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Emporius: De deliberativa materia

Auch wenn Claudian die exempla in der literarischen Praxis standardisiert mit festgelegten Normen und Werten füllt, transportiert die zeitgenössische rhetorische Theorie das Wissen um die Deutungsoffenheit des exemplum der Lucretia weiter. So zeigt der Rhetoriklehrer Emporius in seinem Traktat De deliberativa materia, der in das 4. oder 5. Jahrhundert n. Chr.

datiert wird, daß sich sowohl Argumente dafür als auch dagegen finden lassen, daß Lucretia Selbstmord begehen sollte60.

wird (VIII,646), tauchen alle Figuren auch in der Aeneis auf. So trifft Aeneas im Vorhof der Unterwelt, wo die Selbstmörder versammelt sind, zunächst auf Euadne und Laodamia (VI,447) und schließlich auf Dido (VI,450 – 474). Und Helena wird kurz darauf in der Erzählung des Deiophobus genannt, der sie nach dem Tod des Paris geheiratet hat (VI, 494 – 547). Daß die Figuren hier nur anzitiert werden und Claudian ihre Geschichte als bekannt voraussetzt, wie Heus 1982, S. 216, einwendet, muß kein Gegenargument sein. Denn die Aeneis dient in der Ausbildung der Serena ohnehin nur als Ausgangspunkt für weiterführende Darstellungen der Mythologie, die durch Lehrer und Kommentare geleistet werden.

60 Vgl. Emporius, De deliberativa materia 570,23 – 574,35. Bei dem heute unter diesem Titel erhaltenen Text handelt es sich wahrscheinlich nur um einen Auszug aus einem größeren rhetorischen Traktat. Über Emporius, von dem noch einige andere Exzerpte überliefert sind, ist darüber hinaus kaum weiteres bekannt (vgl. Hosius 1920). Auch im Textteil zum genus demonstrativum geht Emporius kurz auf Lucretia ein. Hier dient sie ihm als Beispiel dafür, daß das Geschlecht einer Person nur in einem seltenen Fall wie dem der Lucretia zum Thema einer Festrede gemacht werden kann. Denn hier lassen sich mit dem Geschlecht zugleich auch besonders

Emporius benutzt die Geschichte der Lucretia, um die verschiedenen Argumentationsschritte zu verdeutlichen, die der Redner in der beratenden Rede, dem genus deliberativum, beachten muß. Damit lehnt er sich zugleich an eine typische Übungstechnik in der Rednerausbildung an, bei der anhand eines historischen oder mythologischen Themas disputiert wird, wie sich eine Figur in einer bestimmten Situation verhalten sollte. Das Für und Wider wird abgewogen und schließlich eine Entscheidung getroffen und begründet. Daß Emporius für sein Beispiel ausgerechnet die Lucretia verwendet, kann als Indiz dafür gewertet werden, daß sie zum Basiswissen der Rhetorenschule gehört und überall als bekannte Geschichte vorausgesetzt wird. So kann sie zum Schulbeispiel dafür werden, daß der Redner die Technik des in utramque partem disserere beherrschen muß, des Argumentierens für jede der beiden gegnerischen Seiten, also bei jedem Fall theoretisch auch in der Lage sein muß, die Auffassung der Gegenseite zu vertreten.

Emporius beschreibt in seinem Traktat die gradus deliberationis, die fünf Schritte, in denen der Redner seine Argumentation in einer beratenden Rede darlegen soll, und erläutert sie mit Hilfe des exemplum der Lucretia. Die gradus deliberationis umfassen den gradus generalis, der auf das Thema im allgemeinen eingeht, den gradus proprius, der das besondere Ereignis behandelt, das dieses Thema illustriert, den gradus personalis, der die beteiligten Personen in den Mittelpunkt stellt, den gradus causalis, der das Hauptthema ausführlich erläutert, und den gradus coniecturalis, der untersucht, welche Folgen die verschiedenen Möglichkeiten zu handeln jeweils haben61. Für seine Erläuterung greift Emporius den Punkt der Lucretia-Geschichte heraus, an dem sie vor dem Selbstmord steht, das Für und Wider dieses Plans abwägen und sich schließlich entscheiden muß. Am Ende dieser Überlegungen steht der Selbstmord auf der einen und das Weiterleben auf der anderen Seite. Entsprechend geht Emporius die Reihe der gradus deliberationis so durch, daß er für jeden gradus jeweils die Argumente für und wider den Selbstmord gibt. Je nachdem, für welche Handlungsmöglichkeit der Lucretia sich der Redner entscheidet, wird auch der geplante Selbstmord unterschiedlich bewertet, einmal als folgerichtiger Entschluß und einmal als Fehler.

