, was die Kriterien für diese Tugend sind und welche der Frauen ihnen am meisten genügt, wollen sie ihre Frauen auf die Probe stellen.

Woran sich die pudicitia zeigt, die für die Männer die wünschenswerte Eigenschaft einer guten Ehefrau ist und hier mit dem synonymen Begriff der castitas beschrieben wird, kann nur eine einzelne und konkrete Situation klären. Was den Wert genau ausmacht, wollen sie als Betrachter selbst im Einzelfall festlegen. Dies macht besonders der Ausspruch des Collatinus deutlich, der auf dem Augenschein und dem unmittelbaren sinnlichen Eindruck besteht und

Woran sich die pudicitia zeigt, die für die Männer die wünschenswerte Eigenschaft einer guten Ehefrau ist und hier mit dem synonymen Begriff der castitas beschrieben wird, kann nur eine einzelne und konkrete Situation klären. Was den Wert genau ausmacht, wollen sie als Betrachter selbst im Einzelfall festlegen. Dies macht besonders der Ausspruch des Collatinus deutlich, der auf dem Augenschein und dem unmittelbaren sinnlichen Eindruck besteht und