• Keine Ergebnisse gefunden

Die Werte der gloria, pudicitia und libertas in der Declamatio

Unter den drei Werten, die der Stoff bietet und die in der Stoffgeschichte immer wieder aufgriffen werden, nimmt der Wert der gloria bei Salutati eine zentrale Stellung ein. Leicht abgewandelt zur fama, zur öffentlichen Meinung über Lucretia, ist er ein entscheidender Maßstab dafür, wie der geplante Selbstmord beurteilt wird. Die Norm, die ihre fama sichert und die infamia, die üble Nachrede, verhindern soll, ist die Glaubwürdigkeit ihrer Aussage.

Wie kann Lucretia ihr Ansehen retten? Ob Lucretia den Wert der gloria für sich beanspruchen kann, hängt dabei direkt davon ab, ob sie den zweiten Wert, ihre pudicitia, behaupten kann oder unter das Verdikt der voluptas, der Wollust, fällt. Die pudicitia wird durch dieselben Normen garantiert, die Salutati auch in seinem Brief an Fernández mit der pudicitia in

Verbindung bringt und die hier genauer ausgeführt werden. Kann Lucretia weiter die eheliche Treue wahren, die sie durch ihr bisheriges Leben als vorbildliche Hausfrau unter Beweis gestellt hat? Bleibt die sexuelle Enthaltsamkeit bestehen, weil sie während des

Geschlechtsverkehrs mit Sextus Tarquinius keine Lust empfunden hat? Beweist sie mehr Mut und Entschlossenheit, wenn sie weiterlebt, oder erst dann, wenn sie Selbstmord begeht? Im Vergleich dazu steht die libertas als dritter Wert, der mit dem Lucretia-exemplum in

Verbindung gebracht wird, in der Declamatio zurück. Zwar sehen alle Redner in der Vertreibung von Tarquinius Superbus und seiner Familie das einzige Mittel, die

Vergewaltigung zu rächen. Umstritten ist jedoch, welche Bedeutung der geplante Selbstmord für die Rache hat. Ist der Selbstmord nur die Fortsetzung der Tyrannis der Tarquinier gegen ihr Volk, und gefährdet Lucretia damit die libertas? Oder entspricht er der Rache an Sextus, die die Männer üben, und zeigt deswegen besonderen Einsatz für die libertas?

Entsprechend den Regeln der „positiven Anthropologie“ streiten sich die beiden Parteien der Declamatio nie um die korrekte Norm selbst, mit der einer der Werte erreicht werden kann, sondern nur darum, ob diese Norm durch den Selbstmord erreicht wird oder nicht. Es geht also lediglich darum, ob diese einzelne Handlung der Seite der inhaltlich positiven Werte zugeordnet werden kann, oder der Seite der inhaltlich negativen Werte zugeschlagen werden muß. Maßstab dafür sind die Normen, durch die definiert wird, ob ein Wert umgesetzt wird oder nicht. Alle Beteiligten gehen daher davon aus, daß man den geplanten Selbstmord mit einer festgelegten und vorab gültigen Kategorie erfassen kann. Entweder sichert er nämlich gloria, pudicitia und libertas oder er gibt Anlaß für infamia, stellt die voluptas der Lucretia unter Beweis und setzt die Tyrannis der Tarquinier fort.

In der Einleitung zu den beiden Reden der Declamatio Lucretie nennt Salutati die

gegnerischen Parteien, klärt ihre Positionen und weist bereits auf die Kategorie der fama, des Ansehens der Lucretia, hin, die in der Diskussion dann für die Bewertung ihres Verhaltens von entscheidender Bedeutung ist:

Lucretia, Tochter des Spurius Lucretius und Gattin des Collatinus Tarquinus, wurde von Sextus Tarquinius, dem Sohn des Königs Tarquinius, vergewaltigt, wobei sie ihrerseits nur aus Furcht vor übler Nachrede (infamie metu) zugestimmt hatte, damit Tarquinius sie nicht, wie er androhte, tötete und dann zu ihr einen erschlagenen Sklaven ins Bett legte. Nachdem sie ihren Vater und ihren Ehemann zu sich gerufen hat, berichtet sie von dem Ereignis. Sie bringt sie dazu, Rache für das erlittene Unrecht zu versprechen und will sich nun töten. Der Vater und der Gatte verbieten es.188