Besonders deutlich wird dies am gradus causalis. Er nimmt eine Schlüsselstellung innerhalb der fünf gradus deliberationis ein, da er das eigentliche Thema der Rede, den geplanten Selbstmord, behandelt. Zunächst formuliert Emporius eine Frage, mit der der Redner eine positive Bewertung des Selbstmords einleiten kann. Sie weckt Zweifel, die der Redner durch Argumente überzeugend ausräumen muß:

„Gibt es keinen anderen Ausweg oder Trost als den Freitod für eine so große Schmach, die einer solchen Frau von einem derartigen Täter angetan worden ist?“ An dieser Stelle muß man wieder allgemein davon sprechen, daß der Tod entweder überhaupt eigentlich etwas Gutes ist oder zumindest mit Sicherheit kein Übel ist, daß das Leben nicht geführt werden kann, wenn die eigene Ehrbarkeit (honestas) nicht gesichert ist, daß insbesondere viele tapfere und vornehme Frauen dieses Leben für ihren Ruhm preisgegeben haben (dedisse gloriae suae), um durch das Sterben Unrecht und Schande zu vermeiden, und daß man nicht befürchten muß, daß eine Frau mit so großem Mut nur aus Eitelkeit Selbstmord begeht. Man muß auch eine Beschreibung des Todes selbst hinzufügen, bei der kein geringeres als das römische Volk selbst die Wunde und den blutenden Dolch mit Bewunderung betrachten wird, eine Wunde, die von einer kaum mehr weiblich zu nennenden Hand beigebracht worden ist.62

lobenswerte Taten verbinden (vgl. Emporius, De deliberativa materia 570,15 – 22). Eine Interpretation beider Textstellen findet sich bei Geldner 1977, S. 150 – 153.

61 Vgl. Emporius, De deliberativa materia 572, 18 – 25.

62 Emporius, De deliberativa materia 573,33 – 574,7: „an tantae contumeliae tali feminae ab huiusmodi auctore factae nullum sit aliud vel perfugium vel solacium quam mors voluntaria.“ Quo loco est rursum generaliter

Darauf folgt die entgegengesetzte, negative Auslegung des Selbstmords. Denn es läßt sich auch behaupten,

daß Lucretia auf der anderen Seite, auch wenn das Unrecht in diesem Fall untragbar ist, auch wenn es mehr als jedes andere für sie nicht zu dulden ist, trotzdem auch auf andere Weise gerächt werden kann; daß der Tod in der Tat das äußerste Übel, dem menschlichen Verstand und seinem Wollen von Natur aus fremd und gewissermaßen sogar von den unsterblichen Göttern selbst verboten worden ist; und daß dies mit Sicherheit nicht von einer Frau ausgeführt werden darf, sei sie auch noch so tapfer, daß eine Frau, um so weiter dieses Geschlecht ja vom Umgang mit der Waffe entfernt sei, desto weniger auch eine Waffe ergreifen darf, besonders weil zu befürchten ist, daß sie unerschütterlich beim geplanten Selbstmord bleibt, damit ihr schlechtes Gewissen (bona conscientia) nicht eine Seele dem Untergang weiht, die eigentlich viel schwächer ist, und weil es eher der Fall sein könnte, daß sie beharrlicher sterben will, weil sie sich in der Zwangslage einer Schuldigen befindet und eigentlich unkeusch (inpudica) ist.63

Verschiedene Aspekte der Geschichte tauchen in beiden Interpretationen auf und werden jeweils in ganz unterschiedliche Richtungen ausgedeutet. So verweist Emporius bei beiden Deutungen auf den bevorstehenden Tod. Einmal wird er jedoch als Größe angesehen, die man vernachlässigen könne, und hier können philosophische Spekulationen zur Unterstützung herangezogen werden. Beim anderen Mal ist der Tod dagegen eine entscheidende Schwelle, die der Mensch nicht eigenmächtig übertreten darf, und hier führt Emporius die Natur und die Götter an, durch die diese Regel vorgegeben ist. Dasselbe wiederholt sich beim Geschlecht der Lucretia. Für den Befürworter des Selbstmords ist es ein besonderes Kennzeichen von Tapferkeit, daß Lucretia als Frau zum Dolch greift, für den Gegner ist ihr Geschlecht Anlaß, den Gebrauch der Waffe zu verbieten.

