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1 Einleitung

1.1 Relevanz des Themas

In keinem anderen Land wurden die PISA-Ergebnisse in der Öffentlichkeit so inten-siv diskutiert wie in Deutschland und in keinem anderen Land dürften Reformmaß-nahmen in dieser Gründlichkeit thematisiert worden sein (vgl. Krapp, 2003, S. 91).

Krapp äußert sich relativ klar über die Bedeutungszuschreibung rund um die „PISA-tauglichen Wettkampfdisziplinen“ (ebd.). Er folgert, dass die Beurteilung der Effek-tivität des Bildungssystems nicht ausschließlich auf Leistungsdaten beruhen darf, sondern auch Kriterien zu berücksichtigen hat,

die sich möglicherweise nur indirekt und auf längere Sicht in messbarer Leis-tung niederschlagen, aber gleichwohl für den längerfristigen Bildungserfolg der nachwachsenden Generation von ganz zentraler Bedeutung sind. Ich mei-ne damit Faktoren wie Lernfreude oder die Herausbildung eimei-ner intrinsischen bzw. auf Selbstbestimmung und Interesse beruhende Lernmotivation. Diese Zielkategorien sind sehr eng mit der Persönlichkeitsentwicklung der Schüle-rinnen und Schüler verbunden. Außerdem bilden sie eine wichtige Basis für die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen. (S. 92)1

Die Lern- und Leistungsmotivation im Kindes- und Jugendalter gilt somit als zentra-ler Bedingungsfaktor des Lernerfolgs sowohl in der Schule als auch in ihrer soziali-sierten bzw. habitualisoziali-sierten Weiterführung als berufliche Weiterbildungs- und Leis-tungsmotivation (für den Berufserfolg) im Erwachsenenalter. LeisLeis-tungsmotivation im Jugendalter und Weiterbildungs- und Leistungsmotivation im Erwachsenenalter, zugleich die Schlüsselvariablen in der vorliegenden Studie, sind bezüglich der Be-reitschaft zum lebenslangen Lernens von großer Relevanz.

Die Erkenntnisse aus der PISA2-Studie vermögen der Aufklärung des längerfristigen Bildungserfolgs bzw. des unter der längsschnittlichen Perspektive betrachteten le-benslangen Lernens leider nicht gerecht zu werden. Ihre Grenzen ergeben sich klar aus dem Querschnittcharakter. Im Jahr 2006 fand das DFG3-Schwerpunktprogramm Bildungsqualität von Schule (BiQua) seinen Abschluss (vgl. Prenzel, Merkens &

Noack, 1999). Die DFG-Entscheidung für das Schwerpunktprogramm BiQua erwies sich kurze Zeit nach TIMSS gemäß Prenzel und Allolio-Näcke (2006, S. 8) als vor-ausschauend. In diesem Zusammenhang wird auch auf den Bedarf an empirischer Forschung bezüglich Unterricht und Kontextfaktoren mit Längsschnittcharakter

1 Wörtlich übernommene Zitate von mehr als 40 Wörtern stehen eingerückt, aber ohne Anführungs- und Schlusszeichen; der Punkt wird jeweils vor der Klammer gesetzt. Die eckigen Klammern […] werden in Zitaten dann benutzt, wenn mindestens ein Satz übersprungen oder ein Wort hinzugefügt worden ist. Bei Auslassung von einzelnen Wörtern werden die Auslassungspunkte ohne eckige Klammern notiert.

2Program für International Student Assessment

3Deutsche Forschungsgemeinschaft

1 Einleitung 1.1 Relevanz des Themas

gewiesen (ebd.). Die vorliegende Studie mit ihrem sehr langen Längsschnittcharak-ter von 22 Jahren widmet sich genau diesem ForschungsinLängsschnittcharak-teresse. Sie ergründet Bestimmungs- und Kontextfaktoren der Förderung von Leistungsmotivation und de-ren Stabilität im Längsschnitt.

Nun, welche Bedeutung kommt der Lern- und Leistungsmotivation des Weiteren zu? Wenn die Einflussfaktoren des Kenntnis- und Fähigkeitsstandes unter der ent-wicklungspsychologischen Perspektive untersucht werden, scheint es nahe liegend, zwei Gruppen von Einflussfaktoren zu unterscheiden: Zum einen sind es die vor-handenen Kenntnisse, zum anderen ist es „die Anstrengungsbereitschaft bzw. die Dauer und Intensität der Lernbemühungen. Kurz: die Lernmotivation“ (Krapp, 2003, S. 92). Krapp bezeichnet darum die Motivation als zentralen Bedingungsfaktor des Lernerfolgs, weil der „Output jeder einzelnen Lern- und Entwicklungsepisode … ganz entscheidend von der jeweils wirksamen Lernmotivation“ abhängt (ebd.). Er bezeichnet sie des Weiteren „als unabdingbare ‚Schlüsselqualifikation’ in modernen Gesellschaften“ (a.a.O., S. 94). Seiner Auffassung nach sollte bei der Planung und Bewertung künftiger Reformbestrebungen stärker die Lernmotivation in die Überle-gungen einbezogen werden, und zwar nicht nur bezüglich individueller Leistungs-ziele, sondern insbesondere auch bezüglich allgemeiner Bestimmung und Neuorien-tierung schulischer Bildungsziele. „Denn Motivation ist nicht nur eine Bedingung für Lehren und Lernen, sondern auch das Ergebnis von Bildung und Erziehung“