188 Salutati, Declamatio Lucretie praef.: Lucretia Spurii Lucrecii filia et Collatini Tarquini uxor a Sexto

Tarquino regis Tarquini filio per vin cognita ipsa consentiente solum infamie metu ne Tarquinus sicut minabatur sibi occise iugulatum servum in lecto sociaret. Vocatis ad se patre et viro rem narrat. ultionem iniurie promitti facit et demum vult se ocidere. vetant pater et coniunx.

Salutati macht bereits eingangs deutlich, daß Lucretia dem Sextus Tarquinius nur

nachgegeben hat, um ihre fama zu schützen, und rückt diese Kategorie ins Zentrum. Daß es nun überhaupt zur Diskussion kommt und Lucretia nicht bereits durch Sextus Tarquinius getötet wurde, liegt daran, daß sie Einfluß auf die Beurteilung der Ereignisse nehmen will.

Zuerst fordert sie ihre Verwandten zur Rache auf. Vor allem erscheint ihr aber der Selbstmord als geeignetes Mittel, ein gutes Urteil der öffentlichen Meinung über sich zu sichern. Die beiden Parteien haben jedoch unterschiedliche Ansichten darüber. Garantiert der Selbstmord Lucretias Ansehen, das sonst hinfällig wird, wie sie selbst meint? Oder wird ihr Ansehen dadurch erst zerstört, wie Vater und Ehemann glauben?

Vater und Ehemann vertreten in ihrer Rede die These, daß Lucretia sich nicht umbringen müsse, und begründen dies mit den Beweisen, die sie für ihre Unschuld erbracht hat. Sie beziehen ihr Urteil auf den Wert der gloria, des Ruhms, den sie synonym mit der fama, ihrem öffentlichen Ansehen, setzen, und die Werte der pudicitia und castitas, die sie durch ihr Handeln gezeigt hat. Als Beweis für die pudicitia der Lucretia führen sie zwei Ereignisse an, bei denen sie zwei der Normen erfüllt hat, die diesen Wert garantieren. Aus der pudicitia ergibt sich zugleich ihre unbeeinträchtigte gloria. So hat sie sich vor der Vergewaltigung als ihrem Ehemann treu ergebene und pflichtbewußte Hausfrau erwiesen, als Tarquinius und Collatinus nachts unangemeldet nach Rom kamen, um ihre Frauen zu prüfen. Und auch während der Vergewaltigung selbst hat sie sich nicht dem Liebesakt hingegeben, sondern Tarquinius nur passiv erduldet.

Als erstes Argument gegen den Selbstmord führen die beiden Redner den bisherigen Lebenswandel der Lucretia an:

Du hast nicht nur vor den Augen der Menschen, sondern auch privat in den Zimmern des Hauses auf einen maßvollen und keuschen Lebenswandel (frugalitatem et pudicitiam) geachtet. Erinnerst du dich nicht, meine Lucretia? Als wir einige Tage zuvor zusammen mit jenem ruchlosen Ehebrecher zu einem unbefangenen Urteil hierher gekommen waren, fanden wir dich, wie du inmitten deiner Sklavinnen ganz in das Wollespinnen vertieft warst, überrascht, ahnungslos, weder deinen Mann noch einen Gast zu dieser Stunde erwartend.