Auch die Frage nach den Motiven, die Lucretia in den Selbstmord treiben, nimmt bei beiden Argumentationsrichtungen eine zentrale Stellung ein. Bei der Interpretation, die den

Selbstmord befürwortet, wird die Außenwirkung der Tat besonders herausgestellt. Lucretia kann ihre honestas bekräftigen, wenn Wunde und Dolch von ganz Rom bewundert werden.

Um die Aussicht auf die Anerkennung, die ihr bevorsteht, noch deutlicher hervorzuheben, kann der Redner zusätzlich auf andere exempla hinweisen. Sie geben dann als Beweismittel historische Präzedenzfälle, denen Lucretia nachfolgt, und reihen sie in einen Katalog anderer tapferer Frauen ein. Der Gegner des Selbstmords geht dagegen davon aus, daß es auch andere Möglichkeiten gibt, Rache für die Vergewaltigung zu nehmen. Daher kann er in dem Schritt zum Selbstmord von Anbeginn an keine überzeugende Möglichkeit sehen, sich die

Anerkennung anderer zu verschaffen. In seiner Argumentation spielen jedoch die Motive der Lucretia insofern eine zentrale Rolle, als daß er nach den möglichen versteckten Absichten der Lucretia fragt. Für den Gegner lauert gerade hinter dem Selbstmord die Angst vor dem schlechten Gewissen, und die Tat ist ein indirektes Schuldeingeständnis. Lucretia will offenbar nach außen eine Keuschheit behaupten, die sie gar nicht gewahrt hat. Dieses

dicendum, mortem aut omnino bonum esse aut certe malum non esse, et vitam non nisi salva honestate esse ducendam, et specialiter multas hoc fortes et nobiles feminas dedisse gloriae suae, ut iniuriam aut infamiam moriendo vitarent, et verendum non esse, ne tanti mulier animi temptata morte deliciat; adicienda etiam descriptio mortis ipsius, in qua vulnus non quasi feminea manu factum cruentumque telum populus ipse Romanus cum admiratione visurus sit.

63 Emporius, De deliberativa materia 574,7 – 15: at ex altera parte, etiam si intolerabilis illic iniuria sit, etiam si Lucretiae praeter ceteras non ferenda, posse tamen eam aliter vindicari; mortem vero, ultimum malum et natura a petitione humanae mentis alienum et ab ipsis quodammodo etiam diis inmortalibus adcelerari vetitum et certe hoc minus de femina quamvis fortissima exigendum, quo magis sexus iste remotus a ferro est, eo minus esse sumendam, praesertim cum verendum sit, ne coepto vulnere non perseveret, ne infirmiorem ad perniciem suam reddat animum bona conscientia, et facilius sit ut pertinacius in necessitate meriti inpudica moriatur.

Argument ist so brisant, daß Emporius auch den Befürworter des Selbstmords darauf eingehen läßt. Er muß klarstellen, daß Lucretia viel zu heldenmütig ist, als daß sie aus Eitelkeit mit dem Selbstmord kokettiert. Zwar wird hier nicht ausdrücklich unterstellt, daß Lucretia freiwillig mit Sextus Tarquinius geschlafen haben könnte und nachträglich das Geschehene umwerten will. Aber es muß zumindest die Möglichkeit ausgeschlossen werden, daß Lucretia das Geschehene nur zur gefallsüchtigen Selbstdarstellung nutzt.

Emporius geht von der Deutungsoffenheit des exemplum aus. Der Fall der Lucretia gilt als ein besonderes Ereignis, bei dem noch nicht ausgemacht ist, wie ihr Handeln bewertet werden soll. In Frage steht, wie Lucretia angemessen auf die Vergewaltigung durch Sextus Tarquinius reagieren kann. Als Kriterium dafür gelten Werte, an denen sie sich orientieren kann.