(a.a.O., S. 93f). Diesem Credo pflichtet auch Wild (2002) bei, indem sie auf das schnelle Anwachsen und die ebenso rasch sinkende Halbwertszeit von Wissen hin-weist. Dabei sei es immer wichtiger, dass grundlegende kognitive Fertigkeiten ver-mittelt werden, damit sich Heranwachsende dieser und nachkommender Generatio-nen auch nach Abschluss ihrer Schulzeit autodidaktisch weiterbilden. Sie bezeichnet die grundsätzliche Lernbereitschaft darum als „Zielgröße pädagogischer Bemühun-gen“ (S. 272).

Der Stellenwert der näheren Ergründung der Leistungs- und Lernmotivation in der Jugendzeit und der Weiterbildungs- und Leistungsmotivation im Erwachsenenalter ist somit vorerst einmal untermauert. Im Prozess der Suche nach einem geeigneten theoretischen Modell auf meine Kernfrage „Welche Wirkungen haben soziale Kon-texte und Beziehungen auf die Leistungsmotivation kurz- und längerfristig?“ fiel die Wahl auf die Selbstbestimmungstheorie von Edward Deci und Richard Ryan (1985;

2000). Sie ist eine humanistische allgemeine Motivations- und Persönlichkeitstheo-rie4, welche sich nebst der Selbstbestimmung insbesondere auch damit beschäftigt, wie soziale Umgebungen gestaltet werden können, dass sie persönliches Wachstum,

4 Leistungsmotivation ist zudem ein Persönlichkeitsmerkmal im psychologischen Bereich (vgl. Kap. 5.2 unter Punkt C). Ganz allgemein könnte man fragen, woher denn die Unterschiede in den Persönlichkeits-merkmalen, mit denen wir unseren Alltag bewältigen, kommen. Oder konkreter noch: Welche objektiv be-obachtbaren Aspekte und welche subjektiv wahrnehmbaren psychologischen Komponenten rund um den Themenbereich Schule beeinflussen die leistungsbezogenen und motivationalen Persönlichkeitsmerkmale einer Person?

1 Einleitung 1.1 Relevanz des Themas

Leistung und Wohlbefinden fördern. Das Elternhaus ist in der Sozialisation von Leistungs- und Schulmotivation für die vorliegende Arbeit von zentraler Bedeutung.

Die Anwendung der „Expectancy-Value Theory of Achievement Motivation“ (vgl.

Wigfield & Eccles, 2000) würde hier Sinn machen. Doch aufgrund von dafür benö-tigten zentralen Items, die im vorliegenden Datensatz nicht vorhanden sind, wird vor allem auf die Selbstbestimmungstheorie abgestützt. Ergänzend sollen aber neurobio-logische Befunde die psychologisch-pädagogisch orientierten Ergebnisse absichern.

Motivationsrelevante Erkenntnisse haben vor allem unter der Perspektive des le-benslangen Lernens eine große Bedeutung, zumal von neuen Anforderungen an das Lernen von heute gesprochen werden kann. Wenn ich Studierende in meinem Ar-beitsalltag auf den Lehrerberuf5 vorbereite, dann ist es wichtig, dass die Sicht auf die zukünftige Bildungs- und Erziehungswirklichkeit stets mitbedacht wird. Dazu eignet sich die Titanic-Effekt-Metapher: Große und komplexe Institutionen, wie es die Schule ist, müssen mit dem Grundverständnis gesteuert werden, dass sich der einmal eingeleitete Richtungswechsel erst sehr viel später bemerkbar macht. Hektische und zu wenig vorausschauende Steuerungsprozesse können jäh zu einer „verfahrenen“

Situation führen. Dieser Weitblick ist aktiv anzustreben, weil insbesondere gesell-schaftliche Veränderungen in den letzten drei Jahrzehnten neue Anforderungen an das Lernen der Kinder und Jugendlichen stellen. Schon im Jahr 1995 formulierte die nordrhein-westfälische Bildungskommission sechs Zeitsignaturen6, die auch heute noch als wesentliche Herausforderungen an die Schule gelten (vgl. Bildungskom-mission NRW, 1995, S. 24f). Zwei sollen hier kurz umrissen werden. (a) Pluralisie-rung der Lebensformen und der sozialen Beziehungen: Aufgrund veränderter sozia-ler Lebenswelten, Pluralisierung von Lebensformen und sozialen Beziehungen erge-ben sich aus Sicht des Individuums mehr Wahlmöglichkeiten, jedoch steigen damit auch die Anforderungen und die Risiken. (b) Wandel der Werte: Durch die genann-ten Veränderungen haben traditionelle Wertesysteme an Gewicht eingebüsst. In ei-nem aufwändigen Dialog muss der Wertekonsens jeweils neu gefunden werden. Da-bei spielt die Schule eine zentrale Rolle.