Dieser Tag, jene unvermutete Entdeckung deiner Keuschheit (deprensio castitatis) gab dir den Sieg. Die Schwiegertöchter und Töchter des Königs fanden wir, wie sie mit Gelagen beschäftigt waren. Du bist jenen vorgezogen worden, dir wurde der unzerstörbare Ruhm der Keuschheit (incorruptibilis gloria pudicitie) verschafft.189

Vater und Ehemann binden den Wert der pudicitia an das bekannte Motiv des Wollespinnens, das für sie als Norm dient, um die pudicitia zu erkennen und unter Beweis zu stellen. Die Einzelhandlung deckt das Moment der ehelichen Treue, einen der drei zentralen Aspekte der pudicitia ab. Entsprechend leiten die Redner aus dieser Handlung auch die castitas der Handelnden ab, wobei dieser Wertbegriff synonym mit der pudicitia verwendet wird. Von hieraus schließen sie auf den Wert der gloria, die Lucretia ebenfalls erworben hat. Denn daß sie als einzige und ganz im Gegensatz zu den Frauen der Königsfamilie so pflichtgetreu ihren Abend verbringt, hebt sie besonders aus der Menge der anderen heraus. Der Wertbegriff der gloria wird durch die Norm des öffentlichen Ansehens gesichert. Lucretia hat einen besonders vorteilhaften Eindruck in ihrem äußerlichen Auftreten gemacht und sich von den anderen

189 Salutati, Declamatio Lucretie 1: [vitam] non solum in hominum oculis sed in secretis domus penetralibus et frugalitatem et pudicitiam coluisti. An recolis, mea Lucretia? cum paucis ante diebus unaha cum improbo illo adultero prima facie huc advenimus, tu inter servas lanifitio intenta reperta es, improvisa, incauta, nec virum nec hospitem tunc expectans. ea dies, illa deprensio castitatis tibi victoriam dedit. regis nurus et filias commessationibus occupatas invenimus. tu illis prelata es, tibi incorruptibilis gloria pudicitie parata est.

abgehoben. Maßstab für diesen Vorrang ist dabei ein anderer Wert, nämlich ihre außergewöhnliche pudicitia.

Ein zweites Argument liefert Lucretias Aussage darüber, wie sie sich während des Geschlechtsverkehrs verhalten hat. Auch hier ist sie den Normen gefolgt, mit denen die pudicitia sichergestellt wird:

Wer wüßte nicht, daß du ihm keinen Widerstand leisten konntest, nackt, schlafend, ahnungslos und nichts derartiges befürchtend, während der Jüngling bewaffnet und gleichermaßen zu Mord oder Ehebruch bereit war? Mit jener blühenden Jugend und seiner königlichen Macht konnte er jede beliebige andere umschmeicheln und zu lockender Lust verführen, aber deine kühl bleibende Brust konnte er nicht erwärmen. Nur er, und das, obwohl ihr zwei gewesen seid, nur er hat dir Gewalt angetan und an deinem Körper den Ehebruch vollzogen und durchgeführt. Du hast, weil Frauen körperlich schwächer sind, Unrecht erlitten, aber du hast die Keuschheit deines Geistes (mentem ... pudicissimam) inmitten des gewaltsamen Beischlafs vollständig bewahrt. Wenn du Ruhm suchst, dann kannst du diesem Ruhm nichts mehr hinzufügen (si gloriam queris, nichil huic glorie potes addicere), weil du dich einem liebenden und gierigen Jüngling, während er seine Lust auslebte, nicht als Frau aus Fleisch und Blut, sondern als marmorne Statue dargeboten hast.190

Die Redner führen zunächst die ungünstigen Rahmenbedingungen an, um Lucretias Verhalten zu verteidigen. Lucretia konnte nichts gegen die Vergewaltigung unternehmen. Sie war allein und schlief schon, wurde also völlig überrascht vom plötzlichen Auftauchen des

gewaltbereiten Sextus. Zudem ist Lucretia auch körperlich schwächer als Sextus, was ihre Wehrlosigkeit noch verstärkt hat. Ihre pudicitia hat sie aber dann dadurch gesichert, daß sie selbst nicht sexuell aktiv war und den Geschlechtsverkehr ohne eigene Beteiligung über sich ergehen ließ. Vater und Ehemann gehen für ihre Argumentation von einer Hierarchie

zwischen Körper und Geist aus. Der Geist steuert den Körper, der beim Geschlechtsverkehr Lust empfinden könnte, und Lucretia konnte ihn konsequent kontrollieren. Sie verhinderte jedes Lustgefühl und ließ nicht zu, daß ihr Körper sich am Geschlechtsakt beteiligte. Die Spaltung in Körper und Geist führt dazu, daß ihr Körper erstarrt und jede Wärme verliert.