Emporius berücksichtigt von den drei Werten, die in diesem Fall diskutiert werden können, besonders den der pudicitia und den der gloria. Ziel ihres Handelns soll es sein, im Sinne der pudicitia als keusch zu gelten und durch die gloria die Anerkennung und Achtung der

Mitmenschen zu erwerben. Ob Lucretia den Wert der gloria für sich beanspruchen kann, ist direkt mit der Frage nach ihrer pudicitia verknüpft. Gilt sie als keusch, kann sie auch auf den Nachruhm bei ihren Mitmenschen rechnen. Durch welches Vorgehen lassen sich diese Werte erreichen? Der Vorschlag, der im Raum steht, ist der Selbstmord. Ist dieses Verhaltensmuster das richtige, um die Werte zu sichern? Je nachdem, für welche Position sich der Redner entscheidet, gilt der Selbstmord der Lucretia entweder als gelungener Versuch, diese Werte zu erreichen, oder aber er wird als Scheitern interpretiert.

Emporius führt mit den beiden alternativen Auslegungen des exemplum der Lucretia vor, wie die allgemeingültigen Werte mit den Normen und dem einzelnen Ereignis, durch die sie in konkreten Zusammenhängen umgesetzt werden können, verknüpft werden können. Das exemplum läßt verschiedene Möglichkeiten zu, diese Elemente zu verknüpfen. Außerdem sind unterschiedliche Schlußfolgerungen möglich, ob in dem konkreten Ereignis, vom dem das exemplum berichtet, tatsächlich auch die Werte umgesetzt werden, die damit verbunden werden können.

Der Befürworter sieht im Selbstmord das richtige Mittel, um die pudicitia zu erreichen.

Hierfür verweist er darauf, daß Lucretias Verhalten konform mit anderen Frauen früherer Zeiten geht, die ähnlich vorgegangen sind. Durch den Selbstmord zeigt Lucretia seiner Ansicht nach einen solch außergewöhnlichen Mut, wie er sonst nur Männern zugesprochen wird. Und daß sie in dieser Notsituation so über sich hinauswächst, belegt, wie ernst ihre Sorge um ihre pudicitia ist. Aus dem Bemühen um die pudicitia ergibt sich auch die gloria, die Lucretia im Urteil ihrer Mitbürger erreichen wird. Aufgrund der Entschiedenheit, mit der Lucretia den Freitod wählt, fallen auch alle Zweifel, daß sie sich nur aus Berechnung an den Vorgaben der Vergangenheit orientiert und mit Absicht auf die Bewunderung ihrer

Mitmenschen kalkuliert. Der Befürworter des Selbstmords betont, daß Lucretia mit bereits bekannten Normen konform geht. Er sieht in dem Selbstmord eine gewohnte Reaktionsform, aus der sich auch die gewohnte Bewertung ergibt. Demgegenüber spielt er die konkrete Situation der Lucretia herunter. Er muß sogar vermeiden, daß die Tatsache, daß Lucretia einer Norm folgt, Zweifel daran weckt, ob sie in ihrer individuellen Situation nur auf den

Widererkennungswert spekuliert und gar nicht wirklich im Sinne der Norm handelt.

Der Gegenredner interpretiert den Selbstmord als Weg, sich um pudicitia und gloria zu bringen. So verweist er erstens darauf, daß man den Tod unter allen Umständen vermeiden muß und man ihn sich auf keinen Fall selbst beibringen darf. Zweitens ist für ihn der Selbstmord nicht mit dem weiblichen Geschlecht vereinbar, das überhaupt keine Waffen tragen darf. Gegen die Normen, mit denen der Vorredner arbeitet, stellt er andere und

gewichtigere Normen für die pudicitia. Nachdem auf diese Weise Zweifel an der pudicitia geweckt sind, kann er auch dagegen argumentieren, daß Lucretia der Wert der gloria verliehen werden soll. Hierfür verweist der Gegenredner gerade auf die konkrete Situation, die sein Vorredner zugunsten der Normen zurückstellt. Welche Absichten verfolgt Lucretia mit ihrem Selbstmord, wenn sich dadurch die pudicitia doch gar nicht erweisen läßt? Der Redner legt nahe, daß sie sich dieses Verhaltensmusters nur bedient, um eine Keuschheit zu behaupten, die sie vielleicht gar nicht wirklich gezeigt hat. So könnte sie vielleicht in Wahrheit Sextus Tarquinius begehrt und bereitwillig einem gemeinsamen Liebesakt

zugestimmt haben. Dann erscheint ihr Streben nach gloria nur als vergebliches Bemühen, ein anderes Bild von sich zu geben und den gegenteiligen Eindruck zu erwecken.