Daraus wird ersichtlich, dass sich Risiken sowohl aus veränderten Beziehungsfor-men als auch aus veränderten Sozialisationskontexten ergeben. Beziehung, Soziali-sation und Motivation sind in der vorliegenden Studie Schlüsselbegriffe. Insofern dürfen die hier gefolgerten Erkenntnisse über die Leistungsmotivationsentwicklung insbesondere bezüglich der genannten Risiken auch aus jetziger Sicht als relevant

5 Im Folgenden werden für Lehrerinnen und Lehrer und für Schülerinnen und Schüler die funktionalbezo-genen Formen Lehrer bzw. Schüler gebraucht, weil der Ausdruck „Lehrer-Schüler-Beziehung“, der beson-ders viele Male verwendet wird, nur sehr umständlich mit beiden Geschlechtsformen beschrieben werden kann. Selbstverständlich sind immer beide Geschlechter gemeint.

6 1) Pluralisierung der Lebensformen und der sozialen Beziehungen; 2) Veränderung der Welt durch neue Technologien und Medien; 3) Ökologische Frage; 4) Bevölkerungsentwicklung und Migration; 5) Interna-tionalisierung der Lebensverhältnisse; 6) Wandel der Werte

1 Einleitung 1.1 Relevanz des Themas

bezeichnet werden. Mit einem treffenden Zitat von Bauer7 (2007), Psychiater und Neurobiologe, der den Zusammenhang zwischen Beziehung und Motivation unter Berücksichtigung der heutigen Schulrealität zusammenfasst, wird die Bedeutung von Beziehung und Motivation ebenfalls hervorgehoben:

Der Kern der Probleme, denen sich Lehrkräfte (in der Begegnung mit ihren Schülern) gegenübersehen, betrifft – auf Seiten der Schüler – Motivation und Destruktivität und – auf der eigenen Seite – die Fähigkeit eines wirksamen, die Beziehung zum Gegenüber gestaltenden Umgangs. Beide Phänomene hängen … eng zusammen. Und beide Phänomene (Motivation/Destruktivität und Bezie-hungsgestaltung) haben eine neurobiologische Grundlage – allerdings nicht in dem Sinne, dass unser Verhalten durch primär biologische Vorgänge determi-niert wäre, sondern im Sinne einer wechselseitigen Beeinflussung zwischen Er-lebnissphäre (Psyche) und ihrem biologischen Unterbau. (S. 1f)

Das Gehirn, so Bauer weiter, mache aus Psychologie sozusagen Biologie: „Alles, was wir erleben, nimmt daher immer auch Einfluss auf die Aktivität unserer Gene und damit auf unsere biologische Verfassung, aus der heraus wir dann wiederum psychisch agieren“ (S. 2).

Die Beziehung spielt auch in der Selbstbestimmungstheorie nach Deci und Ryan (1985; 2000) eine Schlüsselrolle. Sie entspricht nämlich einer von drei zentralen Kernbedingungen der Lern- und Leistungsmotivation, dem Konstrukt „soziale Ein-gebundenheit“. Dieser Begriff, englisch als „relatedness“ bezeichnet, weist auf Be-zogenheit und Beziehung zu wichtigen Personen wie Eltern, Lehrern, Peers usw.

hin. Das folgende Zitat nennt die grundlegenden Bedürfnisse (Basic Needs) eines jeden Menschen und hebt somit die zentrale Bedeutung der Bezugsperson hervor:

Umwelten, in denen wichtige Bezugspersonen Anteil nehmen, die Befriedigung psychologischer Bedürfnisse ermöglichen, Autonomiebestrebungen des Lerners unterstützen und die Erfahrung individueller Kompetenz ermöglichen, fördern die Entwicklung einer auf Selbstbestimmung beruhenden Motivation. (Deci &

Ryan, 1993, S. 235, Hervorhebung durch D.L.)

Die obigen Abschnitte weisen zusammenfassend auf die Relevanz der Motivation, insbesondere der Lern- und Leistungsmotivation, als Bedingung und als Ergebnis von Bildung und Erziehung in der Schule hin, betonen die Bedeutung des lebenslan-gen Lernens und von längerfristilebenslan-gen Bildungseffekten und weisen im Rahmen der Selbstbestimmungstheorie auf die in diesem Zusammenhang relevante Beziehungs-gestaltung zwischen Kindern/Jugendlichen und Bezugspersonen hin. Intention mei-ner Arbeit ist es, diesen Kernaspekt der „sozialen Eingebundenheit“ aus der

7 Bauer ist Projektleiter eines von der Bundesregierung geförderten Gesundheitspräventionsprojektes für Lehrer („Lange Lehren“).