Lucretias Verhalten während der Vergewaltigung setzt für Vater und Ehemann die Norm der sexuellen Enthaltsamkeit um. Auch wenn es zum Geschlechtsverkehr kommt, wahrt sie auf geistiger Ebene weiter ihre pudicitia. Dies allein zählt für die beiden Redner, und Lucretia kann daher auch als keusch beurteilt werden und den Wert der pudicitia für sich

beanspruchen. Das Urteil wird noch dadurch bekräftigt, daß Lucretia mit Sextus einen attraktiven Liebhaber ausgeschlagen hat und den Willen zur Enthaltsamkeit über eine Liebesnacht mit ihm gestellt hat. Denn Sextus ist äußerlich anziehend und schön, und seine königliche Abstammung verleiht ihm eine besondere Erotik der Macht. Von ihm begehrt zu werden, hätte auch Lucretias Eitelkeit schmeicheln können. Die pudicitia, die Lucretia während der Vergewaltigung unter Beweis gestellt hat, wird auch bei diesem zweiten Argument mit der gloria verknüpft, die sie durch ihr Handeln erworben hat. Daß sie unter diesen Bedingungen jegliches sexuelles Interesse und jede körperliche Regung unterdrücken konnte, ist für die beiden Redner die größtmögliche Form von Ruhm, die sie erwerben kann.

190 Salutati, Declamatio Lucretie 4: Quis nescit te non potuisse resistere nudam, dorminentem, incautam et nil tale verentem, armato iuveni ad homicidium vel ad adulterium preparato? potuit illa etate florida et autoritate regia quamlibet aliam permulcere et secum in illecebras trahere, rigidum vero pectus tuum molire non potuit.

Solus ille cum duo tantum essetis, violentiam intulit et in corpus tuum adulterium patravit atque perfecit. tu quod muliebris fragilitas est, iniuriam pertulisti, sed mentem intra concubitus violentiam pudicissimam conservasti. Si gloriam queris, nichil huic glorie potes addicere que iuveni amanti et avido, libidinem suam explenti, te non mulierem carneam sed statuam marmoream prebuisti.

Diese Bewertung der Ereignisse bekräftigen Vater und Ehemann noch dadurch, daß es überhaupt nur zum Geschlechtsverkehr gekommen ist, weil Lucretia ihre fama, ihren guten Ruf, retten und sich vor infamia, übler Nachrede, schützen wollte. Sie hatte also lediglich ihre gloria im Blick, als Sextus sie zum Geschlechtsverkehr überredete. Auch hier gab es kein sexuelles Interesse, sondern allein den Wunsch, auf das Urteil der Mitmenschen einwirken zu können:

Füg noch hinzu, teure Lucretia, daß du, als du gezwungenermaßen eingewilligt hast, nicht deinen Tod verhindern wolltest, sondern üble Nachrede (infamiam). Denn du hast dich dem Tyrannen gegenüber duldsam dargeboten, weil er dir, die er zuvor erschlagen wollte, einen Sklaven, den er töten würde, neben deinem Körper angedroht hatte.191

Dieses Argument dient gleichzeitig als Brücke zur Schlußfolgerung, mit der Vater und Ehemann ihre Rede beenden. Da Lucretia ihre pudicitia durch ihr normgerechtes Verhalten bereits gesichert hat, würde ein Selbstmord ein gegensätzliches Urteil über sie zur Folge haben:

Indem wir den Tod selbst in die Hand nehmen, verhindern wir normalerweise üble Nachrede (infamiam), du dagegen zerstörst deinen guten Ruf (famam). Wir beenden ein trauriges Leben, wenn wir uns töten, du dagegen wartest, wenn du jetzt dem Tod schon entgegeneilst, die Freude über die bevorstehende Rache nicht ab. Schließlich sühnen wir, wenn wir Hand an uns legen, normalerweise für irgendein Verbrechen, du dagegen wirst deine Unschuld dadurch zerstören, daß du deinen Tod betreibst. Dein Ehemann, dein Vater, Brutus und die anderen Verwandten, die dich von jeder Schuld freisprechen, verbieten dir, daß du dich tötest. Warum verwirfst du sogar deren Urteil, indem du dich tötest? Wenn du dich tötest, lädst du die Schuld auf dich, von der du frei bist oder die du verhindern willst. Niemals wird jemand für unschuldig gehalten werden, der sich wie ein Schuldiger selbst bestraft.192 Die beiden Redner präsentieren eingangs ihre These, daß Lucretias Selbstmord erst die infamia bewirkt, die sie verhindern möchte. Dann nennen sie allgemeine Regeln, die sie auf Lucretias konkreten Fall beziehen, und leiten daraus ihre These her. Sie nennen zwei

herkömmliche Gründe für einen Selbstmord, die jedoch auf Lucretias Fall nicht zutreffen. Er ist ein Mittel, ein freudloses Leben zu beenden, Lucretia kann sich aber auf die baldige Rache an Sextus freuen. Er dient als Sühne für ein Verbrechen, Lucretia hat aber keines begangen.

Entschließt sie sich nun trotzdem zum Selbstmord, wird man ihr auch ein solches Verbrechen nachsagen und den Freitod als Schuldeingeständnis deuten, und ihre fama wird sich zur infamia wenden. Zugleich tritt an die Stelle der pudicitia, die man ihr zuvor zugesprochen hatte, der Vorwurf der voluptas, der Wollust, der sie sich gemeinsam mit Sextus hingegeben hat. Collatinus und Lucretius nennen sich selbst als Beispiel für diesen Umschlag der

öffentlichen Meinung. Denn sie selbst glauben jetzt noch an ihre Unschuld, würden aber zu zweifeln beginnen, wenn sie Selbstmord begeht. Stärkstes Argument der beiden, so macht die herausgehobene Stellung am Ende ihrer Rede deutlich, ist die öffentliche Meinung über Lucretia und die Glaubwürdigkeit ihres Handelns. Sie beurteilen den geplanten Freitod vor allem mit dem Maßstab der gloria und der fama.

191 Salutati, Declamatio Lucretie 4: Adde cara Lucretia quod tu non mortem illo violento consensu sed infamiam effugere voluisti. Tunc enim patientiam prebuisti tyranno, cum se tibi iugulandae servum nudum occisurum iuxta corpus tuum minatus est.

192 Salutati, Declamatio Lucretie 5: infamiam ascita morte fugimus, tu famam corrumpis. tristitiam vite morte nobis illata finimus, tu vindicte gaudia mortem properans non expectas. denique scelus aliquod, dum nobis manus inicimus, expiamus, tu innocentiam occupata morte corruptura es. Vir, pater, Brutus et alii coniuncti, qui te culpa absolvunt, ne te occidas vetant. cur te occidendo iuditium ipsorum dampnas? si te occidis, culpam tibi, qua cares quamve fugis, incurris. Nunquam putabitur innocens, qui se nocentem supplitio afficit.

In ihrer Gegenrede nimmt Lucretia die zwei Argumente ihres Vaters und ihres Ehemannes auf und bezieht sich ebenfalls zentral auf die beiden Werte der pudicitia und der gloria. Ganz im Gegensatz zu ihren Vorrednern sieht sie diese Werte aber erst durch ihren Selbstmord

gesichert.

In der Einleitung bekräftigt Lucretia ihre Entscheidung zum Selbstmord und greift das Motiv der fama auf, mit dem Collatinus und Lucretius geschlossen hatten. Sie ist der Ansicht, daß nur der Selbstmord diese fama sichern kann, da er einen praktischen Beweis für ihre Unschuld liefert und den außergewöhnlichen Mut zeigt, der erst die pudicitia sichert:

Verbietet mir nicht das Sterben, so sehr verehrter Vater und Du, mein Gatte, mir einst teurer als das Tageslicht. Solange ich mich nicht getötet habe, wird es niemals eine Garantie (fides) dafür geben, daß ich lieber üble Nachrede (infamiam) als den Tod vermeiden wollte. Wer wird jemals glauben, daß jener mich durch den angedrohten Mord des Sklaven erschreckt hat, und daß ich die Schande, zu einem Sklaven gelegt zu werden, die so sehr verdächtig macht, mehr gefürchtet habe als den Tod, wenn ich es nicht durch die Kraft und den Mut bewiesen habe, den das Sterben erfordert (nisi moriendi fortitudine audatiaque probavero)?

Mir Unglücklicher wird der schändliche Makel der üblen Nachrede (labes infamie) anhaften, daß Lucretia lieber als Ehebrecherin hat leben wollen als keusch (pudicam) zu sterben. Seht ihr etwa nicht, daß ihr mich nicht für das Leben, sondern für die üble Nachrede (infamie) retten wollt?193

Durch den Selbstmord will Lucretia einen Nachweis erbringen, der ihre Unschuld bestätigt.

Erst so kann sie den außergewöhnlichen Mut, der eine dritte Norm benennt, mit der der Wert der pudicitia gesichert wird, unter Beweis stellen. Der Selbstmord verlangt ihr fortitudo et audacia, Kraft und besonderen Mut, ab. Wie ihr Vater und ihr Ehemann geht Lucretia von vorgefertigten Maßstäben für den Wert der pudicitia aus. Sie stellt lediglich die Norm des entschlossenen Handelns heraus, die die beiden zurückgestellt hatten, die aber für Lucretia erst den Wert der pudicitia bestätigt.

Dieser Einwand genügt ihr jedoch noch nicht, um die Behauptungen der Vorredner zurückzuweisen. Denn schließlich hatten sie geltend gemacht, daß Lucretia sich durch das Wollespinnen und ihr passives Verhalten während der Vergewaltigung bereits als keusch erwiesen hat. Daher nimmt Lucretia auch diese beiden Argumente auf und bestreitet, daß sie tatsächlich als Beweis für ihre pudicitia genutzt werden können. Lucretia kann die Gültigkeit der beiden Normen, die die pudicitia angeblich sichern, aus zwei Gründen nicht mehr

garantieren. Ihr vorbildlicher Lebenswandel als Hausfrau und Mutter ist durch die Vergewaltigung zerstört. Und auch die sexuelle Enthaltsamkeit, die sie während der

Vergewaltigung gewahrt hatte, bleibt in Zukunft gefährdet, da es ihr nicht gelungen ist, ihren Körper vollständig zu kontrollieren, und sie nun mit der Angst vor Lustgefühlen lebt.

Als erstes Argument führt Lucretia an, daß ihr bisheriges Leben als treue Ehefrau durch die Vergewaltigung hinfällig geworden ist. Dafür geht sie eine Reihe ihrer familiären

Beziehungen durch, die nun gestört sind:

Du aber, so sehr geschätzter Gatte, wie wirst du in meine Arme fallen können, wenn du daran denken wirst, daß du nicht deine Gattin, sondern die Hure des Tarquinius in deinen

193 Salutati, Declamatio Lucretie 6: Nolite me, pater sanctissime tuque luce mihi condam carior coniunx, morte prohibere. nisi me occidero, nunquam fides erit, me potius infamiam vitare voluisse quam mortem. Quis unquam crederet quod ille me servicidio terruerit meque magis consotiandi servi ignominiam suspitiossam timuisse quam

193 Salutati, Declamatio Lucretie 6: Nolite me, pater sanctissime tuque luce mihi condam carior coniunx, morte prohibere. nisi me occidero, nunquam fides erit, me potius infamiam vitare voluisse quam mortem. Quis unquam crederet quod ille me servicidio terruerit meque magis consotiandi servi ignominiam suspitiossam timuisse quam